Selbstbestimmt - mit den Sichtachsen auf das Leben

Erklärung des Präsidiums des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) zur (rechtlichen) Einhegung organisierter Suizidbeihilfe nach dem BVerfG-Urteil vom 26. Februar 2020

Mit großer Sorge hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Nichtigkeit des strafbewehrten Verbotes geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung vom 26. Februar 2020 zur Kenntnis genommen. Unsere Sorge gilt nicht nur seiner unmittelbaren Konsequenz, die zur Ausweitung organisierter Suizidhilfe, etwa von Sterbehilfeorganisationen führen kann. Unsere Sorge gilt auch den erheblichen Akzentverschiebungen und Missinterpretationen, die das Urteil mit seiner faktischen Idealisierung des Freitods für das Verständnis menschlicher Selbstbestimmung und Selbsttötung haben kann: Es droht der humane Gehalt menschlicher Selbstbestimmung, der bislang unser staatliches wie gesellschaftliches Selbstverständnis prägt, faktisch entleert zu werden.

Menschliche Autonomie steht für die selbstverantwortliche und selbstgestaltete Lebensführung inmitten jener Beziehungen zu anderen, in denen jeder Mensch als Person erst selbst werden kann. Im Urteil wird die freiverantwortliche Selbsttötung zum Kulminationspunkt menschlicher Freiheit hypostasiert. Damit wird verdeckt, dass eine freiverantwortliche Entscheidung zur Selbsttötung immer auch die Reaktion auf eine dramatisch erlebte Grenzsituation eines Lebens ist. Dazu müssen die Kirchen und die Gesellschaft reflektierte und sensible Beiträge in den Diskurs einbringen.

Der Staat steht in der Pflicht, das Selbstbestimmungsrecht und das Leben aller zu schützen – das der entschieden Suizidwilligen ebenso wie das jener Menschen, die sich durch die Erwartungshaltungen anderer zu suizidalen Handlungen gedrängt sehen könnten. Das Bundesverfassungsgericht eröffnet dem Gesetzgeber ausdrücklich die Möglichkeit, die unterschiedlichen Schutzgüter im Rahmen eines legislativen Schutzkonzeptes in angemessenen Ausgleich zu bringen. Das ZdK wirbt für ein problemangemessenes Verständnis von freiverantwortlicher Selbstbestimmung im Kontext von Suizidalität. Dieses muss die Grundlage für ein übergreifendes legislatives Schutzkonzept bilden. Das Schutzkonzept muss im Sinne des sozialrechtlichen Fundamentalprinzips des „Wunsch- und Wahlrechts“ auch geschützte Räume ermöglichen, in denen organisierte Suizidbeihilfe als Regelangebote durch externe Dienstleister, Sterbehilfevereine usw. ausgeschlossen bleiben. Katholische Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe oder auch der palliativ-hospizlichen Begleitung würden diese Option in Ausübung ihres Rechts auf freie Religionsausübung nutzen können.

I.          Für einen humanen Gehalt autonomer Selbstbestimmung

Das Bundesverfassungsgericht sieht die „autonome Selbstbestimmung“ eines Menschen als unmittelbaren Ausdruck seines Persönlichkeitsrechtes, in der sich seine Würde als Mensch in seiner Individualität, Identität und Integrität materialisiert. Unter autonomer Selbstbestimmung versteht das Gericht offensichtlich eine Selbstbestimmung des Menschen, die den „eigenen, selbstgesetzten Maßstäben“ – so das Gericht wörtlich in seiner Urteilsbegründung (Rd. 211) – folgt. Damit stellt sich das Gericht in eine bedeutsame Traditionslinie der europäischen Aufklärung und des Menschenrechtsdenkens. Diese insbesondere mit Immanuel Kant verbundene Traditionslinie des Autonomiegedankens ist sehr gehaltvoll: Die Selbstgesetzlichkeit des Menschen besteht in seiner Selbstbindung an solche sittlichen Maßstäbe, von deren Sinnhaftigkeit er überzeugt ist und denen er deshalb aus freier Einsicht Folge leistet. Darin zeigt sich seine Würde als Mensch: Innere Überzeugung weist ihn als das Wesen der Freiheit aus, das um seiner selbst willen lebt und sich deshalb eine Bestimmung seiner Selbst – also eine innere sittliche Ausrichtung seiner Lebensgestaltung – zu eigen macht.

