Politische Erklärung des ZdK

des Hauptausschusses des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) aus Anlass der Wahlen zum 15. Deutschen Bundestages am 22. September 2022

Politische Erklärung des ZdK aus Anlass der Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag am 22. September 2002

Einleitung

Verantwortung übernehmen für die Demokratie

In unserer freiheitlichen Demokratie werden die Grundentscheidungen zukünftiger Politik von den wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern getroffen. Die bevorstehenden Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag rufen deshalb allen Bürgerinnen und Bürgern - ob sie politisch aktiv sind oder nicht - ihre gemeinsame demokratische Verantwortung ins Bewusstsein.

Die Demokratie lebt dabei davon, dass Bürgerinnen und Bürgern der Zugang zur politischen Teilhabe - zu Parteien, Parlamenten, Regierungen und Ämtern - offen steht. Damit Politik wirklich eine Sache der gesamten Bürgerschaft ist und bleibt, müssen sich aber auch immer wieder Bürgerinnen und Bürger finden, die bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen. Zur politischen Verantwortung der Inhaberinnen und Inhaber von Ämtern gehört umgekehrt das Wissen, dass Macht in der Demokratie nur auf begrenzte Zeit verliehen wird.

Grenzen der Politik

Unlust und überzogene Kritik an Politik in der Demokratie helfen nicht. Denn es gibt auch eine überzogene Erwartungshaltung gegenüber Politik und staatlichem Handeln. Es hat sich in unserer Gesellschaft die Auffassung weit verbreitet, alle Probleme ließen sich lösen, wenn nur die „richtige“ Politik gemacht wird und die entsprechenden Forderungen an die Politik gestellt werden. Das ist realitätsfremd und macht Politik sogar unmöglich. Wenn die Bürgerinnen und Bürger zu viel erwarten und die Politikerinnen und Politiker zu viel versprechen, ist der Staat zwangsläufig überfordert.

Es ist folglich geboten, Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns realistisch einzuschätzen. Wir plädieren deshalb für einen neuen gesellschaftlichen Konsens, in dem die Aufgabenverteilung zwischen Staat, Markt, Zivilgesellschaft und der je eigenen Verantwortung für die Lebensgestaltung klar geregelt wird.

Weder können Staat und Markt alleine für die gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich sein, noch ist die Zivilgesellschaft der Ausfallbürge für nicht mehr zu erbringende staatliche Aufgaben. Gerade die Vereinigungen und Initiativen der Zivilgesellschaft tragen entscheidend zur politischen Partizipation und Integration bei. Sie eröffnen vielfältige Zugänge zur politischen Meinungs- und Willensbildung und sind ein Garant für gelebte Demokratie.

Wettstreit und Kompromiss

Demokratie ist der Wettstreit um die besseren politischen Konzepte und Argumente. Lösungen für neue Probleme ergeben sich im sachlichen, argumentativ ausgetragenen Streit der Ideen. Heute besteht die Gefahr von zu wenig demokratischem Streit um die anstehenden Probleme. Fehlt dieser demokratische Streit, so wird das Gemeinwesen beschädigt, weil der notwendige Ideenwettbewerb nicht stattfindet und folglich politische Innovation ausbleibt. Dabei muss es immer um den Wettstreit der zukunftsfähigen Ideen und nicht um die Verunglimpfung des politischen Gegners gehen.

Da in freiheitlichen Gesellschaften unterschiedliche Meinungen und Auffassungen bestehen, kommt in der Politik der Kultur des Kompromisses eine hohe Bedeutung zu. Dabei kann es nicht um den kleinsten gemeinsamen Nenner gehen, vielmehr stellt die Werteordnung des Grundgesetzes einen festen Bezugspunkt für die Findung von Kompromissen dar. So verstanden führt der Kompromiss zu einem Interessenausgleich der Betroffenen.

In zu vielen Politikbereichen bleiben erforderliche Reformen für die Gesellschaft aus, obwohl ihre Notwendigkeit außer Frage steht. Partikulare Interessen dominieren und die Bereitschaft zu Reformen trägt nur so lange, wie die anderen davon betroffen sind. Alle Parteien haben ein großes Geschick darin entwickelt, aus parteipolitischem Interesse bzw. wahltaktischen Überlegungen Probleme zu vertagen.

