Christliche Werte und öffentliche Verantwortung der Kirchen

Vortrag von Prof. Hans Joachim Meyer auf dem Renovabis-Kongress am 6. September 2022

Unser Thema „Christliche Werte und öffentliche Verantwortung der Kirchen" beschreibt einen wichtigen Aspekt der Wirkung des Glaubens und der Rolle der Kirche in der Gesellschaft, genauer gesagt: Für das öffentliche Wohl. Gewiss ist jedes einzelne Leben im Glauben ein Segen für andere und damit ein öffentlicher Segen. Uns geht aber jetzt um das, was die Kirche und die Christen unmittelbar für das allgemeine Wohl der Gesellschaft tun und tun müssen. Diesen Dienst zu ermöglichen und zu fördern, gehört zu den wichtigsten Aufgaben von RENOVABIS. „Christliche Werte und öffentliche Verantwortung der Kirche" ist nicht zuletzt ein konkretes und eminent praktisches Thema. Ich will daher einleitend in drei Schritten zunächst den europäischen Kontext dieses Themas umgrenzen.

Blicken wir als erstes auf jene europäischen Gesellschaften, die schon vor 1989 in einer freiheitlichen Ordnung lebten. Trotz großer Unterschiede, die sich aus Geschichte und konfessioneller Eigenart der verschiedenen Länder ergeben, wird man sagen können: Die fest mit der Kirche verbundenen Christen erfahren sich auch dort zunehmend als Minderheit. Die Gesellschaft weist zwar noch eine mehr oder weniger starke christliche Prägung auf, aber das Christentum ist unverkennbar nur eine ihrer geistigen Traditionslinien. Für die Stellung und das Selbstverständnis der Christen ist bedeutsam, dass es in der Geschichte dieser Gesellschaften zwar Kontinuitätsunterbrechungen gegeben hat, aber keine radikalen Traditionsbrüche. Der Weg der Kirchen in eine freiheitliche Staats- und Gesellschaftsordnung war oft schmerzhaft, aber heute sieht sich die Kirche überwiegend im Kontext der Freiheitsgeschichte und verfügt über Erfahrungen im gesellschaftlichen Dialog und im partnerschaftlichen Verhältnis von Kirche und Staat. Daher fühlen sich die Christen wie selbstverständlich als Teil der Gesellschaft. Das gibt ihnen Sicherheit, kann aber auch dazu führen, die Bedeutung einer klaren Kontur des Christlichen zu unterschätzen und gleichsam eher aus der Gesellschaft auf die Kirche zu blicken als aus der Kirche auf die Gesellschaft.

Dagegen haben sich die Christen in jenen europäischen Gesellschaften, die bis 1989 unter kommunistischer Herrschaft standen, über mehrere Generationen als benachteiligt oder sogar verfolgt, jedenfalls als nicht zur offiziellen Gesellschaft gehörend erfahren. Sie waren überdies vielfach eine Minderheit oder wurden dazu gemacht. Über den Zeitraum von mehreren Generationen wurde von den in Staat und Gesellschaft Mächtigen eine zur Gewaltanwendung tendierende Politik des radikalen Traditionsbruchs betrieben, die - trotz mancher Unterschiede in den betreffenden Ländern - gegen Kirche und Glauben gerichtet war. Den Christen war eine aktive und selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt, und sie sollten von der geschichtlichen Entwicklung ausgeschlossen werden.
Dafür erlebten die Christen die Kirche als einen Raum der Zuflucht und der Zusammengehörigkeit, ja, als einen Ort der Sehnsucht nach Freiheit und damit als Alternative zur kommunistisch beherrschten Öffentlichkeit. Erst ab 1989/90 konnten die Kirchen und die Christen Erfahrungen im gesellschaftlichen Dialog und Engagement und im wohlwollenden Gegenüber von Staat und Kirche machen, wenngleich von Land zu Land im unterschiedlichen Grade. Die neue Situation empfinden manche Christen und kirchliche Amtsträger gleichwohl nicht nur als befreiend, sondern auch als belastend und enttäuschend. Die lange ersehnte Freiheit wird jetzt, da sie errungen worden ist, auch als unverständlich, wenn nicht sogar als bedrohlich erfahren. Daher wird Abwehr gesellschaftlicher Neuentwicklungen nicht selten christlich motiviert, und es entsteht gelegentlich die Tendenz, an Stelle des Kommunismus den Liberalismus als neuen Widerpart zu betrachten.

