Samstag, 10. Dezember 2022
Missbrauch: Rechte von Betroffenen bei Aufarbeitung stärken und Strafgesetzbuch erweitern
Beschluss der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken 09./10. Dezember 2022
Als Zentralkomitee der deutschen Katholiken sind wir überzeugt, dass die Anerkennung des geschehenen Unrechts als Unrecht für die Betroffenen entscheidend ist. Dazu bedarf es einer individuellen Aufarbeitung
der Missbrauchstaten, auf die jede*r Betroffene ein Recht hat. Sie muss von allen gesellschaftlichen und kirchlichen Akteur*innen gewollt und begleitet werden.
Neuere Untersuchungen – beispielsweise die „Untersuchung der Akten der Koordinationsstelle Fidei Donum“, vorgestellt im Juli 2022 – zu sexuellem Missbrauch im kirchlichen Kontext zeigen zudem, dass die Gruppe der Betroffenen gegenüber der „Gemeinsamen Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland“ (22. Juni 2020)“ umfassender zu bestimmen ist: Auch Erwachsene, die nicht schutz- und hilfebedürftig sind, werden im kirchlichen Kontext durch Missbrauch geschädigt. Hier handelt es sich zumeist um sexuellen Missbrauch in dienstlichen Abhängigkeitsverhältnissen oder in Seelsorgebeziehungen, in denen ein eindeutiges Machtgefälle besteht.
Das ZdK fordert daher, in der katholischen Kirche in Deutschland – also im Verantwortungsbereich der Deutschen Bischofskonferenz und der Bistümer, in Organisationen, Verbänden und Gemeinschaften –
- den Missbrauch bzw. die sexuelle/sexualisierte Gewalt an Erwachsenen
insgesamt – also nicht ausschließlich den Missbrauch
an schutz- und hilfebedürftigen Erwachsenen – konsequent
in den Auftrag der Aufarbeitungskommissionen aufzunehmen.
- den Handlungstext des Forums III (Synodaler Weg) „Maßnahmen
gegen Missbrauch an Frauen in der Kirche“, der auf der
Vierten Synodalversammlung im September 2022 aus Zeitgründen
nicht in einer ersten Lesung behandelt werden konnte, aufzugreifen
und die darin enthaltenen Handlungsempfehlungen
umzusetzen.
Das ZdK fordert von der Bundesregierung,
- das Recht von Betroffenen auf individuelle Aufarbeitung gesetzlich
zu verankern und ihre Interessen zu stärken.
- verbindliche Kriterien und Standards für die Aufarbeitung in Institutionen
festzulegen.
- die Aufarbeitung in Institutionen intensiver als bislang zu begleiten
und Defizite in der Aufarbeitung zu benennen. In religiösen
und weltanschaulichen Kontexten kann dies eine Aufgabe der
Arbeitsstelle „Aufarbeitung Kirchen“ sein, die personell entsprechend
ausgestattet sein muss.
- eine unabhängige Aufarbeitungskommission zu schaffen, die
Erwachsene als Betroffene einbezieht.
- eine Ombudsstelle für Fälle zu schaffen, in denen Aufarbeitung
in Institutionen nicht zufriedenstellend gelingt.
- die Aufbewahrungsfristen für relevante Akten (z.B. Personalakten;
Schüler:innenakte) zu verlängern.
- das Recht auf Akteneinsicht durch Betroffene gesetzlich zu verankern.
Als ZdK wissen wir um die Bedeutung von Aufarbeitung, damit systemische Ursachen des Missbrauchs identifiziert werden können. Dabei nehmen wir als Laiengremium insbesondere die Rolle der „bystander“ in den Blick, die durch Wegsehen und Vertuschen tatermöglichend wirken
(vgl. Studie zu Macht und Missbrauch im Bistum Münster). Das Verbrechen des Missbrauchs hat immer einen Kontext. Als Mitglieder des ZdK engagieren wir uns, tatermöglichende Strukturen und Kontexte in unserem eigenen Einflussbereich zu erkennen, aufzudecken und aufzuarbeiten.