Nachhaltigkeit als ethisches Kriterium

In der jetzigen Legislaturperiode sind die Bundesregierung und der Bundestag sehr stark von außenpolitischem Handeln bestimmt worden. Die Kriege auf dem Balkan, die dramatische Lage im Nahen Osten sowie in vielen Krisenherden der Welt und nicht zuletzt die Ereignisse vom 11. September 2001 und die bis heute spürbaren Folgen haben uns auf schreckliche Weise die Bedrohungen und Verletzbarkeiten von Staaten und Gesellschaften vor Augen geführt. Die Gestaltung des friedlichen und sicheren Zusammenlebens ist eine (Überlebens-)Aufgabe, an der alle mitwirken müssen. National und international kommt dabei der Politik die unverzichtbare Aufgabe zu, den Rahmen für ein geordnetes Zusammenleben in Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität zu gestalten.

Die Lösung der politischen Sachfragen wird nur mit einem schlüssigen, von ethischen Kriterien geleiteten Gesamtkonzept gelingen. Für eine solche Gesamtkonzeption ist das ethische Kriterium der Nachhaltigkeit besonders geeignet. Nachhaltige Politik sucht eine Balance des Ganzen zu schaffen. Nachhaltigkeit meint im privaten Alltag wie in Politik und Wirtschaft ein Handeln, das Entscheidungen heute im Blick auf die langfristigen Folgen fällt. So verstanden strebt eine nachhaltige Politik nach Gerechtigkeit innerhalb der jetzt lebenden Generationen weltweit sowie zwischen der jetzigen und den nachfolgenden Generationen. Die Herausforderung besteht darin zu klären, wie unter den heutigen Bedingungen ein friedliches, gerechtes, leistungsfähiges und menschliches Zusammenleben organisiert werden kann, ohne dass dadurch kommenden Generationen Lasten aufgebürdet werden. Darüber lohnt der demokratisch geführte Streit.

Friedenssicherung - vorrangige Aufgabe der Politik

Gerade in der Friedens-, Sicherheits- und Außenpolitik kommt es auf eine weitsichtige Politikkonzeption an. Für das ZdK hat dabei die Politikkonzeption absoluten Vorrang, die einem gerechten Frieden dient. Dies gilt auch für notwendige militärische Interventionen. Ein gerechter Friede entsteht, wo die tieferliegenden Ursachen des Krieges angegangen werden. Gewaltvorbeugung ist deshalb das Gebot der Stunde. Sie ist untrennbar verbunden mit dem Einsatz für mehr Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit.

Nach den beschämenden Erfahrungen mit der mangelnden Umsetzung der 1970 von den Industrienationen eingegangenen Selbstverpflichtung, 0,7 Prozent ihres jährlichen Bruttosozialproduktes für Entwicklungszusammenarbeit aufzuwenden, kommt es jetzt darauf an, die jüngst bei der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Monterrey vereinbarten Anstrengungen zur Halbierung der Armut in der Welt bis zum Jahr 2015 tatsächlich zu realisieren. Die in Monterrey angekündigten Erhöhungen der finanziellen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit müssen dazu genutzt werden, den Beitrag zur selbsthilfe- und beteiligungsorientierten Armutsbekämpfung deutlich zu erhöhen. Dies muss für die vielfältigen Projekte und Programme ebenso gelten wie für die Gestaltung der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Rahmenbedingungen. Unabdingbare Voraussetzungen hierzu sind eine Öffnung der europäischen Märkte für in Entwicklungsländern produzierte Waren sowie ein wirksamer Schuldenerlass für die hochverschuldeten Entwicklungsländer. Dazu gehört auch die Einführung eines internationalen Insolvenzverfahrens, das für Staaten bei Überschuldung neue Entwicklungschancen ermöglicht. Beim bi- und multilateralen Schuldenerlass muss präzise darauf geachtet werden, dass Mittel frei werden und diese dann unter Beteiligung der Bevölkerung verwandt werden, damit sie auch tatsächlich für die Bekämpfung der Armut eingesetzt werden und nicht der Stützung diktatorischer Regime oder korrupter Herrschaftsschichten dienen.