Nach meinem Eindruck wird dabei nicht immer hinreichend unterschieden zwischen der freiheitlichen Gesellschaftsordnung des Westens und einem stark individualistisch orientierten Liberalismus als einflussreicher Richtung im Westen. Zum Wesen der geistigen und gesellschaftlichen Freiheit gehört die Pluralität der Überzeugungen und die Offenheit gegenüber neuen Möglichkeiten und Entwicklungen. Im Gegensatz zum marxistisch-leninistischen Sozialismuskonzept kennt die freiheitliche Gesellschaftsordnung für ihre Zukunft also keine feststehende Perspektive, sondern jeder gemeinsame Schritt erfolgt im Ergebnis von öffentlichen Debatten und sich daraus ergebenden Mehrheitsentscheidungen. Dazu gehört nicht nur die Art und Weise, wie etwas geregelt wird, sondern zunehmend auch die Frage, ob etwas überhaupt verbindlich zu regeln ist. An dieser Frage des Maßes von gesellschaftlicher Gemeinsamkeit setzt der individualistisch orientierte Liberalismus an, da er prinzipiell jede Art von überindividueller Bindung und Regelung als freiheitsfeindlich verdächtigt und nur ein unbedingt notwendiges Minimum an gesellschaftlicher Gemeinsamkeit akzeptieren will. Die Unterscheidung von freiheitlicher Gesellschaft und liberalistischer Gesellschaftsrichtung ist, wie uns die Geschichte zeigt, von nicht zu überschätzender Bedeutung für das Verhältnis der Kirche zur geistigen und gesellschaftlichen Freiheit. Denn nach christlicher Überzeugung kann die Mitmenschlichkeit einer Gesellschaft und ihre Zukunft nicht allein durch individuelles Handeln garantiert werden, sondern es bedarf des öffentlichen Handelns des Gesetzgebers und der Politik, das sich wiederum auf gemeinsame Wertevorstellungen in der Gesellschaft stützen muss. Was die Unterscheidung zwischen Liberalität und Liberalismus heute freilich erschwert, ist die Offensive eines schrankenlosen Individualismus, der auf das Scheitern kollektivistischer Gesellschaftsmodelle verweisen kann und sich durch die abnehmende Rolle der Nationalstaaten ermuntert fühlt.

Für beide Teile Europas stellt sich heute die Aufgabe, zu einer europäischen Gesellschaft zusammenzuwachsen. Diese künftige europäische Gesellschaft kann gewiss keine homogene Größe, sondern nur eine Einheit in der Vielfalt sein. Sonst würde sie ihrer Geschichte nicht entsprechen und wäre nur eine Fiktion. Ohne eine europäische Gesellschaft und eine gemeinsame Öffentlichkeit wird es jedoch in Wahrheit niemals eine auf Dauer lebensfähige Europäische Union geben, wie immer einmal deren rechtliche Ordnung und deren politisches Gesicht aussehen werden. Ohne Zweifel haben die beiden Teile Europas auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft bisher sehr unterschiedlich lange Strecken zurückgelegt. Im Westen vollzieht sich der Prozess der europäischen Integration schon seit mehreren Jahrzehnten. Gleichwohl bleibt noch Wesentliches zu tun. Das Maß der wechselseitigen Vertrautheit zwischen den west-, süd- und nordeuropäischen Gesellschaften, die schon lange am Integrationsprozess beteiligt sind, wird oft überschätzt. Es gibt erst Ansätze zu europäischen Debatten. Und wie das relativ geringe Interesse an den Wahlen zum Europäischen Parlament und an dessen Verhandlungen zeigt, gibt es erst Anfänge eines europäischen Bewusstseins.

