Salzkörner

Samstag, 31. Oktober 2015

Wir brauchen eine Theologie der Nachhaltigkeit

Globale Nachhaltigkeitsziele sind Chance und Verantwortung zugleich

Die Globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) gewinnen durch ihre Substanz, ihre Verbindlichkeit und ihren Geltungsbereich an Bedeutung. Sie sind anspruchsvoll. Die meisten der 17 Ziele mit rund 170 Unterzielen sollen bis zum Jahr 2030 erreicht werden. Das ist eine Aufgabe, die uns alle angeht; es ist eine weltweit geteilte Aufgabe. Für die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitspolitik Deutschlands sind sie ein wichtiger Impuls.

Deutschland hat eine Nachhaltigkeitsstrategie, die zentrale Handlungsfelder in den Bereichen Ökonomie, Ökologie und Soziales als Teil der politischen Steuerung formuliert. Die Erfolge politischer Steuerung werden durch das Statistische Bundesamt rückblickend alle zwei Jahre unabhängig überprüft. Alle vier Jahre entwickelt die Bundesregierung ihre Strategie weiter fort. Institutionen zu ihrer Umsetzung sind im Parlament, in Regierung und Gesellschaft über Jahre etabliert. Sie sehen Nachhaltigkeit als eine Querschnitts-, eine Koordinations- und Kooperationsaufgabe zwischen den verschiedenen Fachministerien, gesellschaftlichen Sektoren und föderalen Ebenen. Nachhaltigkeit ist in Deutschland seit 2002 Chefsache. Der Begriff wird allgemein akzeptiert, was auch für die Maxime gilt, ihn konkret auszufüllen, anstatt ihn immer wieder in neuen semantischen Wellen zu diskutieren.

Doch fällt die Bilanz bis heute verhalten aus. Bis heute zeigt die Nachhaltigkeitspolitik Schwächen bei wichtigen Zielen und Anliegen der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und in der Adressierung von nicht nachhaltigen Trends und Zielkonflikten, sei es beim Ressourcenverbrauch, der Biodiversität oder im Hinblick auf eine zukunftsfähige Infrastruktur. Als regulative Leitidee ist die Nachhaltigkeitsfrage Schritt für Schritt über die ökologische Frage hinausgewachsen und weitgehend unwidersprochen, als politischer Grundwert – als Entscheidungs- und Handlungsprinzip ist sie aber noch nicht anerkannt.

Kirche als Ort der Demutsbewegung

Nachhaltigkeitspolitik erfordert das Navigieren durch Veränderungsprozesse. Das Wissen um anstehende Herausforderungen löst bislang nur unzureichende Impulse zu notwendigen Veränderungsschritten aus. Wenngleich in ihnen Chancen liegen, sind sie auch mit Verlust, mit Furcht und mit Zweifeln verbunden. Bleiben sie unartikuliert und ungehört, können sie Abwehr und Verharrung stärken. Mit ihrer Werteorientierung und Unabhängigkeit, die eine kritische Bestandsaufnahme und Reflexion erlaubt, kommt der Kirche hier in der Schaffung gesellschaftlicher Räume eine besondere Rolle zu. Sie schließt die Suche nach neuen Lösungsideen, nach alternativen Lebensmodellen und -weisen zu Wirtschaften und zu Konsum mit ein. Kirche als Ort der Demutsbewegung ist prädestiniert dafür, kultursensibel ethisches Handeln im Hinblick auf die Gesellschaft als Ganzes, die Würde jedes Einzelnen und die Bewahrung der Schöpfung vital zu halten. Das heißt auch, die Entscheidungen von heute auf ihre möglichen Folgewirkungen auf die Lebenswelten anderer im Rahmen globaler Verflechtungen wie auf die kommender Generationen kritisch zu untersuchen.

Die 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung erhebt den Anspruch, niemanden zurückzulassen. Sie fordert unser Wirtschafts- und Konsummodell heraus. Ökologisch, sozial und ökonomisch liegt viel im Argen. Das Niveau unseres Naturverbrauches überschreitet planetare Grenzen. Auch jenseits unserer Grenzen müssen wir andere stärker dazu befähigen, eigene Wege in eine nachhaltige Zukunft zu gehen. Die SDGs sind eine Aufgabe innerhalb Deutschlands und für Deutschlands Rolle in der Welt. In diesem Sinn ist Deutschland ein Land in Entwicklung.

