Salzkörner

Dienstag, 12. April 2022

Wenn Religion der Ideologie dient

Krieg in der Ukraine: Anfragen an die Kirchen

Seit dem 24. Februar schaut die Welt mit Schrecken auf die Ukraine, wo Russlands Armee Städte, Dörfer, Kirchen und Synagogen dem Erdboden gleichmacht. Menschen werden gefoltert und ermordet. In kirchlichen Kreisen kommt zu diesem humanitären und völkerrechtlichen Schock eine theologische Erschütterung: Eine der größten christlichen Kirchen der Welt, die Russische Orthodoxe Kirche, rechtfertigt diesen Krieg von der Kanzel. Sie instrumentalisiert ökumenische Kontakte und gratuliert den Krieg führenden Offizieren, Ministern und Soldaten.

Man merkt den Kirchen weltweit diese theologische Erschütterung an. Friedensethische Diskussionen werden neu aufgerollt, ökumenische Beziehungen nach Moskau werden überdacht, innerorthodox versucht man eine Abgrenzung zu politischen Orthodoxien, die in den vergangenen Jahrzehnten die Kirchen weltweit herausgefordert haben. Die Anfragen, die der Krieg an die Kirchen stellt, sind vielfältig und sie treffen sie auf verschiedenen Ebenen.

Der Krieg in der Ukraine ist kein Religionskrieg, und dennoch prägt eine religiöse Rhetorik seine Ideologie. Sowohl Vladimir Putin als auch der Patriarch von Moskau, Kyrill, rechtfertigen die Kriegshandlungen der russischen Armee in der Ukraine als Verteidigungskampf gegen äußere Feinde. Während sicherheitspolitisch damit die Nato angesprochen ist, bezieht sich die Verteidigung in religiöser Hinsicht auf westliche Werte, auf Demokratie, individuelle Menschenrechte, Religions- und Meinungsfreiheit, sexuelle Selbstbestimmung.

Kampf gegen das Böse

In den Reden Patriarch Kyrills seit Februar 2022 konstruiert er einen metaphysischen Kampf gegen das Böse auf dem Territorium der Ukraine, den jede*r Gläubige im Gebet führen müsse, besonders aber die russischen Streitkräfte mit aller Waffenhärte. Diese Verknüpfung von militärischer Gewalt und religiöser Legitimierung illustriert die Gefahr eines politisierten Christentums, das die westlichen Kirchen für lange überwunden hielten. Allerdings ist die Verstrickung westlicher Kirchen in die Ideologie eines Kulturkampfes zwischen liberaler und konservativer Welt nicht wegzudiskutieren. Sowohl die katholische Kirche als auch Strömungen in den protestantischen Kirchen haben in den vergangenen Jahren die Zusammenarbeit mit dem russischen Staat und der russischen Kirche nicht gescheut. Ist das ein Grund, warum der Widerspruch gegen die Kriegshetze der Russischen Orthodoxen Kirche so zögerlich und vage bleibt?

Staat und Kirche in Russland eint, dass sie der Ukraine kein Recht auf Selbstbestimmung zuerkennen. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche ist seit dem Ende der Sowjetunion die größte Religionsgemeinschaft der Ukraine, wenn auch seit dem russischen Kriegsbeginn 2014 mit sinkender gesellschaftlicher Zustimmung. Sie gehört zum Patriarchat von Moskau, betont jedoch ihre relativ große Eigenständigkeit. Der einzige Bereich, in dem diese Kirche kategorisch keine eigenständigen Schritte gehen darf, sind die kirchlichen Außenbeziehungen. Das heißt, dass die Ukrainische Orthodoxe Kirche nur als Teil von Delegationen der Russischen Orthodoxen Kirche in ökumenischen und innerorthodoxen Gremien eine Stimme hat.

Ähnlich geht es der seit 2019 selbstständigen Orthodoxen Kirche der Ukraine. Sie wurde durch den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios und bisher drei weitere orthodoxe Kirchen anerkannt, ihre Gründung hat jedoch zu einer schweren innerorthodoxen Krise geführt und eine Einigung in dieser Frage ist nicht in Sicht. So ist auch dieser Teil der ukrainischen Orthodoxie bisher nur als Mitglied in Delegationen des ökumenischen Patriarchats an ökumenischen Kontakten beteiligt. Der massive Einfluss der Russischen Orthodoxen Kirche auf die russische Ideologie und diese ökumenische Isolation der ukrainischen Orthodoxie führen dazu, dass auch die westlichen Kirchen viel mehr über Russland als mit der Ukraine sprechen. Der Vatikan unternimmt, ähnlich wie der Ökumenische Rat der Kirchen, große Anstrengungen, um die Gesprächsfäden mit Moskau nicht abreißen zu lassen und Möglichkeiten eines befriedenden Einflusses der russischen Kirche auszuloten. Beide haben allerdings bisher keine direkten Gespräche mit den orthodoxen Kirchen der Ukraine begonnen. Ist es zu rechtfertigen, den Opfern eines Angriffskrieges eine eindeutige Positionierung ohne Interpretationsspielraum vorzuenthalten, weil man sich an das Gebot kirchlicher Nichteinmischung in orthodoxe Konflikte halten möchte? Und entsprechen die Kirchen im Westen nicht der Strategie des politischen und kirchlichen Moskau, wenn sie die Ukraine in ihrer selbstständigen Identität nicht ernst nehmen?

