Salzkörner

Montag, 20. Dezember 2010

"Hier ist Hilfe zur Selbsthilfe nicht nur ein Schlagwort"

Aidshilfe in Südafrika
Unter der Überschrift "HIV/AIDS – Gesellschaftspolitische Herausforderung und christliche Verantwortung" haben 21 Frauen und Männer aus dem ZdK, aus der Politik, aus pharmazeutischen Unternehmen, katholischen Hilfswerken und staatlicher Entwicklungszusammenarbeit an einem Exposure- und Dialogprogramm in Südafrika teilgenommen.

Am Flughafen von Johannesburg scheint die Zeit um ein halbes Jahr zurückgedreht: "Welcome to South Africa – Enjoy Fifa World Cup 2010". Große Plakate heißen die Gäste der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 willkommen. Doch Monate nach dem letzten Abpfiff im Juli ist die Euphorie längst verflogen, das Land unter Staatspräsident Jacob Zuma von der harten Realität und ihren Problemen eingeholt – egal, wie strahlend das Staatsoberhaupt von den Werbebannern im Flughafen lächelt. Südafrika verbinden viele trotz erfolgreich ausgerichteter WM immer noch mit Kriminalität, Gewalt, Armut und einer Krankheit: Aids.

Wie drängend diese Herausforderungen weiter sind, wird jedem sichtbar, der die westlich geprägten Flughäfen und Hotels des Landes hinter sich lässt, in die (Vor)Städte, Townships und Armenviertel geht. "Jeder zweite hier ist infiziert", sagt etwa Zandile Mkhize. Die 30-jährige Sozialarbeiterin erlebt das Elend und die Not der Menschen jeden Tag. "Hier", das ist der Distrikt Siyanda in Kwa Mashu. Das Township im Nordosten Durbans ist eines der größten in Südafrika – und ein berüchtigtes. Wer im Internet Informationen über das Gebiet einholt, wird schon mal nervös beim Gedanken an einen Besuch. Von Morden, hoher Gewaltbereitschaft, Kriminalität und extremer Armut ist die Rede. Trotzdem oder gerade deshalb ist Kwa Mashu Ziel eines ganz speziellen "Reiseanbieters".

Sich der Armut aussetzen

Seit 25 Jahren schickt der von der Deutschen Kommission Justitia et Pax und Werken der katholischen Kirche getragene Verein Exposure- und Dialogprogramme (EDP) Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Gesellschaft in aller Herren Länder, damit sie sich der Realität der Armut aussetzen. Sie leben – vor einer gemeinsamen Auswertung der Erfahrungen – einige Tage mit den Armen und Marginalisierten zusammen, erleben ihren Alltag und ihre Sorgen mit. Es geht darum, mitzumachen und zu lernen, das Selbsthilfepotential der Menschen besser kennenzulernen.

Bei Zandile Mkhize fällt das leicht. Sie ist eine zupackende Frau, die jeden schnell in die anfallenden Arbeiten im Sozialzentrum Siqalakabusha einbindet: Lebensmittelpakete für besonders arme Familien zusammenstellen, Reis und Bohnen für die Kinder kochen, die nach der Schule zum Essen kommen, spülen, putzen, aufräumen. Über ihren Schreibtisch geht eigentlich alles: die monatlichen Statistiken für die lokalen Behörden, die Akten von zu Hause gepflegten Patienten, die Listen der mit Lebensmittelhilfen versorgten Familien. Die Spanne der Aufgaben ist breit: Heimpflege von Patienten mit HIV/Aids, Beratungsgespräche, Spieltherapie für traumatisierte Kinder.

Kein leichter Job, doch Zandile Mkhize erledigt ihn aus Überzeugung. Sie lebt selbst in einem der kleinen Matchbox-Häuschen in Siyanda, die im Zuge eines Siedlungsprogramms entstanden: kleine Hütten mit Steinwänden und Wellblechdach, fließendem kalten Wasser, Abwasser und Strom. Alles andere als Luxus, aber doch ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu den vorherigen informellen Verschlägen aus Blech, Holz oder Stein. Und: Zandile Mkhize ist auch ein "Opfer von HIV und Aids", wie sie selbst sagt. "Meine Eltern und einige Geschwister sind an der Krankheit gestorben."

Information verbessern, Frauenrechte stärken

Südafrika hat weltweit die höchste Zahl an HIV-Infizierten: Mehr als 5,5 der knapp 50 Millionen Südafrikaner sind direkt betroffen. Die Infektionsrate unter Erwachsenen liegt bei etwa 18 Prozent. Und wirkliche Fortschritte sind in den vergangenen Jahren kaum zu erkennen, zumindest nicht flächendeckend. "In meiner Region ist das Problem schlimmer geworden", sagt etwa Bischof Kevin Dowling von Rustenburg und verweist auf ein Wachstum der Infektionsrate um fünf Prozent seit 2002. Auch in anderen Regionen wie Kwa Zulu Natal und am benachbarten Ostkap seien die Raten sehr hoch.

