Salzkörner
Mittwoch, 28. August 2019
Europa nach den Wahlen 2019
Freude über Wahlbeteiligung und Frust über Postenschacherei
Wenn man beruflich bedingt mehr Zeit in Mittel- und Osteuropa verbringt als anderswo, wundert man sich manchmal über die Diskussionen und Aufreger in Deutschland – aber auch darüber, wie für die Europawahl geworben wurde. Während im Straßenbild deutscher Städte und in den deutschen Medien die Wahl zum Europäischen Parlament scheinbar allgegenwärtig war, sah man in den Ländern Mitteleuropas wenig bis keine Wahlwerbung und las auch viel weniger über die Wahlen zum Europäischen Parlament. Also, wen wundert da die unterschiedliche Wahlbeteiligung zwischen Ost und West, Nord und Süd?! Umso erfreulicher, dass dennoch in allen Regionen Europas die Wahlbeteiligung angestiegen ist auf 50,6 Prozent.
Lassen wir uns von den rund 20 Prozent EU-Gegnern nicht die Agenda diktieren, was wir wann, wo, warum über Europa denken, sagen und schreiben sollen!
Die Mehrheit in Deutschland und weiten Teilen Europas ist dankbar und glücklich, in der EU leben und arbeiten zu dürfen. Sagen wir das auch? Stehen wir zu dieser Idee und dieser Gemeinschaft – auch öffentlich? Jeder von uns persönlich? Immer auch dann, wenn jemand – meist lautstark – gegen Europa polarisiert oder die Leistungen der EU ins Lächerliche zieht?
Das Sein oder Nichtsein Europas hängt nicht vom „Spitzenkandidatensystem“ ab
Das Wahlergebnis 2019 bedeutet einen historischen Einschnitt in die Parlamentsarbeit des Europäischen Parlaments (EP), denn bislang gab es immer eine de facto „Große Koalition“ zwischen Volksparteien und Sozialdemokraten, ausgestattet mit satter Mehrheit. In der jetzt neunten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (die erste Direktwahl fand 1979 statt) müssen neue Koalitionen gebildet werden. Schon bei der Frage der Wahl des Präsidenten des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission kam es zu großen Schwierigkeiten, Mehrheiten zu finden.
Dies nutzte dem Rat – und die Staats- und Regierungschefs nahmen das Heft des Handelns in die Hand, als es um die Frage der EU-Spitzenpositionen ging. Insbesondere der Posten des EU-Kommissionspräsidenten war größter Streitpunkt zwischen den europäischen Akteuren. Während die EVP mit Manfred Weber (CSU) darauf pochten, den Wahlsieger auch zum EU-Kommissionspräsidenten wählen zu lassen, verhinderten das Veto Frankreichs und der Visegrád-Staaten (Tschechien, Polen, Slowakei und Ungarn) erst die Wahl Webers und dann des zweitplatzierten Spitzenkandidaten Timmermans aus den Niederlanden.
Erst Ursula von der Leyen, der dritte Vorschlag für das Amt des Kommissionspräsidenten, war am Ende auch für Emanuel Macron und die V4-Länder akzeptabel. Aber welche Gesamtbilanz können die Ostmitteleuropäer nach dem zähen Postengeschacher für sich ziehen? Kommentare in den seriösen Medien äußerten sich kritisch: So sei es nicht zufriedenstellend, nur unliebsame Bewerber zu verhindern, aber selber keine Spitzenämter zu erhalten. Die V4 hatten Maroš Šefčovič, einen der bisherigen Vizepräsidenten der Kommission, als Nachfolger Junckers vorgeschlagen, waren damit aber chancenlos.
Unter den fünf Spitzenposten, die das Brüsseler Personalkarussell bereithielt, wird nach dem Amtsende des Polen Donald Tusk als Ratspräsident niemand aus den Visegrád-Staaten vertreten sein. Neben von der Leyen stammen auch die anderen neuen Köpfe an der Spitze der europäischen Institutionen allesamt aus den Staaten des alten „Westeuropas“: der Italiener David-Maria Sassoli als neuer Präsident des EU-Parlaments, der Belgier Charles Michel als Ratspräsident, der Spanier Josep Borrell als EU-Außenbeauftrager sowie die Französin Christine Lagarde als Präsidentin der Europäischen Zentralbank. Außer Michel kommen alle Genannten zudem aus großen EU-Mitgliedsländern. Gerade aus deutscher Sicht sollte diese Nichtberücksichtigung kleinerer Länder aus Mittel- und Osteuropa kritisch hinterfragt werden. Denn zu einer Verbesserung der EU-skeptischen Stimmung z. B. in Tschechien trägt dies sicher nicht bei.
(K)Ein Weiter-so bitte!
Doch auch die Inhalte, die Ursula von der Leyen in ihrer Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament vorstellte, stießen nicht überall in der EU auf Gegenliebe. Aber Europa braucht eine Agenda – neue Inhalte für das Europa von heute. So ist z. B. der von ihr betonte Klimaschutz („green deal“) in der mitteleuropäischen Polit-Szene kein großes Thema. Damit wird höchstens argumentiert, wenn es um den weiteren Ausbau der Kernenergie geht: So sollen die Kernkraftwerke in Tschechien, der Slowakei und Ungarn ausgebaut werden, während die Energiewende in Deutschland das Ende der Atomkraft bedeutet.
Auch in der Flüchtlings- und Migrationspolitik scheinen sich die EU-Staaten nicht anzunähern, bestenfalls rüstet man rhetorisch etwas ab. Wie die neue EU-Kommission in dieser Frage weiterkommen und eine europäische Lösung erreichen will, steht in den Sternen.
Weitere Unstimmigkeiten wird es in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik geben: etwa in puncto Russlandsanktionen, Iran und Syrien. So unterstützt die frühere Bundesverteidigungsministerin von der Leyen seit längerem die Idee einer europäischen Armee, wie sie von Kommissionspräsident Juncker vorgeschlagen wurde. Dadurch sollten die EU-Staaten besser gegen eine mögliche Aggression Russlands gewappnet sein, allerdings haben mehrere EU-Länder ihre Skepsis diesbezüglich mehrfach betont.
Weiterhin müsste die Einführung des Euro für alle Mitgliedsländer ein eiliges Ziel sein. Doch das Thema ist derzeit für viele Politiker der Nicht-Euro-Länder ein Tabu-Thema, das sie nicht anrühren wollen. Insgesamt ist der gemeinsame Binnenmarkt zwar Realität, doch schon bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und den unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern in den Mitgliedsländern gäbe es noch viel zu tun.
Ein einfaches „Weiter-so“ mit 28, bald 27 Solisten, die kein Orchester bilden wollen, wird dem Ansehen der EU und den Ideen des gemeinsamen Europa schwer schaden. Die EU und die europäische Einigung sind nicht begonnen worden, um Steuern zu vereinheitlichen und Vorschriften in der persönlichen Lebensführung der Menschen durchzusetzen. Der Schutz der Freiheit des Einzelnen aber bleibt oberste Priorität der Politik. Nicht mehr und nicht weniger.