Ungleich wichtiger als eine gewisse Tendenz zur westeuropäischen Selbstgefälligkeit scheint mir jedoch, dass im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts neue europäische Herausforderungen entstanden sind oder erheblich an Gewicht zugenommen haben. Dazu gehört, erstens, die Globalisierung, das heißt die zunehmende Verflechtung der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen. Sie bedingt, dass Entscheidungen und Entwicklungen in einem Land sofort Auswirkungen auf viele andere Länder haben, ohne dass es möglich ist, diese Prozesse und ihre sozialen und politischen Folgen innerhalb der einzelnen Länder durch administrative oder gesetzgeberische Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Die Globalisierung hat zwar durchaus unterschiedliche Konsequenzen im Westen und im Osten Europas. Sie sind im Osten weitaus heftiger und belasten zusätzlich die ohnehin schon schwierige Transformation zur Marktwirtschaft und zu einer rechtsstaatlichen Demokratie. Dennoch ist dies auch für den Westen eine neue Rahmenbedingung, deren Beginn im Großen und Ganzen mit der revolutionären Wende im Osten Europas zusammenfiel. Daher markiert das letzte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts auch für den Westen Europas das Ende einer Epoche, nämlich der einer mehr oder weniger stetigen Aufwärtsentwicklung, an der die meisten Menschen Anteil hatten. Die zweite große Herausforderung ist die zunehmende Individualisierung der Lebensauffassungen, Lebensstile und Lebensformen. Denn dies reduziert ganz zwangsläufig den gesellschaftlichen Wertekonsens und schwächt die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstregulierung in einem Moment, wo die Handlungsfähigkeit des Staates abnimmt. Und drittens hat das Ende des Kalten Krieges auch das Ende eines waffenstarrenden Friedens gebracht, der zwar ständig bedroht war, aber doch in Europa fast ein halbes Jahrhundert geherrscht hat. Denn in dieser Zeit drohte der Grundkonflikt zwischen den USA und der Sowjetunion jeden Krieg zu einem Weltkrieg zu machen. Jetzt sind lokale Kriege wieder möglich, wie die traurige Realität uns zeigt. Dadurch ist ein Maß von außen- und sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit gefordert, zu der die europäischen Staaten und die europäischen Gesellschaften bisher weder strukturell noch mental in der Lage sind. Oder um es klarer zu sagen: Die Rolle der Europäischen Union bei der Wahrung oder Wiederherstellung einer europäischen Friedensordnung ist ziemlich erbärmlich Zu viele europäische Staaten klammern sich an ihre immer bedeutungsloser werdende Souveränität und, zu viele europäische Bürgerinnen und Bürger verweigern sich aus Eigensucht oder aus gutherziger Naivität der Realität. Und diese Realität heißt im Klartext, dass die Europäische Union nur dann den europäischen Frieden bewahren kann, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger glaubhaft bereit sind, dafür Opfer zu bringen und notfalls auch zu kämpfen und zu sterben. Vor dieser Wahrheit kann man sich weder durch wortreiche Resolutionen noch durch Beschimpfungen der Politik und auch nicht durch Gesten wie das Anzünden von Kerzen auf Dauer verstecken.
Europa ist zur Zeit zugleich in einer Verfassungsdebatte und in einer Orientierungskrise. Das ist, wie die Geschichte lehrt, eine schlechthin ideale Situation für eine engagierte Debatte über die geistigen Grundlagen des künftigen Europas, vorausgesetzt, es gelingt, ethische Prinzipien, geschichtliche Erfahrung und politische Vernunft miteinander zu verbinden. Sollten dafür die Christen in Europa nicht die besten Voraussetzungen haben?

