Salzkörner
Montag, 2. März 2015
Prof. Dr. Hans Hermann Henrix, Aachen
Warum ist mir der jüdisch-christliche Dialog wichtig? Weil er für den Theologen, die Theologin, Theologie in Vollzug, Theologie in Beziehung, immer wieder Theologie und Austausch von Angesicht zu Angesicht ist. Das kann die Theologie davor bewahren, dass sie bedeutungsarm, bequem oder gar langweilig wird. Abwesenheit von Langeweile sagt gewiss nicht Mühelosigkeit. Aber in der Mühe liegt das Versprechen eines Reichtums, wie es in einem Midrasch zum Hohen Lied begegnet. Dort wird Rabbi Jessa das Gotteswort zugeschrieben: "Der Heilige, gelobt sei er, spricht zu Israel: ‚Meine Kinder, öffnet mir einen Spalt der Umkehr so schmal wie ein Nadelöhr, und ich will euch eine Öffnung öffnen, durch die Wagen und Kutschen fahren können’" (Canticles Rabba V, 2,2). Der Nadelöhr-schmale Spalt der Umkehr, der durch Gottes Wirken zu einer Öffnung wird, durch die Wagen und Kutschen fahren können, ist eine Metapher, die sich bei unterschiedlichen Erfahrungen melden kann.
Jüngst brachte sich mir bei der Begegnung mit einem langjährigen Weggefährten aus dem Gesprächskreis "Juden und Christen" beim ZdK ein lang zurückliegender Austausch "von Angesicht zu Angesicht" in Erinnerung. Anlässlich einer Lehrverpflichtung an der Universität Hamburg traf ich Msgr. Wim Sanders, viele Jahre geistlicher Rektor der Katholischen Akademie Hamburg. Wim Sanders erinnerte an eine Reise des Zentralkomitees und Gesprächskreises im März 1986 nach New York. Es ging um die Kontaktpflege mit der Gemeinschaft des amerikanischen Judentums und der katholischen Kirche der USA. Zwei gegenläufige Erfahrungen standen ihm besonders vor Augen. Zum einen war uns beim Rundgang durch das ehemalige jüdische Viertel von Lower Eastside ein Geschäft aufgefallen, das religiöse Artikel und Torarollen verkaufte. Es zog uns an. Der Besitzer erkundigte sich, wer denn seine Besucher seien. Als er hörte, dass sie Deutsche seien, reagierte er schroff: "Sie sollten sich schämen. Sechs Millionen sind genug. Bitte verlassen Sie mein Geschäft." Und er schickte uns eine Verfluchung hinterher.
Zum anderen gehörte zum Programm desselben Tages ein Besuch der Bialystoker Synagoge. Sie war früher eine methodistische Kirche, die zu einer Synagoge umgewidmet worden war. Dort begrüßte uns der alte Rabbiner Signer. Er führte uns durch die Mikwe, das Ritualbad, und erläuterte die Situation der Gemeinde. Er rühmte die jüdisch-christliche Zusammenarbeit und wünschte unserer Arbeit nicht nur Erfolg, sondern sprach über uns eine Beracha. Mehr als 28 Jahre später meinte Wim Sanders: "Wir haben innerhalb kürzester Zeit einen Fluch und einen Segen erhalten. Das werde ich nie vergessen."
Ein anderes "von Angesicht zu Angesicht" im selben Jahr hat sich mir in die theologische Biographie eingeschrieben: Ein Symposium. Nur wenige Wochen nach dem New York-Besuch nahm ich im Mai 1986 den 100. Geburtstag von Franz Rosenzweig zum Anlass, nach Rosenzweigs messianischem Denken zu fragen und Emmanuel Levinas um einen Dialog mit Bischof Klaus Hemmerle und weiteren Theologen zum Verhältnis von Judentum und Christentum zu bitten. Levinas erzählte, dass durch das Lesen von Franz Rosenzweig eine gewisse Veränderung in sein persönliches Verhältnis zum Christentum gekommen sei. Bei Rosenzweig habe er die philosophische Möglichkeit gesehen, die Wahrheit in den beiden Formen von Judentum und Christentum zu denken. Die christliche Form der Wahrheit trage den Namen der misericordia. Die Form des Judentums sei ein Glaube als Tun "mit dem ganzen Leibe”.1 Levinas sprach von der Nähe zwischen beiden, aber auch von ihrer Distanz. Im Blick auf die Nähe biblischer Texte wie zwischen Jes 58 und Mt 25 meinte er: Die Leute "suchen danach, Gottes Antlitz zu sehen, Gottes Nähe zu fühlen. Und doch kommt Gott nur dann, wenn sie dem Armen helfen, den Hungrigen satt machen”.
