Salzkörner

Mittwoch, 4. November 2020

„Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“

Die Enzyklika Fratelli tutti (3. Oktober 2020) von Papst Franziskus

Mitten während der weltweiten Pandemie-Krise hat Papst Franziskus seine zweite Sozial-Enzyklika Fratelli tutti vorgelegt. Wie in Laudato si‘ (2015) ist nicht nur der Titel, sondern der Text als ganzer durch Franz von Assisi inspiriert; Zeitpunkt und Ort der Unterzeichnung am Vortag des Heiligenfestes in Assisi unterstreichen dies. Mit der Anrede Fratelli tutti lädt Papst Franziskus wie sein Vorbild alle „Brüder und Schwestern“, d. h. alle Menschen, ein, sich als Geschwister zu begreifen und dementsprechend zu leben (vgl. FT 1f.). Für ein nicht nur individuelles, sondern ausdrücklich auch politisches Ethos des geschwisterlichen Zusammenlebens zu werben, ist das Kernanliegen des Textes, der sich über weite Strecken wie eine „Summe“ des bisherigen Pontifikates liest.

Der Papst bezieht den Anspruch der Geschwisterlichkeit nicht nur auf die Christ*innen: Er greift in der Einleitung – unter der bezeichnenden Überschrift „ohne Grenzen“ (FT 5) – seine gemeinsam mit dem Groß-Imam Ahmad Al-Tayyeb veröffentlichte Botschaft (2019) auf. Im Schlusskapitel zitiert er daraus den Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit samt der Selbstverpflichtung auf eine „Kultur des Dialogs als Weg, die allgemeine Zusammenarbeit als Verhaltensregel und das gegenseitige Vertrauen als Methode und Maßstab“ (FT 285). Diese interreligiöse Weitung ist in der päpstlichen Sozialverkündigung ohne Vorbild. Franziskus parallelisiert sie mit dem Bezug auf die Schöpfungstheologie des Patriarchen Bartholomaios in Laudato si‘: Hatte er damit dem orthodoxen Christentum besondere Achtung gezollt, so setzt er mit der ausdrücklichen Anerkennung eines islamischen Religionsführers als Inspirator und Dialogpartner ein Zeichen dafür, die Religionen als eine Quelle für „Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“ zu würdigen und in die Pflicht zu nehmen. Bei aller Hochschätzung der Vernunft, die die Würdegleichheit aller Menschen erkennen und anerkennen kann, sei es der Mehrwert religiösen Glaubens, einen nicht durch wissenschaftliche Rationalität ersetzbaren Zugang zur Dignität des*der Anderen in der gemeinsamen Bezogenheit auf Gott zu erschließen (vgl. das Schlusskapitel der Enzyklika).

Mit der interreligiösen Perspektive bietet Franziskus eine erste Leitlinie für die Lektüre an; eine zweite bildet die Parabel vom barmherzigen Samariter (Lk 10, 11 - 22; vgl. FT 62 - 86 u. ö.). Sie hält als biblischer roter Faden das Thema Geschwisterlichkeit über Grenzen hinweg präsent: Wie macht mich mein Handeln zum*zur Nächsten eines*einer Anderen – und zu wessen Nächsten lasse ich mich machen? An dieser Frage entscheidet sich, wen ich als eine*n wahrnehme, der*die meinen Dienst der Nächstenliebe benötigt. Nach der biblischen Erzählung ist irrelevant, ob die hilfebedürftige Person zur gleichen (Volks-)Gruppe gehört, den gleichen Glauben hat; Bedeutung hat allein, ob ich mir das Leid des Anderen zu eigen mache (vgl. FT 62; 79). Der Clou der Erzählung liegt darin, dass der Hilfsbereite ein Mensch ist, der nicht im vollen Sinne als religiös zugehörig betrachtet wird (vgl. FT 80 - 83). Während die religiösen Experten vorbeigehen, bleibt der Samariter stehen, versorgt den Verletzten und sorgt für weitere Hilfe durch Dritte.

Konkreter Universalismus

Der interreligiöse und der biblische Bezugsrahmen schärfen den Blick für das Anliegen des Papstes, Überlegungen zu der „universalen Dimension“ der „geschwisterlichen Liebe“ als „demütigen Beitrag zum Nachdenken“ so darzubieten, dass sie „für den Dialog mit allen Menschen guten Willens offen sind“ (alle Zitate: FT 6). Dem*der Anderen auf Augenhöhe begegnen, Zuhören, Konflikte durch Dialog lösen, Trennendes überwinden (FT 190; 198 u. ö.) – solche Handlungsweisen entsprechen der Geschwisterlichkeit und sind Ausdruck der „sozialen Freundschaft“. Den Vorwurf, ein solches Programm sei utopisch, ahnt Papst Franziskus (vgl. FT 30; 190); damit wird aber verfehlt, was die Enzyklika tatsächlich leistet: Sie bietet eine realistische Wahrnehmung der politischen und ethischen Probleme der Gegenwart, erhebt sehr zeitgerecht prophetisch Einspruch gegen einen in vielen Ländern der Welt zu beobachtenden Politikstil, der nur mehr partikularen (Macht-)Interessen dient und sich den Anforderungen des (globalen) Gemeinwohls verschließt, und sie prangert erneut energisch die Dysfunktionalitäten einer Wirtschaft an, die – im Gegensatz zu der Grundlogik einer ökosozialen Marktwirtschaft – die Sozialpflichtigkeit allen Eigentums auf Kosten der Armen und der ökologischen Lebensgrundlagen missachtet bzw. unterläuft.