Was sind denn nun aber die christlichen Werte, die wir in diese Debatte einbringen wollen, damit sie das gesellschaftliche Miteinander in Europa und in unseren Ländern prägen und mitbestimmen? Niemand wird von mir erwarten, dass ich hier jetzt einen Katalog solcher Werte präsentiere. Viel wichtiger scheint mir, über den Begriff der christlichen Werte zu sprechen. Denn ein solches Wort hat ja nur Sinn, wenn es nicht einfach nur ein anderes Wort ist für den Glauben oder die Frohe Botschaft. Da ist es zunächst einmal wichtig, sich der Einsicht zu erinnern, dass der Glaube weder ein politisches Programm noch ein soziales Modell ist. Und das auch niemand zu den Evangelien greifen kann, um daraus eine Staatsverfassung zu formulieren. Der Glaube ist eine Wahrheit, die von der Geschichte unabhängig ist. Und die Frohe Botschaft ist den Menschen aller Zeiten und Völker gesagt. Der Glaube wirkt aber in konkreten Perioden der Geschichte, und die Frohe Botschaft ist ein Ruf und ein Zuspruch, dem wir in dieser Zeit folgen sollen. Glaube und Geschichte, Evangelium und menschliches Handeln gehören zusammen, aber sie sind nicht das Gleiche, sondern bilden ein Spannungsfeld. In diesem Spannungsfeld stehen auch die christlichen Werte, die in einer bestimmten geschichtlichen Zeit wirken. Sie sind geschichtlich konkrete Schlussfolgerungen aus dem Glauben und entstehen aus der Auseinandersetzung mit der immer neuen Frage, wie der Glaube in unserem Leben und durch unser Leben Gestalt annehmen kann. Das ist eine Frage nicht nur an jeden Einzelnen, sondern auch an die Kirche als eine Gemeinschaft von Glaubenden, die durch die Geschichte zu Gott unterwegs ist und sich auf diesem Weg auch ständig wandeln muss, um ihren Auftrag zu erfüllen. Auf diesem Weg durch die Geschichte muss die Kirche immer wieder um die Frage ringen, wie der Glaube verkündet und gelebt werden muss. Dazu sind vorwärtsführende Impulse meist aus der Mitte der Kirche gekommen. Die Entscheidungen darüber, was der Glaube für die Menschen und für die Gesellschaft bedeutet, fallen immer in einer bestimmten Zeit und stehen auch zu dieser Zeit in einer festen Beziehung. Ich will das an Beispielen erläutern:

Einer der zentralen Begriffe in der heutigen europäischen Debatte ist der des Schutzes des menschlichen Lebens und der Menschenwürde. Die Debatte kreist um die Frage, wie rechtliche Normen, die das Leben und die Würde des Menschen schützen, auszudeuten oder zu definieren sind. Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet z. B.: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Diese rechtliche Norm ist 1949 formuliert worden als Summe der bösen und bitteren Erfahrungen, die in Deutschland mit einer staatlichen Ordnung gemacht worden waren, die ganz ausdrücklich die Rechte des Menschen negierte und das ganze Volk einem diktatorischen Willen unterwarf. Zugleich bekannten sich die Schöpfer des Grundgesetzes damit zur Tradition der Freiheit in der Geschichte Europas und der westlichen Welt. Die Frage ist jedoch, welche grundsätzlichen Überzeugungen in dieser Freiheitsgeschichte zum Ausdruck kommen. Für sich genommen ist nämlich der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde nur eine Behauptung. Für Christen ist es jedoch die notwendige Konsequenz aus ihrem Glauben an Gott als den Schöpfer aller Menschen und an Jesus Christus, der alle Menschen erlöst hat. Ohne ein solches Fundament hängt der Satz in der Luft. Allerdings müssen Christen bedenken, dass Menschen auch aus anderen religiösen oder philosophischen Überzeugungen zu der Einsicht kommen können, dass die Menschenwürde unantastbar ist. Und die Christen dürfen nicht vergessen, dass sie selbst erst in einem schwierigen geschichtlichen Prozess zu der Erkenntnis gelangten, dass es ihren Glauben angemessen ist, eine solche rechtliche Norm zu formulieren. Den Grundsatz, dass die Menschenwürde am Besten durch eine freiheitliche Verfassung zu schützen ist, hat die Katholische Kirche bekanntlich nicht immer verfochten. Trotzdem besteht für Christen heute eine wesentliche Beziehung zwischen der Glaubenswahrheit von der Gotteskindschaft und der Erlösung aller Menschen und ihrem politischen Willen, die Menschenwürde rechtlich zu schützen.

