Salzkörner
Montag, 8. März 2021
„Cure and Care“
Zur Reform der Pflegefinanzierung in Zeiten der Pandemie
In Vorbereitung auf den 25. Geburtstag der Pflegeversicherung waren sich 2020 die meisten Akteur_innen einig: Die Entscheidung Norbert Blüms, das Pflegerisiko in der gesetzlichen Sozialversicherung eigenständig abzusichern, hat sich als richtig erwiesen. Ein gründlicher Relaunch allerdings ist notwendig. Nur mit einer solidarischen und soliden Finanzierungsbasis ist „gute Pflege für alle“ so zu gestalten, wie es unserer Vorstellung von einer sorgenden Gemeinschaft entspricht.
Das ZdK hat mit seiner Erklärung zur „Gerechten Pflege“ im November 2018 zentrale Herausforderungen bereits beschrieben: Es geht um die Überforderung vieler Angehöriger, die pflegebedürftige Familienmitglieder auch dann zuhause noch umsorgen, wenn es objektiv für alle Beteiligten längst zu viel ist. Und es geht um belastende Arbeitsverhältnisse in der professionellen Pflege, die durch zu geringe Personalausstattung und unattraktive Arbeitszeiten ebenso geprägt sind wie durch unzureichende Tarifbedingungen. All dies, das Fehlen von Kurzzeitpflegeangeboten, die prekäre Situation von Live-in-Pflegekräften und die unausgeschöpften Möglichkeiten technischer Assistenz lassen sich ohne finanzielle Ressourcen nicht verändern.
Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht bei der Pflegefinanzierungsreform die Höhe des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils (EEE), den Bewohner_innen von Altenhilfeeinrichtungen – neben Unterkunft und Verpflegung – zu leisten haben. Da diese Summe durch Leistungsverbesserungen in der Altenhilfe und höhere tarifliche Vergütung steigt, wird gefordert, dass die Sozialversicherung das Pflegebedürftigkeits-Risiko umfassender absichert als bisher. Deutscher Caritasverband (DCV) und Verband katholischer Altenhilfe (VKAD) haben zur Konkretisierung dieses Anliegens Vorschläge vorgelegt, die von einer zeitlichen Staffelung der Eigenanteile ausgehen. Nach einer Karenzzeit von sechs Monaten sollen Bewohner_innen von Pflegeeinrichtungen verlässlich nur noch einen gedeckelten Anteil des EEE tragen müssen. Dieser Anteil mindert sich stufenweise nach Dauer des Aufenthalts in der Einrichtung. Das Konzept trägt der bipolaren Situation in der stationären Altenhilfe Rechnung: Auf der einen Seite kommt ein immer größer werdender Teil pflegebedürftiger Menschen hochaltrig erst dann in die Einrichtung, wenn das Leben zuhause trotz aller Unterstützung gar nicht mehr funktioniert. Sie sterben dort bereits nach wenigen Wochen. Ihnen gegenüber steht eine andere Gruppe – oft dementiell erkrankter – älterer Menschen, die viele Jahre lang in der stationären Altenhilfe betreut werden: Vierzig Prozent der Bewohner_innen sind länger als sechs Monate im Pflegeheim. Für diese zweite Gruppe muss die Pflegereform eine spürbare Entlastung gestalten. Der Eigenanteil muss für sie verlässlich begrenzt werden. Um gleichzeitig die Pflegeversicherung nicht zu überfordern, ist es vertretbar, für die ersten Monate die finanzielle Verantwortung stärker beim Pflegebedürftigen als bei der Pflegeversicherung zu belassen. Die mit einer solchen Begrenzung im Vergleich zu weitergehenden Vorschlägen „eingesparten“ Beträge sind dringend erforderlich, um andere Aufgaben zu schultern, die ebenfalls auf die Sozialversicherung zukommen.
Live-in-Care
Der DCV engagiert sich seit Jahren für legale und sichere Beschäftigungsmöglichkeiten von Live-in-Care-Kräften (aus Osteuropa) und arbeitet europaweit für gerechte Standards, die faire und sichere Arrangements für sie gewährleisten. Der Vorschlag des Bundesgesundheitsministers, künftig 40 Prozent des Pflegesachleistungsbudgets im Wege der Umwandlung des Sachleistungsbetrags zur Finanzierung einer Betreuungsperson im eigenen Haushalt heranziehen zu können, ist als Schritt in die richtige Richtung anzusehen. Zusätzlich sollte es möglich sein, den Entlastungsbetrag (mindestens in seiner jetzigen Höhe von 125 Euro) zur Finanzierung der Live-in-Betreuung einzusetzen. Die Caritas begrüßt es, wenn sich mithilfe von Finanzierungen aus der Pflegeversicherung die Chance ergibt, die in der Praxis weit verbreiteten Live-in-Arrangements mit Standards zu unterlegen. Sozialversicherungspflicht und Einhaltung von Arbeitsschutzvorgaben (u. a. zur Arbeitszeit) müssen bei der Gestaltung von Live-in-Care regelhaft durchgesetzt werden.