Handeln und Entscheiden

Wir im Nachhaltigkeitsrat haben die Politik dazu aufgefordert, die Institutionen und Verfahren der Nachhaltigkeitspolitik grundlegend zu verbessern und wirkungsvoller zu machen. Es reicht nicht länger aus, Nachhaltigkeit auf die nationalen Belange zu beschränken. Innen- und außenpolitisches Handeln müssen besser miteinander verschränkt und auf Nachhaltigkeit hin ausgerichtet werden; der private Sektor muss stärker eingebunden und bei den Umbauprozessen zum nachhaltigen Wirtschaften unterstützt werden. Die Globalen Nachhaltigkeitsziele werden nur dann ein großer Schritt sein, wenn sie breit umgesetzt werden. Wir sind alle aufgerufen, zu ihrer Umsetzung beizutragen – Staat und Unternehmen, Konsumenten, Bürger und Zivilgesellschaft. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist ihrer Anlage nach das geeignete Instrument, um die 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung in und durch Deutschland umzusetzen. Sie muss nun auf den wachsenden Verantwortungsrahmen ausgerichtet werden. Dazu muss sie das Handeln und Entscheiden auf die ökologische, ökonomische und soziale Dimension der Nachhaltigkeit hin orientieren.

Dialoge sind wesentlicher Bestandteil einer lebendigen Nachhaltigkeitsstrategie. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie muss auch hier besser werden. Mit der Dialogreihe, die die Bundesregierung auf Bundes- wie auf Länderebene zur Fortschreibung der Nachhaltigkeitsstrategie ausrichtet, nimmt sie eine große Hürde, wenn es ihr auch gelingt, Erwartungen klar zu formulieren, Anregungen und Vorschläge aufzugreifen und Zielkonflikte in konstruktive Überlegungen zu überführen. Denn bisherige Teilhabe-Verfahren erreichen noch nicht die gewünschte Breite und Relevanz. Hier ist nicht nur die Befassung im Deutschen Bundestag zu vertiefen. Die Teilhabe von Kommunen, nicht staatlichen Institutionen und Initiativen, von Unternehmen und Verbänden ist deutlich auszubauen.

Raum für Verbesserungen

Kirchen sind zugleich Vorbild und Forum für die Einbindung unterschiedlicher Akteure aus allen Schichten und Segmenten der Gesellschaft. Sie zeichnen sich durch ihre Kompetenz aus, Perspektiven wechseln zu können und damit den Lebenswirklichkeiten von Menschen innerhalb unserer Gesellschaft wie den Erfahrungen aus der internationalen Zusammenarbeit eine Stimme zu geben. Darüber hinaus können und müssen sie Zugänge zu Nachhaltigkeit schaffen und erfahrbar machen, indem sie Gestaltungsansprüche auch durchsetzen. Die Hausaufgaben liegen vor der Tür. So sehr die bestehenden Ansätze und Initiativen wie beispielsweise jene zum Klimaschutz zu begrüßen sind, so besteht nach wie vor viel Raum für Verbesserungen. Ob Immobilienmanagement, Ausgestaltung von Pachtverträgen oder Beschaffungswesen: Ökologische und soziale Kriterien sollten besondere Berücksichtigung erfahren. Die kirchlichen Werke müssen ihre eigenen langjährigen Forderungen praktisch umsetzen, wie den Ausbau erneuerbarer Energieversorgung. Das gilt auch für die internationalen Aktivitäten, insbesondere die Unterstützung der Zivilgesellschaft.

Ein gutes Beispiel für den Beitrag der Kirchen zur Nachhaltigkeit ist seit 2011 der Leitfaden für nachhaltige Geldanlagen, den die Evangelische Kirche Deutschlands mit den Banken und mit den landeskirchlichen Finanzverantwortlichen entwickelt hat. Es ist erfreulich zu beobachten, wie er sich nach und nach durchsetzt. Mittlerweile wurden rund 32 Milliarden Euro danach angelegt. Das ist viel Geld in so kurzer Zeit. Nachhaltige Geldanlagen belohnen auch jene Unternehmen, die Nachhaltigkeit zu ihren Kernaufgaben zählen. Damit diese Pflanze aber wachsen und sich verzweigen kann, sind transparente und überprüfbare Informationen über die Fonds und Unternehmen, in die investiert werden soll, unverzichtbar. Auch für die Kreditvergabe durch Kirchenbanken werden solche Informationen immer wichtiger. Das ZdK und die Deutsche Bischofskonferenz haben kürzlich ebenfalls eine Orientierungshilfe zum ethisch-nachhaltigen Investment veröffentlicht.

Nachhaltigkeit macht auch vor der Kernkompetenz der Kirchen nicht halt. Wir brauchen eine Theologie der Nachhaltigkeit. Inner-institutionelle Reflexionsprozesse sind dafür eine wertvolle Hilfe. Die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit erfordert es, sich von liebgewordenen überkommenen Grundsätzen und Illusionen zu befreien und sich neuen Fragen und Herausforderungen zu stellen – nicht nur in der aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion, sondern auch in der Interpretation und tiefen Auseinandersetzung mit den Grundfesten des Glaubens.

 

 

 

 

 

Autor: Marlehn Thieme Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung

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