Der unkontrollierte Handel mit und die missbräuchliche Verwendung von sog. Kleinwaffen verschärfen und verlängern Konflikte. In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr als drei Millionen Menschen durch Kleinwaffen getötet und mehr als 300.000 Kinder werden zum Dienst an diesen leicht bedienbaren Waffen als Kindersoldaten gezwungen. Auch in Deutschland und in anderen europäischen Ländern produzierte Kleinwaffen wandern in Entwicklungsländern von Konflikt zu Konflikt und führen zu einer alltäglichen Terrorisierung der Bevölkerungen. Wir fordern deshalb eine wirksamere Kontrolle der Kleinwaffenproduktion und des Kleinwaffenexportes. Auf den Verkauf von Überschussbeständen der Bundeswehr (insbesondere G 3-Gewehre) muss grundsätzlich verzichtet werden. Und es müssen gerade in Post-Konflikt-Situationen wie auf dem Balkan und in Afghanistan Sofortmaßnahmen ergriffen werden, damit durch die Entfernung und Vernichtung der im Land verfügbaren umfangreichen Bestände an Kleinwaffen sowie die Räumung von Minen und abgeworfenen Streubomben dem Frieden eine neue Chance eröffnet wird.

Europapolitik ist Friedenspolitik

Die Integration der Völker und Staaten Westeuropas in die Europäische Union hat sich als erfolgreiches Konzept erwiesen, um Sicherheit, Stabilität, Wachstum und Wohlstand zu fördern. Die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten Mittel- und Osteuropas ist eine moralische und politische Verpflichtung.

Die Europapolitik bedarf in dieser Perspektive dringend einer Neubestimmung des ihr zugrundeliegenden Gesamtkonzepts. Angesichts der historischen Chance der Vollendung der Europäischen Union durch eine mit der Erweiterung einhergehende Vertiefung ist vor allem eine Rückbesinnung auf die gemeinsamen Überzeugungen erforderlich. Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern vor allem eine Wertegemeinschaft. Europapolitik bedeutet Friedenspolitik. Der Frieden - auch auf dem europäischen Kontinent - kommt und bleibt nicht von alleine. Er muss geschaffen und ständig neu gesichert werden. Dies ist die europäische Erfahrung seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Ein Festhalten an nationalen Außenpolitiken kann dabei nicht der Weg sein. Vielmehr muss Europa weltweit eine eigenständige friedenspolitische Rolle übernehmen. Dazu muss Deutschland gemeinsam mit den Partnern in der Europäischen Union eine am Ziel eines weltweiten Friedens orientierte europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln.

Die Europäische Union muss sich als Wertegemeinschaft auch in den Grundfragen des Lebensschutzes bewähren. Eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe widerspricht dem Ethos der Heilberufe, bricht mit der Rechtstradition unserer europäischen Gesellschaften und verstößt vor allem gegen Gottes Gebot "Du sollst nicht töten!". Deshalb müssen wir dieser Entwicklung mit aller Kraft widerstehen. Es darf auch nicht zugelassen werden, dass im Rahmen von europäischen Forschungsförderungsprogrammen die sog. verbrauchende Embryonenforschung unterstützt wird. Die Europäische Politik darf nationale Werteordnungen nicht aushöhlen bzw. nivellieren.

Die Erweiterung ist zur Zeit die wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe, die die Europäische Union gemeinsam mit ihren Partnern lösen muss; es handelt sich um eine Aufgabe ohne Alternative. Die Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaften stehen, können von den einzelnen Staaten - auf sich allein gestellt - nicht mehr bewältigt werden. Der Schutz unserer Umwelt, Rahmenbedingungen für Entwicklungshilfe, der Einsatz für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ebenso wie die Bekämpfung von Kriminalität, gemeinsame Verteidigung oder Verbraucherschutz können wirkungsvoll nur gemeinsam, auf europäischer Ebene realisiert werden. Das setzt eine gemeinschaftliche Ausübung ihrer Souveränität durch die Institutionen der Union voraus. Der Europäische Rat hat die Nachhaltigkeit zum Leitziel der EU ausgerufen. Damit kann und muss Europa – wie schon beim Kyoto-Protokoll – eine entscheidende Vorreiterrolle einnehmen.

Das bereits im Maastrichter Vertrag festgehaltene Subsidiaritätsprinzip muss zum Bauprinzip der europäischen Verfassungsordnung werden und durchgängig Anwendung finden. Dazu ist eine  Kompetenzzuschreibung für die Politikfelder unerlässlich. Subsidiarität geht davon aus, dass angemessenere und sachkompetentere Entscheidungen zustande kommen, wenn sie sach- und ortsnah getroffen werden.

