VERTRAUEN STÄRKEN - VERANTWORTUNG TRAGEN - SOLIDARITÄT ERHALTEN

Statement zur Debatte um die Reform des Gesundheitswesens

Statement von Barbara Stamm im Rahmen des Pressegesprächs des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort.

Pressegespräch des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
mit
Barbara Stamm MdL,
Leiterin der Ad-hoc-Arbeitsgruppe Herausforderungen im Gesundheitswesen des ZdK
am Mittwoch, 9.Juli 2003, in den Räumen der Bundespressekonferenz in Berlin


Im November 2002 hat das ZdK unter Leitung von Frau Barbara Stamm MdL, Staatsministerin a.D., eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit den aktuellen und strukturellen Herausforderungen des Gesundheitswesens befasst. Die Arbeitsgruppe hat dem Hauptausschuss des ZdK am 27. Juni 2003 Zwischenergebnisse der Beratungen vorgelegt und trägt diese – beauftragt durch den Hauptausschuss – nun in die öffentliche Diskussion. Das ZdK konzentriert sich dabei auf drei Grundanliegen:

Verantwortung für mich und dich:
Das Gesundheitswesen braucht nicht nur „Eigenverantwortung“

Verantwortung für die Gesundheit und Verantwortung im Gesundheitswesen zu stärken - das ist eine zentrale Erwartung des ZdK an die aktuelle Gesundheitsreform. Dabei stellen wir klar: Verantwortung im Gesundheitswesen ist mehr als die heute so viel beschworene und häufig auf eine höhere Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten enggeführte „Eigenverantwortung“ der Patienten.

Das Gesundheitswesen braucht verantwortlich handelnde Ärzte und Pflegepersonen sowie informierte Bürger. Es braucht darüber hinaus Verbandsfunktionäre, Krankenkassen und Verwaltungsleute, die sich nicht verantwortungslos auf Kosten der Solidargemeinschaft Vorteile verschaffen. Außerdem bedarf es verantwortlich agierender Politiker, die so handeln, dass die Bürger begründet weiter auf das Funktionieren des Systems vertrauen können.

Traditionell übernehmen die Heilberufe in besonderer Weise stellvertretend Verantwortung für ihre Patienten. Je kranker und pflegebedürftiger der Mensch wird, desto eher tritt die Fähigkeit zu rationalen Entscheidungen in den Hintergrund und wird überlagert durch Unsi-cherheit, Ängste sowie den Wunsch und Bedarf nach Hilfe, Fürsorge und Betreuung. Der medizin-technische Fortschritt, gerade im Bereich der Diagnostik, die sich um ein vielfaches schneller als die entsprechenden therapeutischen Möglichkeiten entwickelt, stellt die Heilberufe vor neue Herausforderungen. Die Verantwortung der Ärzte, die Angemessenheit der Leistung zu beurteilen und zu vermitteln, muss durch qualifizierende Ausbildung, entsprechende Ausgestaltung der (haftungs-)rechtlichen Fragen und vernünftige ökonomische Anreizsysteme positiv unterstützt werden.

Wer stellvertretend Verantwortung für Patienten wahrnimmt, muss sich bewusst sein, dass dies eine „Notfall-Lösung“ ist. Möglichkeiten, die Entscheidungskompetenzen der Patienten zu erweitern, müssen aktiv gesucht und genutzt werden. Ihnen müssen dazu ausreichende Informationen, z.B. über Kosten sowie Vor- bzw. Nachteile und Alternativen von Behandlungen und Therapien, zur Verfügung stehen. Wer mit Kranken umgeht, geht leicht davon aus, dass Patienten nicht mündig sein möchten oder können. Es muss aber bei jedem Patienten neu die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Selbstverantwortung gestellt werden.

Das Verantwortungsbewusstsein der Bürger für ihre eigenen Gesundheitsbemühungen muss gestärkt werden. Dazu bedarf es einer besseren Ausrichtung des Gesundheitssystems im Be-reich der Prävention. Es ist niederschmetternd, wie stark weiterhin der soziale Status über den Erfolg präventiver Maßnahmen entscheidet; herkömmliche Präventionsangebote, wie Schulungen der Krankenkassen, erreichen benachteiligte Bevölkerungsschichten nicht. Medi-zinische Prävention (Impfungen, Früherkennung und medikamentöse Behandlung) dominiert im Vergleich zu sozialer Prävention.

