Salzkörner
Donnerstag, 12. Dezember 2019
Selbst-verantwortet katholisch
Eine Tiefenbohrung.
Entweder ganz katholisch oder gar nicht. So dachte ich im Alter von 15 bis Mitte 20. Glaube ist mehr als Lieder singen, grillen und Geschichten lauschen. Entweder er durchdringt meine ganze Existenz, verlangt mir alles ab und stellt mich vor radikale Entscheidungen oder es ist kein Glaube. Es kann kein bequemes Christentum geben. Das war mein Credo. Dahinter stand eine Überzeugung, die ich bis heute teile: Es ist nicht gleichgültig, wie wir unser Leben führen. Es gibt gute und schlechte Handlungen. Und wir sind selbst dafür verantwortlich, wie wir handeln. Ich wollte richtig handeln. Ich wollte nicht gleichgültig sein und kein oberflächliches Leben führen.
Von der Radikalität, nach der ich mich sehnte, spürte ich in der verfassten Kirche, zumal in unserer Pfarrei, zwischen Pfarrgemeinderatssitzungen, Zeltlager und Pfarrfesten, wenig. Aber ich fand sie in neuen geistlichen Gemeinschaften. Bald war ich wild entschlossen, ins Kloster zu gehen. Einen radikaleren Lebensentwurf konnte ich mir kaum vorstellen. Als ich 15-jährig begann, Klöster zu besuchen, kam ich mir wie ein Alien vor. Im Rückblick sehe ich mich eher wie ein Early Adopter. Denn seitdem haben sich neue geistliche Gemeinschaften und charismatische Bewegungen in deutschen Diözesen stärker ausgebreitet. Sie finden immer mehr Zuspruch unter jungen Menschen und Unterstützung durch Bischöfe.
Der Fehlschluss
Warum ist diese Entwicklung bedenklich? Nicht oberflächlich leben zu wollen, und bereit zu sein, radikale Entscheidungen zu treffen und das alles aus dem Glauben heraus – führt in der katholischen Kirche nicht selten mit einer scheinbar bruchlosen Folgerichtigkeit in ein Leben, in dem Menschen sich anderen unterordnen, und zwar gerade dann, wenn sie deren Entscheidungen nicht verstehen und wenn sie schmerzlich sind. So wie es mir als junger Ordensfrau ging, ging es und geht es unzähligen anderen Menschen in neuen und alten Gemeinschaften und Bewegungen in der Kirche: Ich glaubte – und mir wurde es so gesagt –, dass die mir übergeordneten Schwestern die Stelle Gottes mir gegenüber vertraten; dass radikal glauben auch bedeutet, Gott keine Grenzen zu setzen: Nur weil mein Verstand begrenzt ist, nur weil etwas mir unmöglich erschien, nur weil sich etwas für mich ungerecht anfühlte, konnte es bei Gott doch trotzdem richtig sein, Ausdruck einer tieferen, geheimnisvollen göttlichen Weisheit, die sich mir vielleicht später erschließen würde. Es ging um Vertrauen. Je tiefer ich glauben würde, desto eher würde ich begreifen. Sagte man. Dachte ich. Bedingungslose Selbsthingabe war mein Ideal. Heute weiß ich: Irgendetwas bedingungslos zu tun, ist niemals zu verantworten. Den Maßstab des eigenen Verstandes und des eigenen Fühlens aufzugeben, hat nichts mit Weisheit zu tun. Wer auch immer mit egal welcher wohlklingenden Begründung einen anderen dazu ermutigt, überschreitet eine als unverletzlich zu wertende Grenze und macht sich damit zum Missbrauchstäter.
Missbrauch durch katholische „Gurus“
Wer einmal akzeptiert hat, dass man Gott keine Grenzen setzen darf und dass andere Menschen im Namen Gottes sprechen, ist diesen „Stellvertretern Gottes“ ausgeliefert. Wir kennen das aus Sekten. Aber es gibt auch extreme Formen spiritualisierter Gewalt in der Kirche. Ordensgründer, die sich von ihren Gemeinschaften wie Rockstars feiern lassen, ihre Anhänger sozial isolieren, ihre Arbeitskraft systematisch ausbeuten und sie reihenweise sexuell missbrauchen. Ordensgründer, die Novizinnen glauben machen, Gott wünschte eine sexuelle Beziehung zwischen ihnen (vgl. Reisinger, #NunsToo, StZ 2018). Dann gibt es katholische Bewegungen, in denen Mitglieder Tag und Nacht unentgeltlich arbeiten, ihre innersten Gedanken und Gefühle regelmäßig offenlegen und ihre geistlichen Führerinnen und Führer in alle persönlichen Entscheidungen einbeziehen müssen. Seit ich meine ehemalige Gemeinschaft 2011 verlassen und 2014 ein Buch über meine Erfahrungen geschrieben habe, habe ich viele Menschen kennengelernt, die solche Erfahrungen machen mussten. Viele von ihnen leiden auch Jahre und Jahrzehnte später noch an den Folgen der radikalen Selbstentkernung und systematischen Ausbeutung, die sie erlebt haben.
