Salzkörner

Montag, 8. März 2021

Die Macht des Erzählens

Auch erwachsene Frauen sind Opfer spirituellen und sexuellen Missbrauchs

Missbrauch in der katholischen Kirche. Diese fünf Worte genügen, um eine sehr konkrete Vorstellung hervorzurufen: Betroffene sexuellen Missbrauchs sind überwiegend Jungen und männliche Jugendliche; die Täter sind Priester oder Ordensleute und der Missbrauch findet in Einrichtungen oder an Ministranten statt. Mädchen und noch mehr erwachsene Frauen sind dagegen als Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kirche ebenso wie als Täterinnen bis in die jüngste Zeit weitgehend unsichtbar geblieben. Erst in jüngerer Zeit richtet sich nicht zuletzt dank der Publikationen von Doris Reisinger (geb. Wagner) auch im deutschsprachigen Raum der Blick auf Erwachsene, die in der Kirche spirituellen und/oder sexuellen Missbrauch erlitten haben.

Welche Dimensionen spiritueller Missbrauch annehmen kann, offenbart der Visitationsbericht zur Katholischen Integrierten Gemeinde in der Erzdiözese München und Freising vom Juni 2020: Partnerwahl und Kinderwunsch, Berufswahl und Wohnort, sogar die Aufnahme von Krediten zugunsten der Gemeinde wurden von den Verantwortlichen unter Berufung auf den Heiligen Geist diktiert, der durch die Gründerin Traudl Wallbrecher spreche – mit lebenslangen Folgen für die Betroffenen. Tatsächlich finden spiritueller und sexueller Missbrauch in Gemeinschaften jeder Couleur statt. In der Vergangenheit haben Nachrichten etwa über die Communauté Saint-Jean und über Jean Vanier, den Gründer der Arche, erschüttert.

Mit „Erzählen als Widerstand“ liegt nun eine neue Sammlung von autobiografischen Berichten vor (Barbara Haslbeck/Regina Heyder/Ute Leimgruber/Dorothee Sandherr-Klemp ([Hg.], Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020). 23 Frauen schreiben in diesem Buch über spirituellen Missbrauch, sexuellen Missbrauch und Machtmissbrauch, den sie selbst als Studentin, Gemeinde- oder Pastoralreferentin, als Familienfrau, als Mitglied von Orden oder geistlichen Gemeinschaften erlitten haben. Charakteristische Missbrauchsszenarien sind Exerzitien und geistliche Begleitung, Beichte und die Feier der Eucharistie. Die Initiative zu dieser Publikation ging von der Theologischen Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes e. V. aus. Die Initiatorinnen waren und sind überzeugt, dass Missbrauch an erwachsenen Frauen nicht länger ein Tabu bleiben darf und dass es kirchliche Erzähl-, Resonanz- und Reflexionsräume braucht, weil Aufarbeitung und Prävention ohne die Stimmen von Betroffenen nicht gelingen werden.

Spiritueller Missbrauch

Gerade die Multiperspektivität der 23 Autorinnen ermöglicht eine Annäherung an das Phänomen „spiritueller Missbrauch“, den die Herausgeberinnen analog zu sexuellem Missbrauch definieren als ein Handeln gegen die spirituelle Selbstbestimmung, das mit Gewalt und Zwang einhergeht und unter Ausnutzung von Macht- und Autoritätspositionen geschieht. Gegen die spirituelle Selbstbestimmung agieren geistliche Begleiter*innen, wenn sie konkrete Frömmigkeitspraktiken verordnen oder verbieten, Gottesbilder oktroyieren oder spirituell begründete Entscheidungen für die Begleiteten treffen. Gewalt und Zwang sind manifest, wenn Täter*innen die Freiheit der Betroffenen einschränken: Sie untersagen kirchenrechtswidrig die freie Wahl des Beichtvaters; sie erzwingen die Eucharistiefeier auf engstem Raum – in einer Erzählung am Morgen nach der Vergewaltigung; sie manipulieren Menschen, gegen die eigene Gewissensüberzeugung zu handeln und versprechen dafür die sakramentale Vergebung. Spiritueller Missbrauch geschieht ebenso wie sexueller Missbrauch in Macht- und Autoritätskonstellationen. Täter*innen sind dann gleichzeitig für die geistliche Begleitung und als Ordensobere für die Zulassung von Kandidat*innen zuständig. Multiple Machtasymmetrien zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Priestern als Autoritätspersonen und den betroffenen Frauen stellen hier ein besonderes Gefährdungspotenzial dar (vgl. dazu insgesamt Haslbeck/Heyder/Leimgruber, Erzählen als Widerstand. Zur Einführung, in ebd., 13–24).