Was dem Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde jetzt hohe Aktualität gibt, sind die Fragen nach dem Beginn und dem Ende des Lebens. Nach christlicher Überzeugung ist das Leben ein Geschenk Gottes, über das der Mensch weder am Anfang noch am Ende verfügen darf. Wann aber z. B. das Leben beginnt, welche Bedeutung also - konkret gesprochen - der Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle zukommt - können wir nicht wissen, ohne die Erkenntnisse, die die wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet erbracht hat. Das bedeutet nicht, dass der christliche Glaube vom Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis abhängig ist. Was jedoch der Glaube für eine konkrete Frage des Lebens bedeutet, können wir erst sagen, wenn uns der Sachverhalt, aus dem sich die Frage ergibt, bekannt ist. Und auch die Beziehung zwischen der Unantastbarkeit der menschlichen Würde und der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ist für die Gegenwart eigentlich nur mit der Kenntnis der wissenschaftlich festgestellten Sachverhalte beantworten. Das bedeutet wiederum nicht, dass wir die Antwort allein aus der Wissenschaft erhalten oder gar aus dem, was ringsum in der Gesellschaft über die wissenschaftlich festgestellten Sachverhalte gedacht wird. Sondern wir werden die Antwort aus dem Glauben heraus nur finden können, wenn wir die Frage sachgerecht formulieren.

Im geistigen und politischen Leben wirken die Werte und Wahrheiten des Glaubens also in enger Wechselwirkung mit dem, was die Christen als Menschen in ihrer Zeit wissen und denken. Dem christlichen Wert der unbedingten Achtung der Menschenwürde können sie nur dann gesellschaftliche Geltung verschaffen, wenn sie als Zeitgenossen handeln und diesen Wert in den Zusammenhang ihrer geistigen und politischen Gegenwart einbringen. Für die Menschenwürde kann man wirkungsvoll nur in der Geschichte und nicht außerhalb der Geschichte eintreten. Darum hängt es auch ganz generell, aber insbesondere in einer freiheitlichen Gesellschaft, vor allem von den Laien als den in der Welt lebenden und tätigen Christen, ab, wieweit die Gesellschaft christlich geprägt ist oder nicht. Und eine solche Aufgabe können sie nicht erfüllen, wenn sie sich nur als Hörende und Ausführende fühlen oder sie so behandelt werden, sondern dafür müssen sie eigenständig denken und eigenverantwortlich handeln.

Das lässt sich an der Gewissensfreiheit zeigen, die eine wichtige Konsequenz aus dem Respekt vor der Menschenwürde ist. Heute gilt mit Recht Papst Johannes Paul II. als einer der führenden Mahner und Anwälte in der Welt für die Gewissensfreiheit. Papst Pius IX. hatte 1864 in seinem Syllabus errorum die Gewissensfreiheit noch als Wahnsinn verurteilt. Das mag man erklären mit den erschreckenden Erfahrungen der Kirche in der Französischen Revolution, aber das macht aus einem fatalen Irrtum keine Wahrheit. Bedeutsamer scheint mir freilich, dass katholische Christen, die sich damals in verschiedenen Ländern um die Freiheit für Glauben und Kirche in einer freiheitlichen Verfassungsordnung mühten, sehr bald für die Gewissensfreiheit aller Menschen eintraten - zunächst in der politischen Praxis, aber dann auch bald in ihrer politischen Programmatik. Jedenfalls ist es diesen Laien zu danken, dass die Gewissensfreiheit schon lange als ein christlicher Wert galt, bevor sie nach leidenschaftlichen Auseinandersetzungen auch vom II. Vatikanischen Konzil als ein solcher ausdrücklich anerkannt wurde.