Mit der EU-Grundrechtecharta sind wichtige Voraussetzungen für einen gemeinsamen Wertekonsens erarbeitet worden. Jetzt muss die Arbeit des Konvents dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger das "Gemeinsame Haus Europa" mitgestalten können und wollen. Dazu fordern wir mehr Transparenz in den Entscheidungswegen und mehr demokratische Mitbeteiligung ein. Wir erwarten von den Mitgliedern des neu gewählten Deutschen Bundestages, dass sie in dem hier skizzierten Sinne die Arbeit des Europäischen Konventes inspirieren und unterstützen.

Beteiligung schafft Gerechtigkeit

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik steht Deutschland vor zentralen Herausforderungen. Wesentliche Bedingungen, unter denen die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit abgebaut und notwendige Reformen der bestehenden sozialen Sicherungssysteme durchgeführt werden müssen, sind die Wucht der sich jetzt und zukünftig auswirkenden demographischen Veränderungen sowie der Prozeß der ökonomischen Globalisierung und die damit zusammenhängende zunehmende weltwirtschaftliche Konkurrenz. In der kommenden Legislaturperiode dürfen wir nicht weiter jenen Reformen ausweichen, die notwendig sind, um hinderliche Verfestigungen aufzubrechen und Partikularinteressen zum Wohl der Gesamtgesellschaft zurückzustellen. Besonders dringlich ist diese Problematik mit Blick auf die notwendige Gesundheitsreformpolitik. Sie wird zu einer der zentralen Herausforderungen in der neuen Legislaturperiode werden. Sie ist entschlossen anzugehen und darf nicht durch Lobbyisten zerstört werden.

Die soziale Marktwirtschaft steht vor großen Anpassungsproblemen. Der wirtschaftliche Entwicklungsprozess beteiligt nicht alle automatisch am Wohlstand: Viele haben Anteil daran und sind in der Lage, die neuen Chancen zu nutzen; andere hingegen haben diese Chance nicht, und ihnen ist der Zugang zu Arbeit und Einkommen und damit auch an sozialer Anerkennung verwehrt. An der Integration und dem Mitwirken aller entscheidet sich jedoch die Zukunftsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb muss der Teilhabe am Arbeitsmarkt besondere Aufmerksamkeit gelten. Die Entwicklungen im zurückliegenden Jahrzehnt sind ernüchternd.

Der Staat kann zwar das Problem der Arbeitslosigkeit nicht dadurch lösen, dass er unmittelbar zusätzliche Arbeitsplätze schafft, wohl aber ist er in der unverrückbaren Pflicht, durch die Gestaltung der entsprechenden Rahmenbedingungen die Infrastruktur zu verbessern, Investitionshemmnisse abzubauen und wirtschaftliche Entwicklung zu gestalten, damit rentable und gesicherte Ausbildungen und Arbeitsplätze entstehen können.

Besondere Sorge bereitet in diesem Zusammenhang, dass die Politik in den vergangenen Jahren mit Blick auf die Langzeitarbeitslosen nicht vorangekommen ist. Hier müssen verstärkt Anstrengungen unternommen werden. So ist z.B. ein größerer Gestaltungsraum für die Kommunen in der Arbeitslosen- und Sozialhilfe notwendig, damit regionale Lösungen besser entwickelt werden können. Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Strukturentwicklung für die neuen Bundesländer und Familienorientierung der Arbeitswelt sind Erfordernisse, um Arbeit und Leben in Balance zu bringen und Beteiligungschancen für alle zu schaffen - für Frauen wie für Männer. Es muss alles dafür getan werden, dass jede und jeder in dieser Gesellschaft einen Ausbildungs- und einen Arbeitsplatz finden kann.

Zur Verpflichtung der gegenwärtigen Politik gehört es ferner, die Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte zu reduzieren und bestehende Schulden weiterhin abzubauen. Denn eine hohe Staatsverschuldung bürdet unseren Kindern eine größere Last auf, als wir sie heute tragen müssen, und mindert somit deren Beteiligungschancen. Was wir hingegen heute sparen und zu produktiven Investitionen nutzen, kommt auch nachfolgenden Generationen zugute. Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung können nachhaltig am ehesten gelingen, wenn Aufgaben- und Einnahmenverteilung einander entsprechen und nicht eine Ebene zu Lasten der anderen spart.