Leider wächst das Bewusstsein vieler kirchlicher Verantwortlicher, dass sie etwas gegen diese Formen des Missbrauchs unternehmen müssen, bisher nur langsam. Das kann daran liegen, dass viele Mechanismen spirituellen Missbrauchs gut mit einem weit verbreiteten Verständnis des Katholizismus vereinbar sind. Wenn beispielsweise Kindern keine Alternative angeboten wird und sie gegen ihren Widerstand genötigt werden zu beichten. Wenn Erfahrungen von Erniedrigungen durch eine geistliche Vertrauensperson als zwischenmenschliche Missverständnisse bagatellisiert werden oder wenn Männer, die Priester werden wollen, verpflichtet werden, vollkommen enthaltsam zu leben. Das Muster ist in allen diesen Fällen dasselbe wie in den extremen Übergriffen spiritueller Gurus: Mit dem Verweis auf eine religiöse Autorität werden Grenzen überschritten, die wir unter den Bedingungen unserer freiheitlichen gesellschaftlichen Grundordnung vehement verteidigen würden. Leider scheinen viele – auch geistliche Verantwortungsträger – es nach wie vor für vertretbar oder zumindest hinnehmbar zu halten, wenn einige Menschen sich mit dem Verweis auf die eigene religiöse Autorität einen Zugriff und ein Mitspracherecht in der intellektuellen, emotionalen und sexuellen Selbstbestimmung, dem persönlichen Glauben und dem Gewissen anderer anmaßen.
Autorität ist kein Vernunftersatz
Dabei ist Amtsautorität oder Charisma kein Ersatz für ethisches Verhalten und vernünftige Argumente. Im Staat so wenig wie in der Kirche. Doch schon in den oben genannten Beispielen zeigt sich, wo die Sensibilisierung für eine selbstbestimmte Spiritualität ansetzen muss. In (geistlichen) Beziehungen, in denen ein hierarchisches Gefälle angelegt ist (Beichtender – Beichtvater, Exerzitienmeisterin – Exerzitant, Priesterseminarist – Regens etc.), muss es die Aufgabe des vermeintlich Höher-Stehenden sein, dem anderen zu spiritueller Selbstbestimmung zu verhelfen und ihm ein möglichst breites Spektrum an Mitteln dafür zur Verfügung zu stellen. Spirituell selbstbestimmt ist, wer sich seine spirituellen Ressourcen frei suchen und sie so verwenden kann, wie er will und dabei nicht von anderen eingeschränkt wird. Spirituell nicht selbstbestimmt ist im Umkehrschluss, wer seine spirituellen Ressourcen nicht selbst wählen kann, sondern wessen Selbstbestimmung von anderen eingeschränkt oder gar unterdrückt wird. Eine solche Einschränkung ist ein spiritueller Missbrauch. – Wieso nehmen so viele Menschen in der Kirche solche missbräuchlichen und übergriffigen Handlungen hin?
Vielleicht glauben zu viele von uns insgeheim irgendwie selbst, was gerade freiheitlich eingestellten Katholikinnen und Katholiken mit schöner Regelmäßigkeit vorgeworfen wird: dass die wirklich Gläubigen diejenigen wären, die den kirchlichen Autoritäten mit Begeisterung folgen, die die sogenannte Lehre der Kirche „voll und ganz“ annehmen, die keine Grenzen setzen, „nur“ weil diese Art katholisch zu sein „heute schwer verständlich“ oder „manchmal schwierig“ ist. Die anderen – wir – dagegen würden das einfach alles nicht so eng sehen und wären in Glaubensfragen „lau“. Dabei ist es genau andersherum: Radikal kann Glaube nur sein, wenn er selbst verantwortet, vernünftig und ethisch ist, wenn er aus mehr besteht als dem Nachsagen von Vorgegebenem, wenn er sich vor dem eigenen Intellekt nicht verstecken muss und dem eigenen (Mit-)Gefühl keine Gewalt antun muss. Radikal ist Glaube darüberhinaus, wenn er vor Repressalien keine Angst hat und wenn er mutig genug ist, für andere einzustehen und die Stimme zu erheben.
Fazit
In diesem Sinne ist zu wünschen, dass viele radikale Katholikinnen und Katholiken sich auf den Synodalen Weg machen und mit einem radikal vernünftigen und ethisch tragbaren Glauben dafür eintreten, dass menschliche Selbstbestimmung in der Kirche umfassend respektiert wird. Um es frei nach Hannah Arendt zu sagen: „Niemand hat das Recht zu gehorchen.“