In gleicher Weise wie die Menschenwürde könnten wir hier weitere christliche Werte durchbuchstabieren. Ich muss mich aus Zeitgründen bei den beiden folgenden Beispielen auf wenige Andeutungen beschränken. Ein wesentliches Feld christlichen Handelns sind Ehe und Familie. Hier gibt es für Christen grundlegende Werte, die sich unmittelbar aus der Glaubensbotschaft ergeben. Auch wenn es in bezug auf die Sakramentalität der Ehe keine Übereinstimmung mit unseren evangelischen Geschwistern gibt, so gelten doch allen Christen die eheliche Treue, die Erfüllung der ehelichen Gemeinschaft in Kindern und die wechselseitige Verantwortung der Generationen in der Familie als Tugenden. Jeder weiß, wie sehr dies heute im Kontrast zur gesellschaftlichen Wirklichkeit steht. Dennoch darf man nicht übersehen, dass auch die christlichen Werte von Ehe und Familie nur lebendig bleiben, wenn sie sich nicht außerhalb der Geschichte stellen. Das gilt vor allem für die gesellschaftliche Stellung der Frau. Es wäre absurd, wollte man die Bedeutung der Familie gleichsam gegen die Gleichberechtigung der Frau retten und sich dafür scheinbar christlicher, tatsächlich aber rein traditioneller Argumente bedienen. Ohne die Wahlfreiheit der Frau zu gefährden, sich ganz auf ihre Aufgabe als Mutter zu konzentrieren, wenn sie dies wünscht, muss es für Frauen real möglich sein, Mutterschaft und Beruf zu verbinden. Genauer gesagt, die Bedeutung der Familie wird nur bewahrt und wieder gefestigt, wenn es ein gesellschaftliches Ideal und eine gesellschaftliche Realität wird, Elternschaft und Beruf zu verbinden. Dazu bedarf es nicht nur fördernder rechtlicher und struktureller Rahmenbedingungen, sondern auch eines Gesinnungswandels bei den Vätern, ebenfalls Elternschaft und Beruf miteinander zu verbinden. Hier ein gutes Beispiel zu geben, wäre eine christliche Aufgabe.

Ein anderes Feld ist das der sozialen Gerechtigkeit. Hier gibt es auch unter Christen eine legitime Pluralität der Meinungen über die richtigen Proportionen zwischen privater Initiative und öffentlicher Verantwortung, z. B. in der Wirtschaft und in der Kultur. Entsprechendes gilt für das rechte Maß von garantierter sozialer Sicherheit, einerseits, und eigenverantwortlichem Handeln des Einzelnen, andererseits. Trotzdem ist es für Christen ganz grundsätzlich nicht hinnehmbar, wenn es Menschen real nicht möglich ist, menschenwürdige Existenzbedingungen zu erreichen, oder wenn ihnen keine gleichwertigen Erfolgs- und Aufstiegschancen geboten werden. Im Einsatz für soziale Gerechtigkeit kommt der katholischen Soziallehre eine herausragende Rolle zu. Aber auch in diesem Falle, wo die Kirche für eine bestimmte geschichtliche Zeit, nämlich für eine Gesellschaft von Kapital und Arbeit, eine eigene Lehre entwickelte, gibt es ein geschichtlich begründetes Spannungsfeld im Maß des heute noch Gültigen. Schwerlich würde man heute noch auf den Gedanken kommen, die stark ständestaatlichen Modelle, wie sie etwa in der Enzyklika Quadrogesimo anno vorgestellt werden, zur Grundlage praktischer Politik zu machen. Dagegen sind die Grundsätze der katholischen Soziallehre, vor allem die Grundsätze von Solidarität und Subsidiarität und ihr wechselseitiges Verhältnis nach wie vor aktuell. Man wird sagen können, dass es ein solcher grundsatzorientierter, aber praktisch flexibler Umgang war, der die katholische Soziallehre nach dem II. Weltkrieg in Westeuropa so erfolgreich gemacht hat.

Was diese Beispiele des gesellschaftlichen Engagements von Christen zeigen, das ist die Unsinnigkeit der Behauptung, Religion sei Privatsache. Bis heute ist dieser Satz in den westlichen Gesellschaften Europas der Kampfruf eines militanten Laizismus, der die Kirche als Institution und Gemeinschaft der Gläubigen aus dem öffentlichen Raum verdrängen will und der nur bereit ist, Religion als Meinung und Lebensprinzip des Einzelnen hinzunehmen. Sobald es jedoch um öffentliche Entscheidungen geht, wie z. B. jetzt bei der sogenannten verbrauchenden Embryonenforschung, wird die Kirche auf die Amtsträger reduziert und diesen das Recht bestritten, politische Forderungen zu erheben oder an der Debatte über Gesetzgebung und Gesetzesinterpretation teilzunehmen. Den Laien wird immerhin zugestanden, für ihr persönliches Leben als Sondergruppe solchen Auffassungen zu folgen. Vertreten sie diese aber gemeinsam in der politischen Meinungsbildung, dann wird ihnen gern unterstellt, sie stünden unter der Vormundschaft geistlicher Amtsträger.