Bildung und Erziehung sichern Freiheit

Ein leistungsfähiges Bildungssystem ist der Schlüssel für individuelle Lebenschancen und der Motor für gesellschaftliche Entwicklungen. Es ist eine zentrale politische Verantwortung Teilhabe, Mündigkeit und berufliche Perspektiven durch ein funktionierendes Bildungssystem zu ermöglichen. Ein differenziertes, die unterschiedlichen Begabungen förderndes System bietet Kindern die besten Entwicklungschancen. Inhaltlich muss die Schule sich stärker auf die Vermittlung von unverzichtbaren Kulturwissen und -techniken, von dauerhaftem Basiswissen, von Orientierungswissen und sozialer Kompetenz konzentrieren. Das inhaltlich und methodisch auf Qualität ausgerichtete Lernen muss den Vorzug haben vor beliebiger Angebotsvielfalt, Spezialisierung und Stofffülle. Gute Schule hängt jedoch nicht zuerst von Strukturen und Organisation, sondern viel mehr von Menschen ab. Darum muss die Ausbildung von Lehrkräften besonders auf schulpraktische und erzieherische Anforderungen hin verbessert, eine ständige qualifizierte Fortbildung angeboten und eine zeitgemäße Form von Personalführung und Motiva-tion auch in der Schule realisiert werden.

Die Ergebnisse unseres Bildungssystems können nicht zufriedenstellen. Dies beweisen nicht zuletzt internationale und nationale Studien der letzten Zeit. Staatliche Entwicklungen und internationale Wettbewerbsfähigkeit hängen eng mit dem Bildungssystem zusammen. Junge Menschen verdienen ein Bildungssystem, das ihre Begabungen unabhängig von ihrer Herkunft bestmöglich fördert. Dieses Ziel muss eine zentrale Aufgabe der Politik auf allen Ebenen sein. Dabei müssen auch die Ausgaben für die Bildung in Deutschland Schritt für Schritt deutlich erhöht werden. Dies ist angesichts der Verschuldung der Länder keine leichte Aufgabe. Wenn Deutschland jedoch die Defizite im Bildungsbereich ausgleichen will, braucht es dafür mehr Personal, mehr Aufwand für qualifizierte Aus- und Fortbildung sowie mehr Mittel für die Modernisierung von Schule und Hochschule.

Bildung gibt es nicht ohne Erziehung, und Erziehung gelingt nicht ohne Werte. Dies gilt sowohl für die Familien als primären Lernort wie für die staatliche Verantwortung für Kinder- und Jugendhilfe, ebenso für schulische und universitäre Bildung und Ausbildung. Familienbildung und Kindertageseinrichtungen können Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe frühzeitig wirksam unterstützen. Die Schule muss für junge Menschen, neben fachlicher Ausbildung und Freude am lebensbegleitenden Lernen, auch Orientierung bei der Suche nach Antworten auf ethische und religiöse Fragen geben. Der im Grundgesetz vorgesehene Religionsunterricht bietet die wertvolle Möglichkeit, grundsätzliche Fragen zu erörtern, und muss daher im Fächerkanon der Schule seinen festen Platz behalten. Allgemeinbildung ist kein mit dem Ende der Schulzeit abgeschlossener Prozeß. Die Förderung der Erwachsenenbildung darf sich nicht auf berufliche Qualifikation beschränken, sondern muss kulturelle und personenbezogene Elemente einbeziehen.

Voraussetzungen für bürgerschaftliches Engagement verbessern

Das Zentralkomitee kann mit Blick auf das alltägliche Leben in den Pfarrgemeinden und für die Arbeit in den verschiedenen kirchlichen Verbänden, Organisationen und Institutionen auf gute Erfahrungen beim bürgerschaftlichen Engagement verweisen, die auf die Gesellschaft übertragbar sind. Von der Politik und der Wirtschaft erwarten wir, dass die von den ca. 20 Millionen freiwillig und ehrenamtlich Tätigen geleistete unentgeltliche Arbeit anerkannt wird. Dazu bedarf es entsprechender Freistellungsregelungen. Bei der Ausbildungs- und Studienplatzvergabe wie auch bei der Arbeitsplatzbesetzung sollten die durch bürgerschaftliches Engagement erworbenen Schlüsselqualifikationen berücksichtigt werden. Bürgerschaftliches Engagement ist ein Lernfeld, für das besondere Qualifizierungen und Fortbildungsmöglichkeiten angeboten und finanziert werden müssen. Zur Verbesserung der Rahmenbedingungen gehört auch, dass Vereine und Verbände eine verlässliche Globalmittelförderung erhalten und öffentliche Mittel auch für neue innovative Projekte im Rahmen der Modellförderung bereitgestellt werden.

