Salzkörner

Montag, 13. Dezember 1999

Lieber erfolglos als unpopulär?

Es fehlt am politischen Willen zu unbequemen Maßnahmen
Wer in Deutschland "greifbare, wirksame und realistische Handlungskonzepte" entwickeln will, muss sich fragen, ob es einen wirklichen Konsens über die Vorrangigkeit, Beschäftigung zu schaffen, gibt – oder ob nicht andere Themen wie zum Beispiel eine relative Einkommensgleichheit auf der politischen Agenda einen höheren Stellenwert haben. Und er muss sich fragen, ob "neue Initiativen" dem erkannten Notstand denn überhaupt noch abhelfen können.

Beschäftigung schaffen ist sozial. Ein Satz, den in Deutschland zwar jeder unterschreiben wird, vor allem dann, wenn er den Verdacht hegt, dass es auf dem Arbeitsmarkt nicht gerecht zugeht. Nur: Über die Konsequenzen aus diesem Diktum sind sich die wenigsten im Klaren. Es ist richtig, dass die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben in diesem Land vor allem von der Teilhabe am Erwerbsprozess geprägt ist. Wer arbeitslos oder Sozialhilfeempfänger ist, ist ausgeschlossen.

Verzicht erlauben, Mobilität fördern

Wer der Beschäftigung den höchsten Stellenwert einräumt, der muss sich fragen, welchen Preis er dafür bezahlen will. Wer mehr Menschen in Arbeit bringen will und bei den Arbeitslosen den Wunsch, schnell eine neue Stelle zu finden, wach halten will, muss sich entscheiden: Im Westen Deutschlands für Einsteigerlöhne, die Ausweitung von Zeitarbeit, für Qualifizierung und zügige Vermittlung. Er muss bereit sein, Arbeitnehmern, die zum Erhalt ihrer Stelle auf Lohn verzichten wollen – wie beim Baukonzern Holzmann -, diesen Verzicht zu erlauben. Er muss sich auch fragen, inwieweit die Höhe der Einkommenstransfers Arbeitslose davon abhält, eine neue Beschäftigung aufzunehmen.

In Ostdeutschland muss er die Mobilität der Erwerbslosen fördern, ebenfalls Lohnverzicht akzeptieren und den Druck, eine Beschäftigung aufzunehmen, erhöhen. All diese Instrumente sind nicht besonders populär: Vor allem deshalb nicht, weil sie im Ruf sozialer Kaltschnäuzigkeit stehen, weil sie das verbreitete Bedürfnis nach Einkommensgerechtigkeit verletzen.

Ausweichmanöver

Aber man weicht lieber aus – auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken – auf "neue Initiativen", die die Langzeitarbeitslosigkeit beheben sollen, ohne andere Ziele zu verletzen. ABM, Fortbildung, Umschulung, Start etc. – an neuen und alten Initiativen mangelt es nicht. Nur: Sie helfen nicht, jedenfalls nicht im großen Stil, schon gar nicht in Ostdeutschland. Für alle neuen Instrumente, die die Massenarbeitslosigkeit in den neuen Ländern lindern sollen, gilt zunächst der Generalverdacht, dass sie am Ende nicht zu einer geregelten Beschäftigung im ersten Arbeitsmarktführen.

Sowohl die Frage, was wirklich sozial ist, als auch die, ob neue, auch kirchliche, Initiativen der Misere auf dem Arbeitsmarkt abhelfen können, sind bis heute unbeantwortet. Schlimmer noch: Geht es – wie im Fall der älteren Langzeitarbeitslosen – wirklich darum, diese Gruppe in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren? Oder geht es in Wahrheit darum, diesen Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ein außerfamiliäres soziales Umfeld zu erhalten?

Fragwürdige Umverteilung von Arbeit

Wer sich Gedanken darüber macht, wie ältere Langzeitarbeitslose ihre Kenntnisse, ihren Arbeitswillen und ihren Anspruch auf Integration in die Erwerbsgesellschaft erhalten können, der muss darüber diskutieren, ob der Schlachtruf "Jung für Alt", mit dem ältere Arbeitnehmer dazu gebracht werden, für die Jungen ihre Arbeitsstelle zu räumen, wirklich richtig ist.

Wäre der Arbeitsmarkt tatsächlich ein Markt, auf dem die Umverteilung von Arbeit Erfolge bringt, müssten die Länder Europas, in denen die wenigsten älteren Arbeitnehmer noch arbeiten, auch die mit der niedrigsten Arbeitslosenquote sein. Das Gegenteil aber trifft zu. Die Schweiz und Norwegen, Länder mit der höchsten Erwerbsquote von älteren Arbeitnehmern, sind auch die Länder mit der tendenziell niedrigsten Arbeitslosigkeit. B

Beschäftigungsfähigkeit

Die Herausforderung an eine aktive Arbeitsmarktpolitik kann nicht darin bestehen, immer mehr ABM zu erfinden, die für immer mehr Erwerbslose in eine Maßnahmenkarriere zwischen ABM, Arbeitslosigkeit, Fortbildung und ABM mündet – aber selten zu einem echten Arbeitsplatz führt. Die wirkliche Herausforderung an alle gesellschaftlichen Gruppen ist, die Beschäftigungsfähigkeit der Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten oder wieder herzustellen.