Eine Pflege(versicherungs)reform, die Pflegebedürftigkeit überzeugend absichert, muss auch Antworten auf die Frage geben, welche Angebote Menschen zur Verfügung stehen, die kurzzeitig zuhause nicht zurechtkommen, weil pflegende Angehörige in Urlaub fahren oder weil nach einer Operation die Selbstständigkeit noch nicht ausreichend zurückgewonnen ist. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege setzen sich seit langem für einen Ausbau und die dafür notwendige verbesserte Finanzierung der Kurzzeitpflege ein. Gleichzeitig haben die Mitglieder des Katholischen Krankenhausverbandes eine Problemanzeige bei der „Übergangspflege“ angemeldet: Nach den geltenden Grundsätzen der Krankenhausfinanzierung müssen Krankenhäuser Patient_innen entlassen, sobald die „besonderen Mittel des Krankenhauses“ nicht mehr notwendig sind. Wenn aber eine Anschlussversorgung – etwa wegen fehlender Kurzzeitpflegeplätze – nicht gesichert ist, entsteht eine Versorgungslücke. Entscheiden sich Krankenhäuser in dieser Situation, die Patient_innen über die medizinischen Cure-Erfordernisse hinaus weiter zu behandeln, um ihnen die Sorge nicht vorzuenthalten, derer sie bedürfen, riskieren sie, ihre Leistung nicht vergütet zu erhalten. Im Zuge von Fehlbelegungsprüfungen sind Zahlungen in solchen Fällen wiederholt zurückgefordert worden. Dringend erforderlich ist es, das Krankenhaus als Knotenpunkt im Netz der Daseinssorge zu stärken und die im Krankenhaus erbrachten Leistungen der (Übergangs-)Pflege verlässlich zu honorieren. Dabei sollten die Refinanzierungskonzepte für die Kurzzeitpflege aus der Pflegeversicherung und die der Übergangspflege aus der Krankenversicherung so aufeinander abgestimmt sein, dass keine Fehlanreize und zusätzlichen Kontrollerfordernisse entstehen. Unterkunft und Verpflegung sind weder im einen noch im anderen Fall aus der Sozialversicherung zu zahlen; die ärztliche Basisversorgung könnte in beiden Fällen als Vergütungszuschlag ausgestaltet werden.
Eine Finanzierungsreform wird den digitalen Investitionsbedarf in der stationären und ambulanten Altenpflege, im häuslichen Umfeld der Pflegebedürftigen und in der Pflege im Krankenhaus berücksichtigen müssen. Das von der Universität Osnabrück zusammen mit dem DCV und anderen durchgeführte Projekt BeBeRobot beleuchtet Grundanforderungen an den erfolgreichen Einsatz von Robotik in der Pflege. Eine an den Bedürfnissen der zu Pflegenden und der Pflegenden ausgerichtete Nutzung von Robotik kann niemals als Einsparvorhaben gelingen. Robotik kann nur dann entlasten, wenn sie hochwertig, verlässlich und auf die Prozessanforderungen hin designed ist. Eine Fokussierung der Ressourcen auf Digitalisierung in der Medizin liefe Gefahr, die dringend zu überwindende Hierarchisierung zwischen Medizin und Pflege im Gesamtzusammenhang von Sorge-Leistungen zu zementieren.
Für eine Kultur der Sorge (1)
Debatten um die Reform der Pflege(finanzierung) finden nicht im luftleeren Raum statt. Im Gegenteil. Die Erfahrungen der Corona-Krise haben die Leistungen der Pflegekräfte in der Altenhilfe und in Krankenhäusern auch denen vor Augen geführt, die allzu lange Tarifsteigerungen für soziale Berufe nur als Kostentreiber für öffentliche und private Portemonnaies gesehen haben. Gute Rahmenbedingungen für sorgende Pflege bis zum Lebensende zu schaffen ist vordringliche Verpflichtung einer menschenwürdigen Gesellschaft. Die Erarbeitung eines übergreifenden legislativen Schutzkonzepts in Folge des Verfassungsgerichtsurteils zur Nichtigkeit des Paragraphen 217 StGB wird ohne die Bereitstellung von Ressourcen für Beziehungszeit in der Pflege nicht gelingen. Für eine Kultur des Sorgens und Abschiednehmens ist beziehungsreich begleitende Pflege unverzichtbar.
(1) Paul Kirchhof spricht demgegenüber von einer „Kultur des Heilens und … Verabschiedens“. Das Recht auf Sterbehilfe muss neu überdacht werden, FAZ vom 13.1.2021, www.faz.net/-gq7-a7gx2. Zur Spannung zwischen Sorgen und Heilen verwies Johannes Paul II. (2004) auf die Pflicht „to cure if possible, always to care“.