Familienpolitik ist Zukunftspolitik

Das Grundgesetz formuliert in Artikel 6 den Doppelauftrag: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat in den vergangenen Jahren diesen Schutz durch die staatliche Ordnung als ungenügend kritisiert und z.B. im Steuer- und Rentenrecht klare Vorgaben formuliert. Das ZdK setzt sich daher entschieden und mit allem Nachdruck schon seit Jahren für spürbare Umverteilungen der Lasten zugunsten von Eltern ein - insbesondere in der Altersversorgung. Es reicht nicht aus, im Steuerrecht Benachteiligungen für Familien abzubauen. Es müssen darüber hinaus - und unabhängig davon - im umlagefinanzierten System der sozialen Sicherung die bestandssichernden Leistungen von Familien angemessen berücksichtigt und bestehende Benachteiligungen abgebaut werden. Dem Abbau bestehender Benachteiligungen für Familien muss auch eine überzeugende Neuregelung des Familienleistungsausgleichs dienen, damit die Erziehung von mehreren Kindern für Eltern nicht zu einem Armutsrisiko wird. Wohnungsbaupolitik ist daraufhin auszurichten, Familien mit Kindern bezahlbaren Wohnraum anzubieten. Die Lebenssituation von alleinerziehenden Eltern muss nachhaltig verbessert werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass Alleinerziehende auf Grund ihrer Elternverantwortung in eine langfristige Abhängigkeit staatlicher Sozialhilfen geraten. Hier müssen geeignete Instrumente die Alleinerziehenden bei der Vereinbarkeit von Familienund Erwerbsarbeit unterstützen.

Die stabilitätsfördernde Wirkung ehelicher Partnerschaft steht außer Frage. Um so mehr beobachten wir mit Sorge, dass die Unterstützung und Förderung partnerschaftlicher Lebensbeziehungen junger Ehepaare in der Familienpolitik immer weniger für notwendig gehalten wird. Dies zeigt sich insbesondere dort, wo gefordert wird "ehebezogene" Leistungen zugunsten "familienbezogener" Leistungen zurückzufahren. Damit wird ein Gegensatz konstruiert, der das Beziehungssystem Familie künstlich zerschneidet und der dazu führt, dass zwischen Familien anstatt zugunsten von Familien umverteilt wird. Es ist deshalb Aufgabe der Politik, günstige Rahmenbedingungen für das gleichberechtigte Miteinander der Eheleute als Voraussetzung und Teil einer ganzheitlichen Familienpolitik zu gestalten.

Angesichts der Eigengesetzlichkeiten der wettbewerblich funktionierenden Weltwirtschaft besteht eine politische Aufgabe darin, die lebenswichtige Balance von Erwerbsarbeit und Familie zu ermöglichen. Es ist an der Zeit, bei der Organisation des Erwerbslebens die Erfordernisse der Familie, der Ehepartner ebenso wie der Kinder, auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der Betriebe stärker in den Blick zu nehmen. Neben verbesserten Kinderbetreuungsangeboten müssen die zeitlichen und räumlichen Erfordernisse der Lebens- und Arbeitswelten vorausschauend aufeinander abgestimmt werden. Flexible Gestaltung von Tages- und Lebensarbeitszeit kann für Frauen und Männer die partnerschaftliche Teilhabe beider Eltern an der Erziehung fördern. Verbesserte Wiedereinstiegsmöglichkeiten nach einer Phase der Erwerbsunterbrechung und entsprechende Fortbildungen müssen geschaffen werden.

Zuwanderung steuern - Integration fördern

Die Fragen um Zuwanderung und Integration sind für unser Land von grundsätzlicher Bedeutung. Es geht um die Schaffung verlässlicher Grundlagen für ein dauerhaftes Zusammenleben in kultureller Vielfalt. In Deutschland leben etwa 7,3 Millionen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie gut zwei Millionen Spätaussiedlerinnen und -aussiedler, die seit 1990 gekommen sind. Integration ist ein zweiseitiger Prozess, der von Einheimischen wie von Zuwanderern ein hohes Maß an Offenheit, gegenseitigem Respekt und Toleranz erfordert. Die Integration von Menschen anderer Kulturen, ethnischer Herkunft und Religion kann nur gelingen in einem klaren, nicht zur Diskussion stehenden Rahmen von Werten und Normen. Das setzt auch die Bereitschaft voraus, die deutsche Sprache zu erlernen und sich auf die deutsche Kultur und Geschichte einzulassen.