Das deutsche Gesundheitssystem weist eine Desintegration stationärer und ambulanter Ver-sorgung auf: Die Reichweite des Handelns von Angehörigen der Gesundheitsberufe beschränkt sich auf die Teilsegmente, in denen sie tätig sind. Gleichzeitig unterminiert nicht selten ein Professionsseperatismus das Ineinandergreifen der Leistungen verschiedener Gesundheitsberufe. Gesamtverantwortung für das System wird zu wenig wahrgenommen, stattdessen werden Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten abgeschoben, bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber dem Agieren anderer Sektoren.

Längst hat der Kostendruck in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen dazu geführt, dass Rationalisierungsreserven im Personalbereich, insbesondere in der Pflege, ausgeschöpft sind – mit erheblichem Einfluss auf die Versorgung der Patienten. Die erhöhte Arbeitsbelastung und vermehrter Zeitdruck reduzieren die Qualität der Betreuung und erhöhen das Fehlerrisiko. Unter den gegebenen Finanzierungsvoraussetzungen wird es attraktiv, das Angebot auf den „profitträchtigen Patienten“ zuzuschneiden. Die Anbieter stehen in der Verantwortung, Strukturen zu entwickeln, die sowohl professionelles Arbeiten als auch eine patientengerech-te Versorgung aller ermöglichen. Dazu gehört eine stärkere Verzahnung zwischen ambulanter und stationärer Diagnostik und Therapie.

Die Krankenkassen als Kostenträger stehen schließlich nicht weniger als die Leistungserbringer in der Verantwortung darauf zu achten, dass die zur Verfügung stehenden Mittel wirt-schaftlich, kostengünstig und zielgenau eingesetzt werden. Die Versicherten haben einen Anspruch darauf, dass sie die ihnen anvertrauten Beiträge auch in ihrer Verwaltung sparsam verwenden.

Wir brauchen Reformen, die die Verantwortung aller in den Blick nehmen, Verantwortlichkeiten klären und Anreize so setzen, dass die Akteure im Gesundheitswesen ihrer Verantwortung tatsächlich gerecht werden.

Vertrauen zum Arzt und ins System:
Ein komplexes Gesundheitswesens ist auf begründetes Vertrauen angewiesen

Komplexe Systeme wie das deutsche Gesundheitswesen sind auf Vertrauen „als Reduktion von Komplexität“ entscheidend angewiesen, wie Niklas Luhmann es schon 1968 in den „soziologischen Gegenwartsfragen“ beschrieben hat. Gerade für die sozialen Sicherungssysteme wird Vertrauen zu einer Existenz-Frage, da die Bereitschaft jeder Generation, die notwendigen Beiträge zu erbringen, entscheidend von den Erwartungen über die Zukunftsfähigkeit des Systems abhängt. Eine verantwortliche Diskussion über Reformnotwendigkeit und Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens muss daher in der Zukunft liegende Risiken sachgerecht berücksichtigen: Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Beitragsbelastung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) etwa müssen sorgfältig abgeschätzt und erforscht werden, für zukünftige Herausforderungen müssen Weichenstellungen rechtzeitig vorgenommen werden.

Dabei liegt es in der Verantwortung aller Akteure, die Diskussion über die Entwicklungen der Zukunft so zu führen, dass das Vertrauen, auf das das System unabdingbar angewiesen ist, nicht zerstört wird. Leicht kann sich sonst eine Vorhersage über einen möglichen Kollaps der GKV als „self fulfilling prophecy“ erweisen. Neben dem Vertrauen zwischen Ärzten und Patienten ist das Vertrauen der Beitragszahler in die Zukunftsfähigkeit des solidarischen Versicherungssystems besonders wichtig für das Funktionieren dessen, was die unbestrittene Qualität unseres deutschen Gesundheitswesens ausmacht.