Dieses Verständnis autonom selbstbestimmter Lebensführung korrespondiert eng mit einem wesentlichen Bestandteil des christlichen Menschenbildes. „Die wahre Freiheit aber ist ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen: Gott wollte nämlich den Menschen ‚in der Hand seines Entschlusses lassen‘ (…). Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem inneren Drang oder unter bloßem äußeren Zwang.“ (Gaudium et spes 17) Solche bewusste und freie Wahl wäre freilich missverstanden, setzte man sie mit voluntaristischer Beliebigkeit gleich. Menschliche Freiheit bedeutet keine willkürliche Verfügungsgewalt über sich und alle anderen. Im Gegenteil, sie bindet sich aus tiefer Überzeugung an jene normativen Bedingungen, unter denen sie selbst nur Wirklichkeit werden kann.

Maßstäbe jeder autonom selbstbestimmten Lebensführung bilden besonders Menschenwürde und Menschenrechte. Unsere Verfassung weist nicht nur die Würde eines jeden Menschen als unantastbar, sondern – mit ihr unmittelbar verknüpft – auch die Menschenrechte als unverletzlich und unveräußerlich (Art. 1 Abs. 2 GG) aus. Zu diesen Menschenrechten zählen an erster Stelle das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Unverletzlichkeit der Menschenrechte gebietet dem Staat wie letztlich jedem Dritten, die diesbezüglichen Ansprüche jedes einzelnen Menschen zu respektieren, zu schützen und soweit möglich verwirklichen zu helfen. Die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte gebietet umgekehrt jedem*r Inhaber*in dieser Rechte, diese Ansprüche mindestens nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen oder willkürlich selbst zu verletzen. Wird diese innere Verbindlichkeit unterschlagen, ist die Idee der Menschenrechte in ihrem normativen Kern halbiert. Diese innere Verpflichtung jedes Menschen gegenüber seinen eigenen Menschenrechtsansprüchen rechtfertigt zwar keinesfalls Eingriffe von außen oder gar des Staates, wenn ein Mensch durch sein freiverantwortliches Handeln seine freie Persönlichkeitsentfaltung, sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit zu gefährden droht. Ausgeschlossen aber bleibt auch, den Suizid als letzten Kulminationspunkt autonomer Selbstbestimmung zu überhöhen. Wer dies tut – und das Gericht gibt Anlass dazu, seine Entscheidung dergestalt zu lesen –, entleert den humanen Gehalt menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung.

II.         Für die gebotene Sensibilität gegenüber der Dramatik jeder freiverantwortlichen Selbsttötung

Das Gericht würdigt ausführlich den empirischen Befund, dass maximal zwei Prozent (!) aller suizidalen Handlungen auf einer ernsthaften und freiverantwortlichen Entscheidung beruhen (Rd. 244 f.). Bei allen anderen Suiziden wird man davon ausgehen müssen, dass sie entweder Ausdruck einer psychischen Erkrankung (in ca. 90 Prozent Depression, Psychose usw.) oder zwar freiverantwortlich sind, gleichwohl aber auf keiner gefestigten Entscheidung beruhen. Selbst unter der schwer nachweisbaren Voraussetzung, eine kleine Anzahl von Suizidentscheidungen sei tatsächlich ernsthaft und freiverantwortlich, so spiegeln solche reiflich erwogenen (Bilanz-)Suizide doch für die betroffenen Personen hochdramatische Lebenssituationen, die ihnen aussichtslos erscheinen. Selbst der allem äußeren Anschein nach reiflich erwogene und wiederholt vorgebrachte Entschluss zur Selbsttötung ist kein Ergebnis emotionsloser Abwägung, in der Menschen die Vor- und Nachteile eines Weiterlebens oder eines Todes nüchtern gewichten. Auch er spiegelt die Ohnmacht und Verzweiflung angesichts einer als unerträglich empfundenen Lebenssituation. Die Suizidforschung belegt, dass „Bilanzsuizide“ gerade bei älteren Menschen oftmals aus großen Lebensängsten (Einsamkeit, Hilflosigkeit usw.) oder Verlusterfahrungen resultieren, die sich in seelischen Schmerzen niederschlagen. Solche seelischen Schmerzen müssen keinesfalls erst die Ausmaße einer manifesten psychischen Erkrankung (z. B. Depression) erreichen, um das Suizidbegehren zu befördern.