Die von spirituellem Missbrauch Betroffenen schildern in „Erzählen als Widerstand“ eindringlich ihre Not: Sie misstrauen sich selbst, ihren Empfindungen und ihrem Gewissen, sind sozial isoliert, weil Täter*innen sie kontrollieren und ihre zeitlichen Ressourcen ausbeuten, sie können sich nicht der manipulativen Interpretation des eigenen Lebens durch die Täter*innen entziehen. Ein spezifisches Tatmerkmal ist der Klerikalismus, der ebenso als autoritär-dominante Anmaßung durch die Täter wie als Zuschreibung durch die Opfer vorkommt. Der spirituelle Missbrauch ist in vielen Fällen integrativer Bestandteil der Anbahnung von sexualisierter Gewalt. Ihn beim Namen nennen und identifizieren zu können schwächt seine Macht.

Einfach nein sagen?

„Frauen könnten ja einfach nein sagen“, erklärte die Missbrauchsbeauftragte eines Ordens einer Autorin und implizierte damit, dass es sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen nicht gibt (Ellen Adler, 31). Diese Auffassung widerspricht nicht nur dem StGB § 177 nach der Reform von 2016; sie impliziert zudem ein Verhältnis auf Augenhöhe, das in keiner der 23 Erzählungen gegeben ist. Im Gegenteil, sexueller Missbrauch geschieht immer in asymmetrischen Machtkonstellationen, was auch die Rahmenordnung Prävention gegen sexualisierte Gewalt sowie die Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch der DBK von 2019 berücksichtigen: „Ein besonderes Macht- und/oder Abhängigkeitsverhältnis kann auch im seelsorglichen Kontext gegeben sein oder entstehen“ (Nr. 1.4 bzw. A.3). Papst Franziskus spricht deshalb häufig von der Trias sexueller Missbrauch, Missbrauch von Macht und Missbrauch des Gewissens. In mehreren Erzählungen sind diese Macht- und Dominanzverhältnisse sehr massiv in den (meist nur angedeuteten) sexuellen Praktiken der Täter manifest: „Ich habe oft geweint, mich gewunden. Er sagte: ‚Ich dachte, das wäre Teil des Vorspiels‘“, erinnert sich Momo Eiche (61). Sie selbst fühlte sich „leer, beschmutzt und benutzt“. Einvernehmliche sexuelle Begegnungen sehen anders aus.

Hätten die betroffenen Frauen „einfach nein sagen“ können? Nicht nur Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, sondern speziell die Psychodynamik einer Missbrauchssituation verhindert genau dies. Die Person befindet sich in einer traumatischen Situation; sie kann weder fliehen noch kämpfen, weshalb sie dissoziiert: „Ich bin in seinem Bett, er zieht mich aus und ... dringt in mich ein. Ich kann mich nicht wehren. Ich mache – gar nichts. […] Ich bin wie abgestorben, leer.“ Sr. Pauletta Fabrizius (68), die diese Situation so eindringlich beschreibt, stellt sich die Frage, ob sie hätte nein sagen können. Tatsächlich ist es für Betroffene eine bittere Wahrheit, sich selbst einzugestehen, dass sie genau dies nicht konnten und dass sie ein ohnmächtiges Opfer waren (vgl. Haslbeck, Warum haben die Frauen nicht nein gesagt?, in ebd., 221–232). Eine auf alle gesellschaftlichen Kontexte übertragbare Einsicht aus den Berichten ist, dass jede Person zum Opfer werden kann. Missbrauch geschieht dort, wo die existenzielle Not oder die Sehnsucht am größten sind: Wohnungslosigkeit, Migration, Trauer und Überlastung machen ebenso verletzlich wie die Sehnsucht nach Wettkampferfolgen, Karriere oder geistlicher Erfahrung.

Erzählen als Widerstand. Die Autorinnen haben im Erzählen eine eigene Deutung des Geschehenen und ihres Lebens vorgenommen. Sie entziehen sich so der Macht der Täter*innen. Gleichzeitig machen sie Leserinnen und Leser zu Mitwissenden der vielen Formen von Missbrauch

in der Kirche. Als Einzelne und als Erzählgemeinschaft schreiben sie an gegen das Verschweigen und Vertuschen. Ihr Zeugnis muss in der Kirche – in Verbänden und Pfarreien, in Bistümern und Orden – gehört werden. Es wird das Denken und Handeln verändern.

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Version von Dies. , Dem Trauma entfliehen. Auch erwachsene Frauen sind Opfer spirituellen und sexuellen Missbrauchs, in: Herder Korrespondenz 74 (1/2021), 31–33.

 

Autor: Dr. Regina Heyder Dozentin am Theologisch-Pastoralen Institut in Mainz, ehrenamtliche Vorsitzende der Theologischen Kommission des KDFB e. V. und Mitglied im Arbeitskreis „Theologie, Pastoral und Ökumene“ des ZdK.

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