Von allen Seiten wird in jüngster Zeit beklagt, dass fortbestehende Fehlanreize und sich über Jahre in Reformdiskussionen verfestigende Interessengegensätze Vertrauen zerstört und Verantwortung ausgehöhlt haben. Alle Anstrengungen müssen daher darauf gerichtet werden, Fehlanreize und Missbrauch zu verhindern. Es wird ansonsten - wenn es immer wieder ein-zelnen gelingt, sich auf Kosten der Solidargemeinschaft Vorteile zu verschaffen - immer schwieriger werden, die Überlegenheit eines solidarischen Versicherungssystems zu vermitteln.

Zur Gestaltung der Krankenversorgung setzt der Staat in großem Umfang auf handlungsfähige verbandliche Akteure, die ihre Interessen miteinander aushandeln und unter staatlicher Auf-sicht gemeinwohlbezogene Aspekte berücksichtigen sollen. Fehlende Transparenz, mangelnde Einbeziehung von Patienteninteressen und zum Teil extrem langwierige Verhandlungen etwa der Bundesausschüsse Ärzte/Zahnärzte und Krankenkassen sowie des Bundesausschusses Krankenhäuser und der gemeinsame Koordinierungsausschuss bieten jedoch immer häufiger Anlass zur Kritik. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit die Selbstverwaltung den an sie delegierten Aufgaben oft nicht nachkam. Je schwieriger die Situation, umso lieber wurde die Entscheidung an die Politik (zurück)gegeben. Die Diskussionskultur ist geprägt von zuneh-mendem Misstrauen auf allen Seiten. Weder erhalten die Patienten Einblick in die komplexen Verfahren, noch werden die Ergebnisse bekannt gemacht. So macht sich unter den Versicherten eine zunehmende Verunsicherung breit macht, wie viel die GKV tatsächlich leistet bzw. welche Lücken bislang verschleiert werden. Die Festsetzung des Leistungskatalogs erscheint beliebig, das Vertrauen im Arzt-Patienten-Verhältnis wird durch den Eindruck der „Verhandelbarkeit“ belastet.

Es hat sich ein System entwickelt, das in schwer erträglichem Maße durch Misstrauen geprägt ist, das den Ruf nach Kontrolle auf allen Seiten immer lauter werden lässt und Chancen ver-spielt, durch einfache stimmige Anreizstrukturen das am eigenen Nutzen orientierte Handeln gemeinwohlgerecht zu organisieren. Falsch gesetzte Anreize führen zu einem Verantwor-tungsvakuum, zusätzliche – teure - Kontrollmechanismen setzen die Spirale der Ineffizienz und des Misstrauens fort. Die geplante Gesundheitsreform muss daher das - z.T. mutwillig zerstörte - Vertrauenskapital unbedingt und entschlossen wieder aufbauen.
Solidarbereitschaft heute und morgen:
Sozialpolitiker müssen die Pfadabhängigkeit der Reformen beachten
Die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken und zwischen Menschen mit prognostiziertem niedrigen und hohen Krankheitsrisiko sowie die Beteiligung aller im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit ist Kern unseres Gesundheitswesens mit seiner starken Stellung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ein auf dem Solidarprinzip gründendes Gesundheitswesen folgt der gleichen personalen Würde aller Menschen – unabhängig von Alter, Geschlecht, Reich-tum oder anderen Unterscheidungsmerkmalen soll jedem Kranken die gleiche medizinische Versorgung gewährt werden. In der GKV konkretisiert sich das Solidarprinzip vor allem darin, dass auf der Ausgabenseite die Leistungsgewährung, mit Ausnahme des Krankengeldes, unab-hängig von der Höhe der Beitragszahlung der Versicherten erfolgt. Dieses Solidarelement nimmt mit der Einengung des Leistungskataloges der GKV vom Prinzip her ab, denn Versi-cherte mit höherem Einkommen können ausgeschlossene Leistungen, auf die sie nicht verzichten möchten, leichter selbst erwerben.