Eine Gesellschaft, in die jährlich Hunderttausende zuwandern, muss Zuwanderung gestalten und entsprechende Rahmenbedingungen für die Integration schaffen: Auf der rechtlichen Ebene, im gesellschaftlichen Leben wie auch in den Kommunen.

Politik muss in Fragen von Zuwanderung und Integration mit Klugheit und Augenmaß nach Lösungsmöglichkeiten für unvermeidbare Interessenkonflikte suchen. Sie muss alles vermeiden, was durch verkürzende Darstellungen oder suggestive Wertungen von Fakten Stimmungen begünstigt, die der Integration der Menschen ausländischer Herkunft schaden. Dazu gehört auch, im Bemühen um Qualifizierung und Eingliederung der Arbeitslosen in unseren Arbeitsmarkt nicht nachzulassen.

Fälschlicherweise wird die Problematik der illegal in Deutschland lebenden Ausländer oft als bloßes Randproblem der Zuwanderungsdebatte angesehen. Dabei gibt es nach Schätzungen mehrere Hunderttausend Menschen, die ohne gültige Papiere in Deutschland leben. Die Ursachen illegaler Zuwanderung liegen in politischen Konflikten, Menschenrechtsverletzungen sowie im extremen wirtschaftlichen Gefälle zwischen reichen und armen Ländern und der geographischen Lage Deutschlands. Hinzu kommt die Nachfrage nach Billig-Lohn-Arbeitskräften, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht befriedigt werden kann. Illegale Zuwanderung betrifft auch andere Länder in vergleichbarer Situation.

Wenn auch ohne Aufenthaltsrecht oder Duldung, müssen Menschen, die in der Illegalität leben, die ihnen zur Sicherung eines sozialen Mindeststandards zustehenden Rechte wahrnehmen können. Das betrifft insbesondere den Schulbesuch der Kinder, den Zugang zu medizinischer Versorgung und die Durchsetzung von Lohnansprüchen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat in großer Klarheit auf die "faktische Rechtlosigkeit" dieser Menschen auf fast allen Gebieten des täglichen Lebens aufmerksam gemacht. Wir unterstützen nachdrücklich die Forderung der deutschen Bischöfe nach politischen Initiativen, um menschenwürdige Verhältnisse für diesen Personenkreis zu garantieren.

Den Fortschritt der biomedizinischen Entwicklungen am Lebensschutz messen

Besondere Herausforderungen stellen sich bei der grundgesetzlich verbürgten Pflicht des Staates zum Schutz des menschlichen Lebens angesichts der Fortschritte in den sog. Lebenswissenschaften. Dabei verdient Forschung mit dem Ziel der Verbesserung von Heilungschancen für schwerste Krankheiten Unterstützung und ist politisch zu fördern - aber selbstverständlich nicht um jeden Preis. Wo solche Forschung in die Rechte Dritter oder gar in das Lebensrecht Dritter eingreift, ist sie ethisch nicht zu rechtfertigen. Und das gilt für das Ziel ebenso wie für die Wege, die zu diesem Ziel führen. Deshalb muss der öffentliche Diskurs über die Chancen und Grenzen der biomedizinischen Entwicklung und ihrer ethischen Bewertung weitergeführt werden. Für die zu treffenden politischen Entscheidungen ist eine Voraussetzung, dass die Tragweite der jeweils zur Entscheidung anstehenden Fragen sachgerecht herausgearbeitet und öffentlich diskutiert wird. Die Auseinandersetzungen müssen dabei auf der Grundlage des Grundgesetzes und der ihm zu Grunde liegenden Werteordnung erfolgen.