Die Erfahrung im östlichen Teil Europas ist ähnlich aber damit nicht identisch. Hier waren Lenin und seine Anhänger und Nachfolger nicht einmal bereit, das Prinzip „Religion ist Privatsache" zu akzeptieren. Sie wollten ja nicht nur eine neue Gesellschaft, sondern auch einen neuen Menschen, und für beide Ziele galt Religion als schädlich. Deshalb wurden Religion und Kirche nur für eine Übergangszeit noch geduldet. Die Toleranz für Religion und Kirche war lediglich taktisch, deren endgültige Beseitigung blieb dagegen prinzipiell das Ziel. Am deutlichsten konnte man das in der Sowjetunion sehen, wo die Kirchen von der kommunistischen Führung als staatliche Museen behandelt wurden - mit lebendem Inventar in Gestalt der Geistlichen und Gläubigen, deren Zahl stetig und notfalls mit Gewalt zu reduzieren war. Es ist klar, dass unter solchen Bedingungen eine rechtlich verbindliche und tatsächlich auch praktizierte Anerkennung des Prinzips „Religion ist Privatsache" für die Gläubigen ein Vorteil für ihr persönliches Leben gewesen wäre. Aus dem öffentlichen Raum hatten die leninistischen Marxisten jede eigenständige Regung ohnehin ausgeschlossen.

Im geschichtlichen Vergleich war die sozialistische Gesellschaft nur eine Kümmerform von Gesellschaft. Die kommunistische Ideologie war zwar angetreten, den Staat abzuschaffen und eine klassenlose Gesellschaft zu errichten. Nachdem die Kommunisten den Staat in die Hand bekommen hatten, machten sie sich jedoch daran, die Gesellschaft zu verstaatlichen und jedes Leben einer zentralistischen Kommandostruktur zu unterwerfen. Die freiheitliche Gesellschaft ist dagegen - jedenfalls potentiell - eine voll entfaltete Gesellschaft. In ihrem öffentlichen Leben können Glauben und Kirche jedoch nur zur Wirkung kommen, wenn die Christen dazu bereit und in der Lage sind, die Herausforderungen einer solchen Gesellschaft anzunehmen, und sich nicht in eine persönliche Glaubensnische zurückziehen. Selbstverständlich ist auch in der freiheitlichen Gesellschaft der Glaube eine zutiefst persönliche Sache. Und wenn der Glaube persönliches Lebensprinzip ist, wirkt sich dies auch in der Haltung gegenüber dem jeweiligen konkreten Mitmenschen aus. Aber dem Glauben geht es nicht nur um die Beziehung zum je konkreten Mitmenschen, sondern er will das gesellschaftliche Leben prägen. Deshalb muss der christliche Glaube als eine öffentliche Sache begriffen werden und die Christen müssen den Öffentlichkeitsanspruch des Christentums offen und mutig vertreten. Nichts wäre dafür schädlicher als die nostalgische Verklärung des den Christen früher durch die kommunistische Herrschaft aufgezwungenen Sakristeichristentums, wo die Dinge angeblich klar und einfach waren. Wenn man unter sich ist und die Macht draußen in der Welt als feindlich erlebt wird, liegt es nahe, in den Kategorien von Schwarz und Weiß zu denken. Die Wirklichkeit des öffentlichen Lebens, insbesondere in einer freiheitlichen Gesellschaft, ist aber vielgestaltig und widersprüchlich. Schwarz-Weiß-Bilder sind daher zwar bequem, aber fast immer falsch. In Wahrheit geht es heute darum, dass die Christen heute öffentlich handeln und öffentliche Entscheidungen treffen müssen. Unter der kommunistischen Herrschaft, waren die Dinge deshalb klar und einfach, weil die Christen keine öffentlichen Entscheidungen treffen durften und darum auch keine Entscheidungen zu treffen brauchten. Einen solchen Zustand sollte sich niemand zurückwünschen, auch wenn die freiheitliche Gesellschaft komplex und risikoreich ist.