Es ist unstrittig: An den Grenzen des Lebens entstehen Extremsituationen, deren Aussichtslosigkeit und Belastungen einen Menschen zu einer suizidalen Handlung drängen. Solche Extremsituationen entziehen sich einer moralischen Beurteilung von außen. Denn zu jeder moralischen Beurteilung gehört immer auch die Würdigung der konkreten Lebensumstände, innerhalb derer ein Mensch entscheidet und handelt. Deshalb gibt es nicht die eine moralische Sicht auf den Suizid. Er verdient keine abkanzelnde Verurteilung, sondern einfühlende Aufmerksamkeit. Suizidabsichten sind dem Umstand extremer Gefährdung und Verletzlichkeit dieser konkreten Person geschuldet. Mit welchem Recht ließen sich alle Bemühungen um Suizidprävention, die Personen vor diesem Akt bewahren wollen, rechtfertigen, wenn der Suizid ein „selbstverständlich normales“ Optionsmodell einer freiverantwortlichen Lebensführung wäre? Dass suizidale Extremsituationen hoch dramatisch sind und bleiben, darf nicht verschwiegen werden. Sie als besondere Gelegenheiten der Selbstbestimmung eines Menschen auszuzeichnen, verharmlost die in ihnen sich ausdrückende Verzweiflung. Verharmlosung hätte eine fatale Nebenwirkung: Indem sie freiverantwortliche Selbsttötungen als Normaloption ausweist, nimmt sie andere aus ihrer Verantwortung für die dramatische Lebenssituation und für Hilfe in verzweifelter Lebenslage. Sie verweigert sich der Einsicht, dass Selbsttötungen immer auch „die Abwesenheit der Anderen“ (Paul Valery) vor Augen führen.

Niemand lebt für sich allein. Auch höchstpersönlich und freiverantwortlich getroffene Entscheidungen haben erhebliche Auswirkungen auf Personen, die im Netz sozialer Bindungen und Beziehungen mit der zum Suizid bereiten Person leben – namentlich die engen An- und Zugehörigen. Studien belegen die erhöhte Suizidalität von Menschen, deren Angehörige ihr Leben selbst beendet haben. Wie Sterben und Tod insgesamt, ist auch jede Selbsttötung ein soziales Beziehungsereignis. Ein Recht auf Selbstbestimmung zu setzen, das diese soziale Einbindung weder erwähnt noch würdigt, muss seltsam abstrakt und von der Lebenswirklichkeit entrückt wirken. Mindestens verfehlt es die soziale Dimension menschlicher Existenz und damit die conditio humana.

III.        Für eine achtsame Kirche und Gesellschaft gegenüber Menschen mit Sterbewünschen

Eine akute Suizidhandlung stellt sich in der Regel nicht plötzlich ein – abgesehen von möglichen Kurzschlusshandlungen als Teil einer psychischen Erkrankung oder Ausfluss eines Schockerlebens. Sie ist eingebettet in einen Prozess, in dem sich das suizidale Begehren über verschiedene Etappen aufbaut und zu einer mindestens gefühlten Alternativlosigkeit verengt. Suizidales Begehren umfasst ein breites Spektrum: allgemeine Lebenserschöpfung, Sehnsucht nach Ruhe, Einsamkeit, Zweifel am Sinn des (Weiter-)Lebens. Durch all das kann sich ein stetig steigender Handlungsdruck in Richtung Suizid aufbauen, der Wunsch nach einem (assistierten) Suizid, die von einer anderen Person vollzogene Tötung auf Verlangen. Suizidalität im engeren Sinne, also das latente oder auch das akute Begehren nach Selbsttötung, ist selten eindeutig und stabil. Er ist oftmals von Ambivalenz geprägt: Der Wunsch zu sterben paart sich immer wieder mit dem Verlangen und dem Willen nach Weiterleben – freilich entlastet von der Mühsal, die etwa die persönliche Lebenslage als unerträglich und aussichtlos erleben lässt, zum Beispiel wegen einer bereits länger anhaltenden Erkrankung.

Sterbewünsche sind immer ernst zu nehmen. Bedauerlicherweise sind sie in unserer Gesellschaft und auch in unserer Kirche über eine lange Zeit entweder tabuisiert und unbesehen pathologisiert oder sogar scharf moralisch verurteilt worden. Natürlich kann suizidales Begehren Symptom einer psychischen Erkrankung sein, auf deren Therapie jeder Suizidant einen Anspruch hat. Suizidales Begehren muss aber nicht automatisch krankhaft, sondern kann Ergebnis einer sehr bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenslage sein. An den Grenzen des Lebens können Extremsituationen entstehen, deren Aussichtslosigkeit und Belastungen einen Menschen zu einer suizidalen Handlung drängen. Deshalb verdienen die Bedrängten keine Verurteilung, sondern in ihrer Gefährdung und Verletzlichkeit Achtung und einfühlende Aufmerksamkeit.