Levinas bekannte, dass ihm trotz dieser Nähe "das ganze Mysterium" von Jesus Christus verschlossen bliebe. Aber das sei noch nicht alles. "Das Schlimme war, dass diese gefährlichen Dinge von Inquisition und Kreuzzügen mit dem Zeichen Christi, mit dem Kreuz verbunden waren. Das kann ich nicht verstehen. Das muss man mir erklären." Hier sah sich Bischof Hemmerle zur Antwort genötigt: "Auch ich bin betroffen angesichts dessen, was
im Namen und im Zeichen Jesu geschehen konnte … Ist es nicht im Grunde ein Zeichen der Wehrlosigkeit Gottes, der Wehrlosigkeit Jesu, die er auch angenommen hat, dass er im Innersten seiner Botschaft mir wehrlos begegnet? … (Gott ging bis zu dem Punkt), an dem er mich nur um meine Liebe bitten kann, an dem er mich nur um seine Nachfolge bitten kann." Levinas entgegnete, er verstünde diese Wehrlosigkeit nicht. "Manchmal scheint mir das, was in Auschwitz passiert ist, einen Sinn zu haben, als ob der liebe Gott eine Liebe verlangt, die ganz ohne Versprechen ist… Und dann sage ich mir: aber das kostet doch zu viel – nicht den lieben Gott, sondern die Menschheit. Das ist meine Kritik, mein Unverständnis gegenüber der Wehrlosigkeit." Levinas beharrte auf seinem Einwand: die Wehrlosigkeit sei nicht die des Leidens Gottes, sondern die der Opfer. Und Hemmerles Antwort, es sei doch die Wehrlosigkeit Gottes eine "lebendige, alles kostende Forderung, die eine Umkehr ins Tun verlangt", wies Levinas mit dem Hinweis zurück, dass ihm dies doch theologisch scheint.
Im jüdisch-christlichen Austausch "von Angesicht zu Angesicht" tritt also manchmal ein jüdischer Einspruch entgegen, der schmerzlich ist. Das gehört zur Doppelerfahrung von Nähe und Fremdheit zwischen Judentum und Christentum. Eine Bequemlichkeit ist nicht verheißen. Der Dialog hat seine ethische Anforderung. Und doch lässt er sich über das Ethische hinaus immer neu als Bereicherung erfahren. Es erschließen sich ungewohnte Horizonte, unvertraute Perspektiven tun sich auf, ein unerwarteter Zuspruch kommt entgegen. Es können sich Freundschaften ergeben, die lebensbestimmend werden.
Hanspeter Heinz, dem diese Zeilen als Geburtstagsgruß gewidmet sind, gab ein Zeugnis seiner Freundschaft mit Rabbiner Michael A. Signer.2 Der Radius der Theologie und Spiritualität wird weiter, ihre Grundierung differenzierter. Das geschieht in der persönlichen Beziehung mit den Nächsten, im Zusammentreffen von Angesicht zu Angesicht. Gleichsam mit "Kutschen und Wagen" kann man Zuspruch und Zuruf erfahren: aufrichtend, beispielgebend, ermunternd, auf neue Gedanken bringend, mahnend oder tröstend.3 Weil der jüdisch-christliche Dialog immer wieder diese Erfahrungen ermöglicht und oft genug mit Unerwartetem überrascht, deshalb ist er mir so wichtig.
1 Gotthard Fuchs/Hans Hermann Henrix (Hg.), Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig, Frankfurt 1987, 163-183 (dort auch die Zitate).
2 Hanspeter Heinz, "Your Privilege: You Have Jewish Friends": Michael Signer’s Hermeneutics of Friendship, in: Philip A. Cunningham/Joseph Sievers/Mary C. Boys/Hans Hermann Henrix und Jesper Svartvik (Hg.), Christ Jesus and the Jewish People Today, Grand Rapids/Cambridge 2011, 1-13.
3 Weiteres dazu: Hans Hermann Henrix, Zuspruch aus fremden Quellen. Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Judentum und Christentum, Kevelaer 2012.