Das heißt für Jugendliche und junge Arbeitnehmer: Sie müssen entsprechend ihrer Ausbildungsfähigkeit ausgebildet und in den Arbeitsmarkt integriert werden. Für Jugendliche ohne Schulabschluss oder ohne die Fähigkeit, eine dreijährige Ausbildungszeit durchzuhalten, müssen die Berufseintrittsbarrieren abgesenkt werden. Auch für Anlernzeiten, erfolgreiche Praktika etc. sollten Erfolgsnachweise ausgegeben werden; die Ausbildungsvergütungen müssen überprüft werden. Die Beschäftigungschancen für jüngere Arbeitnehmer können erhöht werden, indem ihre Bereitschaft, eine Tätigkeit auszuüben, belohnt und die Verweigerung bestraft wird.

Ohne Sanktionen geht es nicht

Nordrhein-Westfalen hat in einem Modellversuch gute Erfolge erzielt: Dort wurden Jugendliche, die zu einem Stichtag keinen Ausbildungsplatz hatten, vom Arbeitsamt, der Landesregierung und den Handwerks-, Industrie- und Handelskammern zu einem Gesprächstermin eingeladen. Bei diesem Termin wurde versucht, das Angebot an Lehrstellen mit den Wünschen der einzelnen Jugendlichen zusammenzubringen. Wer an dem Gespräch nicht teilnahm, wurde aus der Liste der Arbeitsuchenden gestrichen und erhielt keine Unterstützungszahlungen. Für Deutschland ungewöhnlich: Aber mit der latenten Drohung, den Scheck vom Arbeitsamt nicht mehr zu bekommen, wurden viele dieser Jugendlichen überhaupt erst dazu bewegt, sich um eine konkrete Ausbildungsstelle zu bemühen.

Dasselbe Prinzip gilt für Sozialhilfeempfänger: Wer die Beschäftigungsfähigkeit von Sozialhilfeempfängern erhalten will, muss sie arbeiten lassen. Kommunen, die ihre Sozialhilfeempfänger an die Arbeit stellen, haben überdurchschnittlich hohe Abmeldungen aus der Sozialhilfe. Erstens überlegen sich viele Sozialhilfeempfänger, die aus einer Kombination von ungeprüfter Sozialhilfe und Schwarzarbeit ein erträgliches Auskommen haben, auf die kommunale Unterstützungsleistunng zu verzichten. Und zweitens ist ein Teil der Sozialhilfeempfänger im Anschluss an solche Einsätze wieder bereit, auf dem Arbeitsmarkt aktiv zu werden.

Employability-Konzepte

Unterstützt werden können solche Maßnahmen, indem der Anreiz für Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger, wieder zu arbeiten, zum Beispiel durch Vorgehensweisen, wie sie die holländische Organisation Maatwerk praktiziert. Diese private Arbeitsvermittlung wird von den Kommunen bezahlt. Maatwerk analysiert die individuellen Stärken und Schwächen eines Sozialhilfeempfängers, schult und begleitet ihn bei der Arbeitssuche. Die Vermittlungsquoten dieser individuellen Beratung sind beeindruckend.

Alle Länder, die erfolgreiche Employability-Konzepte durchgesetzt haben, haben dies mit Maßnahmen verbunden, die einen deutlichen Zwangscharakter haben. Selbst Holland, das liberale Musterland des erfolgreichen Konsenses, hat beispielsweise seine Invalidenrentner zur erneuten medizinischen Begutachtung vorgeladen und die Mehrheit von ihnen in den Arbeitsmarkt zurückgeschickt. Alle Länder, die erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik machen, haben sich am Ende nicht mit Massen-ABM begnügt, sondern haben sich um die Probleme des einzelnen Arbeitnehmers, einen passenden Job zu finden, gekümmert. Und: Alle Länder, deren Arbeitsmarkt heute in Ordnung ist, haben die Gewährung staatlicher Unterstützung von der nachgewiesenen Bereitschaft, eine neue Arbeit zu finden, abhängig gemacht.

Unsinnige Solidaritätsforderung

Wirklich problematisch und einigermaßen aussichtslos dagegen ist kurz- und mittelfristig die Reintegration älterer Arbeitnehmer. In einer Gesellschaft, in der offenbar ein Konsens darüber herrscht, dass ältere Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz für junge Arbeitnehmer räumem müssen, ist eine sinnvolle Reintegration älterer Menschen in den Arbeitsmarkt fast unmöglich. Den Tenor dieser Diskussion zu verändern und die vermeintliche Solidaritätsleistung als unsinnig zu entlarven, ist eine Aufgabe, an der das ZdK sich intensiv beteiligen sollte.

Eine Lösung könnte sein, für die älteren Arbeitnehmer einen gleitenden Abschied vom Berufsleben zu ermöglichen und ihnen gleichzeitig Alternativen im Ehrenamt und in der Selbständigkeit zu eröffnen. Gerade in diesen Bereichen sollten die gesellschaftlichen Gruppen, auch die Kirchen, attraktive Angebote schaffen, die dem Leistungspotential und der Lebenserfahrung der über 60-jährigen entsprechen. Die Beratungsarbeit, die von Senioren etwa für Firmengründer oder in der Entwicklungshilfe geleistet wird, zeigt, was möglich wäre.

Autor: Dr. Ursula Weidenfeld, Teamleader Wirtschaftspolitik, Financial Times Germany

zurück zur Übersicht