Dies gilt auch für die Technik der Klonierung menschlicher Embryonen. Hier bedarf es dringend eines weltweiten, rechtsverbindlichen Verbotes, weil die Erzeugung von Embryonen durch Klonierung fundamental gegen die individuelle und allgemeine Würde des Menschen verstößt. Und dieses Verbot muss sowohl das sog. reproduktive als auch das sog. therapeutische Klonieren umfassen. Mit Blick auf das Gesetz zum Import von aus menschlichen Embryonen gewonnenen Stammzellen muß darauf geachtet werden, dass die in dem Gesetz formulierten Bedingungen zum Schutz weiteren menschlichen Lebens tatsächlich eingehalten werden und der geltende Embryonenschutz nicht schleichend ausgehöhlt wird.

Wir treten für die Erarbeitung eines umfassenden Fortpflanzungsmedizingesetzes ein, welches den neuen biomedizinischen Entwicklungen Rechnung trägt und nicht unter das Schutzniveau des geltenden Embryonenschutzgesetzes von 1990 zurückgeht. Dies gilt insbesondere für den im geltenden Embryonenschutzgesetz festgehaltenen Ausschluss von Forschung an Embryonen und von anderen Verwendungen, die nicht dem Wohl des Embryos selbst dienen.

Das ZdK lehnt die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland ab. Wir sehen die große Gefahr, dass mit der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik - entgegen der erklärten Absicht der Befürworter einer solchen Zulassung - faktisch Tendenzen zur Selektion menschlichen Lebens Vorschub geleistet wird. Die Praxis in Ländern, in denen die Präimplantationsdiagnostik zugelassen ist, zeigt ebenso wie die Erfahrungen mit der Pränataldiagnostik in Deutschland, dass es äußerst schwierig ist, eine Eingrenzung auf wenige Indikationen durchzuhalten.

Dass in Deutschland sog. Spätabtreibungen, insbesondere Schwangerschaftsabbrüche bei zu erwartender Krankheit oder Behinderung des Kindes, zum Teil bis unmittelbar vor dem Zeitpunkt der Geburt erfolgen, ist ein Skandal. Deshalb bedarf es dringend politischer Initiativen zur Vermeidung sog. Spätabtreibungen. Es geht insbesondere um eine verbesserte Beratung mit dem Ziel des Lebensschutzes vor pränataler Diagnostik sowie nach Diagnose einer nicht behebbaren Krankheit oder Entwicklungsstörung des nicht geborenen Kindes. Ferner ist eine rechtliche Klärung des Anwendungsbereiches der medizinischen Indikation (§ 218 a Abs. 2 StGB) dringend geboten. Denn es darf nicht erlaubt sein, einen Schwangerschaftsabbruch bei zu erwartender Krankheit oder Behinderung des Kindes stillschweigend unter die medizinische Indikation zu subsumieren und damit zu legalisieren. Ist diese Klärung anders nicht zu erreichen, muss der Gesetzgeber eine Novellierung des § 218 a Abs. 2 StGB vornehmen. Das Arzthaftungsrecht muss ferner so ausgestaltet werden, dass Ärztinnen und Ärzte nicht davon abgehalten werden, Eltern zu ermutigen, sich auch in Zweifelsfällen für ein - möglicherweise behindertes - Kind zu entscheiden.

Zudem muss der Staat in Bund und Ländern stärker dafür Sorge tragen, dass das Beratungsangebot in Schwangerschaftskonfliktsituationen qualitativ und quantitativ so ausgestaltet wird, dass es dem Schutz des ungeborenen Lebens und der Hilfe für in Not geratene Frauen bestmöglich dient.

Stimmabgabe ist Demokratenpflicht

Wir fordern als ZdK nicht nur die Katholikinnen und Katholiken sondern alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auf, durch ihre Stimmabgabe bei den Wahlen Mitverantwortung für die Demokratie zu übernehmen. Überprüfen Sie die Aussagen und Wahlversprechen der einzelnen Parteien und Bundestagskandidatinnen und -kan- didaten. Bei der anstehenden Wahl unsere Stimme abzugeben ist das Mindeste, was wir zur Sicherung des demokratischen Rechtsstaates tun müssen. Berechtigte Enttäuschungen über die langwierigen Entscheidungswege in der Demokratie oder über Spenden- und Korruptionsskandale in Parteien dürfen uns nicht davon abhalten, einer der demokratischen Parteien und ihren Kandidatinnen und Kandidaten die Stimme zu geben. Wer durch Nichtwählen Denkzettel verteilen will, stärkt die Extremisten, die wir nicht wollen und die wir nicht brauchen können, und schadet damit uns allen.


Beschlossen vom Hauptausschuss am 14. Juni 2002

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