Dowling nennt Armut als einen Aspekt, der die Ausbreitung der Krankheit befördere. Frauen seien dabei besonders gefährdet. Sei es, weil sie Opfer sexueller Gewalt würden oder weil sie sich um des puren Überlebens ihrer Familie willen prostituieren müssten. Umfassend, präzise und ohne Wertungen aufklären, Einstellungen und Verhalten ändern, Frauenrechte stärken, die Menschen zu verantwortlichen Entscheidungen befähigen, lauten daher die Forderungen des Bischofs – den Gebrauch von Kondomen in bestimmten Fällen eingeschlossen.

"Ich treffe die Entscheidung nicht für die Menschen. Aber ich helfe ihnen zu dem Punkt zu kommen, wo sie auf der Basis von richtiger und umfassender Information eine Entscheidung treffen können", erläutert Dowling, der im Jahr 2000 einer der Mitbegründer des Aids-Büros der Südafrikanischen Bischofskonferenz war. Mittlerweile unterstützt die Kirche landesweit mit Projekten unter anderem die HIV-Prävention sowie die medizinische Behandlung und psychosoziale Betreuung Betroffener. Mit nach eigenen Angaben rund 19.000 behandelten Patienten gehört sie zu den größten nichtstaatlichen Anbietern antiretroviraler Behandlung.

Sprachfähigkeit stärken

Ein EDP-Programm zum Thema Aids lag vor diesen Hintergründen nahe. Initiiert wurde es vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Das bischöfliche Aids-Büro in Südafrika konnte als verantwortlicher Partner vor Ort gewonnen werden. Über das Mitwohnen in den Familien vor Ort sollten die Teilnehmer einen individuellen Zugang zu den Herausforderungen bekommen, die HIV/Aids für Gesellschaft, Politik und Kirche bedeuten – in Südafrika, "aber auch für unser Handeln in Deutschland", erläutert das ZdK. Ziel sei, die "Sprachfähigkeit von Christen in der Gesellschaft und der Kirche zu HIV/Aids zu stärken".

Doch zunächst einmal herrscht unter den Teilnehmern fast eine gewisse Sprach- und Ratlosigkeit. Zu weit scheint die Krankheit verbreitet, zu groß wirken die damit verbundenen Herausforderungen. Auch wenn die nackten Zahlen auch vorher schon bekannt waren – beim EDP haben die Statistiken Gesichter bekommen, wurden Einzelschicksale erlebt.

"Hier in Südafrika ist es schon erschreckend, wie viele Menschen betroffen sind", sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete und ZdK-Mitglied Peter Weiß nach seinem Aufenthalt in Pietermaritzburg. "Ich war zum Beispiel in einem Krankenhaus bei der Schwangerenuntersuchung und habe die Krankenschwestern gebeten, mich in die Unterlagen schauen zu lassen: 50 Prozent der jungen schwangeren Frauen, die sich haben untersuchen lassen, sind HIV-positiv. Das sind natürlich erschreckende Zahlen." Zugleich zeigt sich Weiß unter anderem von der Selbstorganisation der Menschen beeindruckt. "Das ist eine tolle Erfahrung, die wir machen können, wie sehr Hilfe zur Selbsthilfe nicht nur ein Schlagwort ist, sondern auch in der Realität funktionieren kann."

"Was mich besonders beeindruckt, sind die starken Frauen, die sich mit einem hohen Engagement beispielsweise in der Aids-Arbeit engagieren, die Beratung machen, die zum Teil selbst betroffen sind, die aber deutlich machen, dass man mit Aids leben kann", sagt auch Ingrid Sehrbrock, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes und ZdK-Mitglied. Sie hatte zuvor einige Tage in einem Behandlungs- und Beratungszentrum 140 Kilometer südwestlich von Johannesburg verbracht. Die Gewerkschaftsfrau trifft damit die Meinung des Kirchenmannes Dowling: Frauen, so meint er, seien zwar einerseits oftmals Objekte sexualisierter Gewalt und Opfer von HIV und Aids, andererseits setzten sie sich besonders in der Hilfe und Pflege der Kranken ein.

Zandile Mkhize verkörpert diese weibliche Stärke. Trotz der traurigen und furchtbaren Geschichten, die sie selbst durchlebt hat und nun jeden Tag erfährt, hat sie ihren Lebensmut nicht verloren. Im Gegenteil: "Ich habe gemerkt, dass ich aufwachen und etwas tun muss, um anderen zu helfen." Dabei wird die alleinerziehende Mutter, Sozialarbeiterin und Fernstudierende der Sozial- und Gemeindeentwicklung von rund 20 Freiwilligen unterstützt – allesamt Helferinnen. So gesehen könnte die Frauen-Fußball-WM 2011 eigentlich statt in Deutschland auch in Südafrika stattfinden. Die Begrüßungsplakate am Flughafen wären schon da.

Autor: Caroline Schulke, Redakteurin der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), Teilnehmerin am Exposure- und Dialogprogramm

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