Kritisiert werden u. a. Populismus, Rassismus, die in den sozialen Medien verbreitete Hassrede, Strategien der politischen und ökonomischen Ausgrenzung, die u. a. Menschen in der Migration hart treffen, Formen moderner Sklaverei sowie eine Situation der weltweiten Verschärfung von Konflikten, die der Papst erneut als eine Art schleichend voranschreitenden „dritten Weltkrieg“ („Weltkrieg in Stücken“, FT 25; 259) charakterisiert. Angesichts der „Schatten einer abgeschotteten Welt“ (Kapitel 1) dringt er auf ethische Neuorientierung. Franziskus redet nicht einem abstrakten und idealistischen Universalismus das Wort, der sich die realen Anderen vom Leib hält (vgl. FT 99f - 100; 142). Er plädiert für den konkreten Universalismus der Nächstenliebe als Baustoff einer „offenen Welt“ (Kapitel 3): Grundlegend sind Aufmerksamkeit für die „Peripherien in unserer Nähe“ (FT 97), Anerkennung der Würde jedes Einzelnen (vgl. FT 106 u. ö.) in der Diversität der (potentiellen) Nächsten. Franziskus verweist auf die biblische Turmbauerzählung, die die Einheits-Ideologie eines abstrakten Universalismus zurückweist (Gen 11; FT 144). Ehrliche Anerkennung stellt sich dem Konfliktpotential, das in der Begegnung mit den Fremden und ihrer Fremdheit liegt, sucht den Konflikt aber durch Dialog zu bearbeiten und zu entschärfen. Der geschwisterliche Mensch erkennt sich selbst in der konkreten Verletzlichkeit des*der Anderen und erfährt sich im eigenen Kontext zum Handeln herausgefordert, ohne die globale Dimension der Verantwortung aus dem Blick zu verlieren. Diese Spannung zwischen „universaler Liebe“ und „sozialer Freundschaft“ ist, so Franziskus, grundlegend für eine humane Existenz in der global interdependenten Welt (vgl. FT 146 - 150).

Politik der Anerkennung

Vor diesem Hintergrund entwickelt die Enzyklika ethische Perspektiven für eine Politik der Anerkennung. Sie ist gekennzeichnet durch ein nicht individualistisch enggeführtes Verständnis von Menschenrechten (FT 111). Das genuine Recht jedes Menschen auf Anerkennung muss sich in der Berücksichtigung der grundlegenden „Gemeinwidmung der Güter“ und des globalen Gemeinwohls materialisieren – ein Rückverweis auf den Ansatz der ganzheitlichen Ökologie in Laudato si‘. Menschenrechte und die Gemeinwidmung der Güter werden u. a. in der Argumentation zugunsten eines ursprünglichen Rechts von Migrant*innen zusammengeführt, an einem Ort Aufnahme zu finden, an dem sie ihren Lebensunterhalt sichern können (FT 129). Franziskus lenkt erneut die Aufmerksamkeit auf die Peripherien und die von Ausschließung Bedrohten, die Armen, Versklavten, Opfer von Menschenhandel, und wirbt eindringlich für ein gemeinschaftliches und politisches Ethos der Anerkennung und Inklusion. Das Prinzip Dialog bildet einen politischen Ausdruck der „universalen Liebe“, die mit Differenzen und Konflikten umzugehen vermag, ohne die eigene Identität preiszugeben, aber auch ohne Machtasymmetrien auszuspielen und dem Anderen / Fremden mit Gewalt zu begegnen, um das Eigene zu schützen. Die Enzyklika untermauert menschenrechtlich bedeutsame Positionen der neueren katholischen Sozialverkündigung – etwa die klare Verurteilung der Todesstrafe (diese Position wurde erst im Jahr 2018 eindeutig im Katechismus der Katholischen Kirche festgeschrieben) und der lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl. FT 263 - 269).

Fratelli tutti ist ein kluges zeitkritisches Plädoyer für das dringend überfällige Umdenken und Umsteuern auf ein solidarisches Zusammenleben. Der Papst ermutigt dazu, die religiösen und säkularen Ressourcen für eine Umkehr zu mobilisieren, ohne die weder die langfristigen Folgen der Corona-Pandemie noch die sich zuspitzende Klimakrise auf humane Weise zu bewältigen sein werden.

Das heißt, grundsätzlich ist Wandel möglich. Aber es wäre falsch, alle Hoffnungen allein an eine Wahl im November zu knüpfen.

 

 

 

Autor: Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins | Direktorin des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster, Mitglied des ZdK

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