Mehr lernen über die Orthodoxie

Diese Frage bezieht sich übrigens auch auf die Wahrnehmung orthodoxer Gemeinden hier in Deutschland. Seit Februar 2022 ist vielen Menschen in Deutschland erstmalig bewusst geworden, dass es eine Vielzahl verschiedener Kirchen in direkter Nachbarschaft gibt, die mit den Kirchen in Russland und der Ukraine verbunden sind. Der Strom von Flüchtlingen, Solidaritätsveranstaltungen, aber auch gewaltsame Angriffe und Vandalismus gegen Kirchen zeigen, dass der Krieg Menschen in Deutschland direkt betrifft. Die Differenzierung, welche Kirche – russisch-orthodox, ukrainisch-orthodox, ukrainisch-griechisch-katholisch – sich konkret vor Ort befindet, was die Unterschiede ausmacht und welche aktuellen Herausforderungen durch den Krieg jeweils bestehen, fällt vielen schwer. Um neuen Polarisierungen und Vorurteilen im Umgang mit orthodoxen Gläubigen vorzubeugen, wäre eine Stärkung des Wissens über Orthodoxie in Deutschland, über den Umgang der Gemeinden mit dem Krieg und die Auswirkungen der Krise auf die Orthodoxe Kirche ein Gebot der Stunde – auch für die katholische Bildungsarbeit.

Schließlich zeigen der Krieg in der Ukraine und die Gräuel-taten der russischen Armee die Grenzen der christlichen Friedensethik der vergangenen Jahrzehnte. Die katholische Friedensethik war nie naiv oder blind gegenüber den existierenden Kriegen in aller Welt und hat sich intensiv mit Fragen des gerechten Friedens, der Schutzverantwortung und der Legitimierung militärischer Interventionen auseinandergesetzt. Allerdings sehen wir mit der Aggression Russlands eine grundsätzlich christlich geprägte Gesellschaft inklusive christlicher Militärseelsorge, die zielgerichtet Prinzipien christlicher Friedensethik pervertiert. Ideen von Gerechtigkeit, Schutzverantwortung und militärischem Eingreifen zur Verteidigung angeblich vulnerabler Gruppen werden durch die russische Regierung und die russische Kirche so genutzt, dass die Frage nach Wahrheit keinerlei Konsens mehr herstellen kann. Darüber hinaus führt die katholische und evangelische Friedensethik nicht automatisch zu einem Verständnis orthodoxer Vorstellungen von Frieden und Konflikt.

Diese haben sich gerade in Russland dezidiert von westlichen Konzepten abgesetzt, etwa in ihrer Unterstützung für atomare Waffensysteme und der Verehrung von Kriegsheiligen. Die Expertise zur Friedens- und Konfliktethik der Orthodoxie ist in Deutschland jedoch verschwindend gering und Gesprächskanäle zu diesem Thema wurden in den vergangenen Jahren nicht hergestellt. Führen nicht auch deswegen westliche Aufrufe an die Russische Orthodoxe Kirche, sich gegen den Krieg zu positionieren, ins Leere?

Angesichts der Tragweite des Krieges in der Ukraine und seiner Konsequenzen auch für die Kirchen in Westeuropa müssen diese Anfragen einen angemessenen Raum auf dem Katholikentag im Mai in Stuttgart einnehmen. Ukrainische Stimmen müssen hörbar sein, die Verstrickung der Russischen Orthodoxen Kirche in den anti-liberalen Diskurs muss kritisch diskutiert werden, die Grenzen und Chancen christlicher Friedensethik müssen neu verhandelt werden und auch die Prinzipien kirchlicher Diplomatie und religiös informierter Außenpolitik müssen hinterfragt werden. Der Krieg und seine Folgen werden uns auch in Deutschland und der deutschen katholischen Kirche noch viele Jahre begleiten. Vor allem in der Frage, wie wir Verantwortung angesichts christlich legitimierter Radikalisierung übernehmen wollen.

Autor: Dr. Regina Elsner I Theologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Berlin (ZOiS)

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