Gleichzeitig gilt: Ohne adaptive Reformen, die an der Logik des Systems pfadgerecht anknüpfen, wird sich die Stabilität des Systems unter gewandelten Voraussetzungen nicht gewährleisten lassen. Aufgabe der Politik ist es, die Solidarbereitschaft unter den sich wandelnden(demographischen) Bedingungen und veränderten gesellschaftlichen Vorstellungen von „Selbstbestimmung“, Gemeinwohlverpflichtung und Solidarität, zu erhalten. Auch Reformen, die mit sachgerechten wohl abgewogenen Einschnitten verbunden sind, können insoweit dem Solidarprinzip durchaus verantwortlich verpflichtet sein.

Wohl verstandene Selbstverantwortung und Solidarbereitschaft müssen also gemeinsam gefördert werden. Wer den Eindruck gewinnt, heute für die heute Bedürftigen/Kranken zur Kasse gebeten zu werden, ohne sich darauf verlassen zu können, morgen im Fall eigener Bedürftigkeit aus dem System Leistungen im notwendigen Umfang erwarten zu dürfen, dessen Zahlungs- und Solidarbereitschaft wird rasch erschöpft sein. Rationierung, die als willkürlich erfahren wird und keine expliziten Kriterien vorweisen kann, vermag ebenso wie Intransparenz die Leistungsfähigkeit und den Sinn der Solidargemeinschaft mehr und mehr in Frage zu stellen.

Die Solidarbereitschaft der Menschen ist nicht unerschöpflich – eigene Leistung und eigener Anspruch müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Wir brauchen die Solidarität der Gesunden mit den Kranken, derer mit geringem Krankheitsrisiko mit den Menschen, die ein höheres Krankheitsrisiko haben – ohne Eingruppierung in „Schadensklassen“, bei denen etwa die Behinderten und chronisch Kranken bald ausgesteuert würden. Die Idee der Sozialversicherung besteht in der Balance von Versicherung (=Eigenvorsorge), sozialem Ausgleich und der Entscheidung, den eigenen Leistungsanspruch an die Leistungsfähigkeit der Nationalökonomie (=der aktiven Generation) zu koppeln. Für die Verteidigung dieser Idee wirbt das ZdK. Dabei sehen wir durchaus die Notwendigkeit, die begünstigende Beitragsgestaltung für Rentner Schritt für Schritt der Kostenentwicklung anzupassen, um eine steigende Belastung der aktiven Generation abzuwenden. Mit der über viele Jahre konstant hohen Ar-beitslosigkeit und dem Bedeutungsverlust des „Normalarbeitsverhältnisses“ stellen sich Fragen an die Plausibilität einer Solidargemeinschaft, die - wie die GKV -die Beitragserhebung eng an das Arbeitseinkommen koppelt. Um die Solidarbereitschaft unter gewandelten Um-ständen zu erhalten, müssen diese Fragen überzeugend beantwortet werden: Über eine Ausweitung des Versichertenkreises muss daher ebenso nachgedacht werden wie über die Ver-breiterung der Beitragsbemessungsgrundlage. Eine Ausweitung der Steuerfinanzierung von Versicherungsleistungen betrachten wir dagegen skeptisch. Das Ziel der Beitragsstabilisierung kann – gerade in der heutigen Haushaltslage – nicht mit dem Mittel der Steuerfinanzierung erkauft werden. Versicherungsleistungen, die unbestritten eine große Bedeutung für die präventive Sicherung der Gesundheit haben, wie die Freistellung von Erwerbsarbeit und die finanzielle Absicherung unmittelbar vor und nach der Geburt, sind nicht „versicherungsfremd“. Schwer verständlich wäre es – nicht zuletzt angesichts der demographischen Entwicklung - , wenn die Solidarität der Beitragszahler dort enden sollte, wo es um die Solidarität mit Frauen und Familien geht.

Das notwendige Umdenken im Gesundheitswesen, das neue Handlungs- und Kommunikationsweisen in der Gesundheitsversorgung aufzeigt, ist ein kontinuierlicher Prozess und kann nicht durch eine einzelne Maßnahme erreicht werden. Mit den anstehenden Reformen müs-sen jedoch erste Schritte in eine richtige Richtung gegangen werden.

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