Christliche Werte stehen stets im Wettstreit und im Konflikt mit anderen Wertvorstellungen - im Leben jedes Einzelnen wie in der Öffentlichkeit. Die geistige Pluralität ist kein Schönheitsfehler, sondern ein Wesenmerkmal der freiheitlichen Gesellschaft. Es ist ein Wesensmerkmal, das Christen ganz ausdrücklich akzeptieren müssen. Zwar wahr macht uns nur die Wahrheit des Glaubens wirklich frei. Aber zu diesem freimachenden Glauben können wir uns auch nur in Freiheit entscheiden, weil ein Glaube aus Zwang oder Unkenntnis kein wirklicher Glaube wäre. In der Freiheit ringen unterschiedliche Auffassungen vom Leben und Lebenssinn miteinander und mithin auch unterschiedliche Haltungen zu Gott und zum Mitmenschen. Was in der freiheitlichen Gesellschaft prägend oder verbindlich ist, entscheidet sich in diesem ständigen geistigen und politischen Diskurs. Und es liegt im Wesen eines freiheitlichen Staates, Wertehaltungen nicht erzwingen zu wollen, sondern sie vorauszusetzen. Dennoch ist ein Wertekonsens für die innere Stabilität und für die Zukunftsfähigkeit der freiheitlichen Gesellschaft unverzichtbar. Freilich darf man sich trotz der Bedeutung eines solchen Wertekonsens über sein Wesen keine Illusionen machen. Denn erstens handelt es sich meist nur um einen Minimalkonsens, und zweitens beruhen die in diesem Konsens enthaltenen Wertegrundlagen einer Gesellschaft nicht auf einem stabilen und darum verlässlichen Vertrag oder Kompromiss. Der Wertekonsens ist nichts anderes als das dynamische und darum stets veränderbare Produkt des ständigen Wertediskurses. Er ist also das Ergebnis von Debatte und Dialog. Um so wichtiger ist es für die Christen, sich in diesem Wertediskurs wachsam und offensiv zu engagieren. Nur vom christlichen Engagement, insbesondere vom Engagement christlicher Laien, hängt es ab, wie weit der gesellschaftliche Wertekonsens in Gegenwart und Zukunft christlich geprägt ist. Das bedeutet freilich nicht, dass sich Christen vom gesellschaftlichen Wertekonsens, auch nicht von seiner rechtlichen Fixierung in Gesetzen, ihrerseits abhängig machen dürfen. Wenn z. B. die Mehrheitsmeinung den Schwangerschaftsabbruch oder die sogenannte aktive Sterbehilfe akzeptiert oder sogar für rechtens erklären lässt, so kann dies kein Grund für Christen sein, auf ihre Wertevorstellungen zu verzichten oder sie gering zu achten. Auch in diesem Sinne gilt das Prinzip der Freiheit: Der christliche Glaube hängt nicht von weltlichen Beschlüssen ab. Weder der Staat noch die vorherrschende Meinung kann den Christen vorschreiben, was sie für richtig zu halten haben. Übrigens nehmen das innerhalb der für alle geltenden Verfassung auch die Anhänger anderer Überzeugungen für sich in Anspruch.

Haben wir uns bisher mit den christlichen Werten als dem Inhalt der öffentlichen Verantwortung der Kirchen beschäftigt, so müssen wir uns jetzt der Wirkungsweise dieser öffentlichen Verantwortung zuwenden. Wir kennen Begriffspaare wie „Kirche und Gesellschaft" oder „Kirche und Welt". Sie sind unzweifelhaft nützlich und wertvoll, aber sie laden auch ein zu einem Missverständnis. Gewiss ist die Kirche eine unabhängige Größe, weil sie sonst ihrem Auftrag, den Glauben zu verkünden und die Sakramente zu spenden, nicht unverkürzt nachkommen könnte. Denn die Kirche ist vor allem eine Stiftung Jesu Christi. Damit weist sie über sich selbst hinaus, aber sie bleibt dennoch Teil der Geschich

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

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