Salzkörner

Mittwoch, 9. Mai 2012

Nervöses Abwarten auf der Zuschauerbank

Polen und der Euro

Donald Tusk ist ein geschickter Taktiker. Er weiß, wann er etwas sagen soll und wann es besser ist, über ein Thema zu schweigen. Als er am 18. November 2011 vor dem polnischen Parlament, dem Sejm, seine Regierungserklärung abgab, verzeichneten die Beobachter sofort, worüber der Premier kein Sterbenswörtchen verlor – nämlich darüber, wann Polen die gemeinsame europäische Währung einführen wird.

Der Begriff "Krise in der Eurozone" war eigentlich das Leitmotiv dieser Rede, in der Tusk eine Reihe "schmerzlicher" Schritte ankündigte, die aber gerade deshalb unumgänglich seien, damit die Krise nicht auf Polen übergreift. Die Angleichung des Renteneintrittsalters von Männern und Frauen und seine Anhebung auf 67 Jahre, die Abschaffung von Steuererleichterungen, die Anhebung des Arbeitgeber-Rentenbeitrags … "Wir werden Maßnahmen ergreifen müssen, darunter unpopuläre …, die Entbehrungen und Verständnis von allen verlangen, ausnahmslos", sagte Tusk und betonte, dass all dies notwendig sei, damit "wir erfolgreich der Krise widerstehen können".

Damals, Mitte November 2011, wollte Tusk eine Diskussion darüber, wann Polen der Eurozone beitreten soll, ersichtlich (noch) nicht auslösen. Der Grund war einfach: Würde heute eine Volksabstimmung stattfinden, so würden die meisten Polen gegen einen Beitritt Polens zur Eurozone stimmen. Denn sie erinnern sich noch gut an die kommunistische Zeit und auch daran, dass der Begriff "Krise" viel dramatischer wirken kann. Die meisten Polen wollen nicht verlieren, was nach 1989 erreicht wurde. Zwar ist Polen ärmer als die Länder des Westens, doch es ist zugleich ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt zwischen 2008 und 2011 um fast 16 Prozent wuchs (der EU-Durchschnitt lag bei Null). Die Polen wissen ihre "kleine Stabilität" zu schätzen – das "Euroland" kommt ihnen als etwas Unsicheres, ja sogar Gefährliches vor.

Ein gutes Gespür für diese Stimmungen hat der zweitwichtigste polnische Politiker, Jarosław Kaczyński, Anführer der größten Oppositionspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit). Bei der Debatte über Tusks Regierungserklärung im Sejm sprach Kaczyński das Thema an, über das der Ministerpräsident schwieg – und argumentierte, es wäre für Polen heute "schlimmer als ein verlorener Krieg", wenn es den Euro übernehmen würde. Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, dass Kaczyński die polnische Mitgliedschaft in der EU befürwortet. Im Übrigen gibt es in der polnischen Politik heute keine ernsthafte Kraft, die gegen "Europa" wäre – die Vorteile der Mitgliedschaft sind allzu deutlich. Die Frage muss aber lauten: Was weiter?

Der Streit um den Euro – ein Streit (auch) um die Souveränität

Wenn Polen der Eurozone fernbleibt, so kann es also nur mehr die Rolle eines Beobachters einnehmen. Bezeichnend hier: In Zeiten der Krise hat sich die polnische EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2011 auf eine größtenteils symbolische Rolle beschränkt. Diese Situation ist aber alles andere als komfortabel, denn in den nächsten Jahren entscheidet sich die Zukunft Europas – und zwar nicht in den EU-Gremien, sondern während der Treffen der Staats- und Regierungschefs der Eurozone. Denn das ist ja heute eine neue europäische "Regierung", zwar nicht formal, aber via facti. Vor allem dort wird nicht nur über die gemeinsame Fiskalpolitik entschieden – auch dort gestalten sich zwischenstaatliche Beziehungen: zwischen den Reichen und den Armen, den Großen und den Kleinen. Ebenfalls zu entscheiden ist die Frage, wie viel Souveränität die zu diesem künftigen Europa gehörenden Länder noch abgeben wollen.

Diesem europäischen "De-facto-Zentrum" muss Polen fernbleiben. Wie lange noch? Bestimmt bis 2015 – und womöglich länger. Zu dieser Schlussfolgerung kommt man, wenn man eine harte Auseinandersetzung beobachtet, die in Polen knapp zwei Wochen danach begann, nachdem Tusk seine Regierungserklärung abgab – und kurz bevor in Brüssel der Entwurf des Fiskalpakts von 25 der 27 EU-Länder angenommen wurde.