Sexuellen Missbrauch in Seelsorgebeziehungen ins Strafgesetzbuch (StGB) aufnehmen
Der § 174c StGB enthält Regelungen zum sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses. Im 2. Absatz werden sexuelle Handlungen im Kontext einer psychotherapeutischen Behandlung unter Strafe gestellt:
„Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm zur psychotherapeutischen Behandlung anvertraut ist, unter Missbrauch des Behandlungsverhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einer dritten Person bestimmt.“
Nicht aufgeführt ist in diesem Absatz der sexuelle Missbrauch innerhalb von Seelsorgeverhältnissen, dem bei jugendlichen und erwachsenen Betroffenen häufig spiritueller Missbrauch vorausgeht.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken fordert daher, analog zu den bisherigen Bestimmungen in § 174c StGB eine Erweiterung aufzunehmen, bei der sexuelle Handlungen in seelsorglichen Verhältnissen berücksichtigt werden. Sexuelle Handlungen, die unter Missbrauch des seelsorglichen Begleitungsverhältnisses geschehen, müssen unter Strafe gestellt werden.
Begründung
Immer wieder erweisen sich Seelsorgebeziehungen als Anbahnungskontext und Tat-ort sexuellen Missbrauchs. Sexuelle Handlungen in Seelsorgekontexten sollten allerdings per se ausgeschlossen sein. Dies hat zuletzt die Deutsche Bischofskonferenz in Erinnerung gerufen: „Es ist hier daran zu erinnern, dass in einer beruflich bzw. mit bischöflicher Sendung ausgeübten Seelsorgebeziehung sexuelle Kontakte niemals als einvernehmlich bezeichnet und niemals toleriert werden können. Denn zur Seelsorgebeziehung gehört analog zu anderen professionellen pädagogischen, medizinischen oder therapeutischen Verhältnissen ein Machtgefälle und damit eine Abhängigkeit, in der den Seelsorgern und Seelsorgerinnen Autorität, Fähigkeiten und Kompetenzen zugesprochen werden, die dem Seelsorge Suchenden helfen sollen.“ (Die deutschen Bischöfe, In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche, Bonn 2022, Seite 47).
Am 28. April 2020 veröffentlichten die Deutsche Bischofskonferenz und der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, die „Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland“ („Gemeinsame Erklärung“). Aufarbeitung auf Ebene der Diözesen umfasst nach dieser Erklärung „die Erfassung von Tatsachen, Ursachen und Folgen von sexuellem Missbrauch …, die Identifikation von Strukturen, die sexuellen Missbrauch ermöglicht oder erleichtert oder dessen Aufdeckung erschwert haben, sowie den administrativen Umgang mit Täter*innen und Betroffenen.“ (Gemeinsame Erklärung,
Nr. 1). Betroffene sind nach der „Gemeinsamen Erklärung“ Personen, die zum Tatzeitpunkt minderjährig waren, bzw. schutz- und hilfebedürftige Erwachsene. Sowohl die „Gemeinsame Erklärung“ als auch die
bislang veröffentlichten Ordnungen der einzelnen Unabhängigen Kommissionen nennen zwar Aufgaben und Standards für die Aufarbeitung auf Ebene der (Erz-)Diözesen (Gemeinsame Erklärung, Nr. 3), doch für die individuelle Aufarbeitung fehlen eine Definition der Aufgaben der Kommissionen, verbindliche Standards und eine Festschreibung der Rechte der Betroffenen. Die entsprechende Formulierung zur individuellen Aufarbeitung ist auffallend unspezifisch: „Die (Erz-)Diözesen respektieren die individuelle Aufarbeitung der Betroffenen als Prozess, der sich grundsätzlich an den Interessen, Verarbeitungsphasen und -bedürfnissen der Betroffenen orientieren soll.“ (Gemeinsame Erklärung, Nr. 6).