Ausgelöst wurde diese Debatte durch den Außenminister Polens, Radosław Sikorski, der in Berlin am 28. November 2011 eine bemerkenswerte Rede hielt. Mit dieser Rede rief Sikorski in Polen eine heftige und emotionale Diskussion hervor, die bis heute dauert: darüber, was wir Polen von Europa wollen und wie wir uns Polens Platz in dem Organismus vorstellen, der bereits 2012 aus der alten EU entsteht. Und ob wir in der Auseinandersetzung über diese Zukunft auf der Seite Deutschlands stehen wollen, das – von der Lage gezwungen – zum europäischen Anführer aufsteigt.

Nun wurde also der Stock in das (polnische) Wespennest gestochen mit der Erklärung Sikorskis, dass Polen – ausgerechnet Polen! – an Deutschland appelliert, sich nicht vor der Rolle eines europäischen Anführers zu drücken. Man darf annehmen, dass deutsche Politiker vor allem auf diese Worte Sikorskis aufmerksam wurden: Er sei als wohl erster polnischer Außenminister bereit zu der Aussage, weniger Angst vor deutscher Macht als vor deutscher Untätigkeit zu haben.

Damit hatte Sikorski recht: Von dem, was Berlin tun oder nicht tun wird, hängt nun die Zukunft der Eurozone und der EU ab. Dabei ist die Tatsache, dass Deutschland zum wichtigsten Land bei der Rettung der gemeinsamen Währung – also bei der Rettung der EU – geworden ist, keineswegs die Folge eines politischen Plans in Berlin, eines (guten oder bösen) politischen Willens. Man könnte sogar sagen: Anders, als dies griechische Demonstranten oder französische Sozialisten glauben zu sehen, ist Deutschland in diese Rolle gedrängt worden und es ist darüber alles andere als glücklich. Denn was in den Augen der griechischen "Straße", der britischen, französischen oder italienischen Presse, aber auch vieler Politiker in Frankreich, Spanien, Großbritannien oder Portugal – die Liste muss auch einen Großteil der polnischen Opposition berücksichtigen – als immer irritierendere "deutsche Dominanz" erscheint, ja wohl als "eine deutsche Kolonisierung Europas", nimmt sich aus der Perspektive der deutschen Politiker und stimmberechtigten Steuerzahler ganz anders aus. Als was? Vor allem als große, allzu große Verantwortung, als allzu große Erwartung.

Europa ohne Identifikation?

Es wäre verhängnisvoll, wenn ein Europa der Zukunft von einem beträchtlichen Teil seiner Bevölkerung als rein technokratisches, von Fachleuten geschaffenes Gebilde gesehen werden würde, das gegen den eigenen Willen eingeführt wurde und, selbst wenn es in seiner wirtschaftlichen "Alternativlosigkeit" über Autorität verfügt, keine demokratische Legitimation besitzt. Und das noch dazu keinerlei positive Emotionen freisetzt, dem also etwas abgeht, was wir eine im Entstehen begriffene "europäische Identität" nennen.

Ein solches Europa wüsste vielleicht besser mit einer Finanzkrise umzugehen. Aber wie lange würde sich ein solches Europa halten können, mit dem sich kaum jemand identifizieren möchte, wenn erst einmal die Gefahr der heutigen Krise vorbei ist? Und was soll dann folgen? Die Identifikation der Europäer mit dem neuen "Europa des Fiskalpakts" ist ein unterschätzter, aber grundlegender Faktor.

Und Polen?

Polen – so der Wille der Regierung Tusk – soll bis 2015 alle Kriterien erfüllen können, die dem Land erlauben würden, der Eurozone beizutreten. Sollte dieses Ziel realisiert werden, bedeutet es aber nicht, dass Polen dann tatsächlich beitritt – mal abgesehen davon, ob das politisch durchsetzbar und vermittelbar wäre. Denn für Polen wäre es besser, ein paar Jahre abzuwarten – so kürzlich Marek Belka, Chef der polnischen Zentralbank –, bis die Eurozone auf dem eigenen Hof für Ordnung sorgt.

Abwarten: Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus mag das rational erscheinen. Eine Strategie des Aussitzens der Krise bedeutet aber politisch, dass Polen dem Entscheidungsprozess über die Zukunft Europas, also auch über die eigene Zukunft, fernbleiben muss. Ein Dilemma, das wohl kaum lösbar ist.

 

Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags ist in Ausgabe 1/2012 der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven (OWEP) erschienen. Mehr unter: www.owep.de.

 

 

 

Autor: Wojciech Pięciak, Leiter des Ressorts Ausland in der polnischen katholischen Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny".

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