Für Kirche und Gesellschaft müssen Achtung und Aufmerksamkeit zweifellos auch im Respekt vor der Letztverantwortung jedes Menschen für seine Lebensentscheidungen bestehen – im Letzten auch zum Suizid. Aber Gesellschaft und Kirche können sich nicht aus ihrer Verantwortung zurückziehen. Letztverantwortung bedeutet nicht Alleinverantwortung. Freiverantwortliche Entscheidungen setzen anerkanntermaßen neben dem Wissen und dem Wollen der Konsequenzen, die eine Entscheidung nach sich zieht, vor allem auch das Wählen-Können zwischen realen Alternativen von Handlungsoptionen voraus.1 Das verpflichtet Personen wie Institutionen, die mit latenten und akuten Suizidwünschen konfrontiert werden, dazu, um der freiverantwortlichen Selbstbestimmung der Suizidbegehrenden willen Alternativen zur „Exit-Option“ eines Suizides anzubieten und wenigstens die Sichtachse auf das Leben offenzuhalten.

Zu realen Alternativen gehören neben dem breiten Angebot palliativ-medizinischer wie palliativ-pflegerischer Instrumente auch psychosoziale wie spirituelle und – wo gewünscht – seelsorgerische Angebote. Wo sie fehlen oder nur unzulänglich vorhanden sind, kann kaum von einer freiverantwortlichen Entscheidung gesprochen werden. Weniger eine mangelnde Bereitschaft zur Assistenz beim Suizid steht der Selbstbestimmung vieler Menschen in Notlagen entgegen, sondern eher der Mangel an Alternativen, die ein Weiterleben möglich und sinnvoll erscheinen lassen. Deshalb muss die Gesellschaft, muss auch die Kirche ihre Möglichkeiten nutzen, solche realen Alternativen in ihren Diensten und Einrichtungen anzubieten. Das achtsame Offenhalten solcher Sichtachsen auf das Leben ist der beste Schutz eines selbstbestimmten Lebens.

1Vgl. Deutscher Ethikrat, Stellungnahme „Hilfe durch Zwang? Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung.“, Berlin 2018, S.41 f

IV.       Für einen schützenden Raum in sozialen Einrichtungen und Diensten

Zu den realen Alternativen gehören auch schützende Räume für alle, die sich einer schleichenden Normalisierung einer „Exit-Option“ durch (assistierten) Suizid nicht erwehren können oder nicht erwehren wollen. Das Urteil des BVerfG selbst weiß um die Realität prekärer Selbstbestimmung, wenn Menschen in Notlagen sich von Erwartungshaltungen – sei es von Seiten ihres unmittelbaren sozialen Umfeldes, sei es von Seiten der Gesellschaft insgesamt – zu bestimmten Entscheidungen gedrängt fühlen. Deshalb müssen ihnen etwa in hospizlich-palliativen oder pflegenden Einrichtungen schützende Räume offenstehen, in denen die suggestive Wirkung, die von Suizidassistenz als Regelangebot für Notlagen unzweifelhaft ausgeht, nicht zur Entfaltung kommen kann.

Für die Dienste und Einrichtungen der katholischen Kirche gehören solche Schutzräume zum Kern ihres religiösen Selbstverständnisses. Es dürften nicht wenige Menschen – unabhängig von ihrer konfessionellen Bindung – die Erwartung hegen, einen solchen Schutzraum gewährt zu bekommen, wenn sie sich aus freier Überzeugung in die Obhut von Einrichtungen als „Einrichtungen ihrer Wahl“ begeben, die   organisierter  Suizidassistenz  nicht  offenstehen. Das „Wunsch- und Wahlrecht“ ist für das deutsche Gesundheits- und Sozialwesen aus guten Gründen konstitutiv. Es setzt gerade die Heterogenität, also die Unterscheidbarkeit von Einrichtungsprofilen voraus, damit Betroffene zwischen solchen Diensten und Einrichtungen im Lichte ihrer Wertpräferenzen eine Wahl haben und freiverantwortlich entscheiden können. Gleichzeitig darf nie vergessen werden, dass das Angebot dieses Schutzraumes keinen Zwang zum Weiterleben unter allen Bedingungen zu bedeuten hat. Hilfe im Sterben ist – unter Wahrung des grundlegenden Ziels, Suizidwilligen Räume des Lebens zu eröffnen, wo Verzweiflung den Blick verdunkelt – selbst eine Form der Lebenshilfe. Sie achtet die Würde des Menschen und lässt im Letzten der persönlichen Gewissensentscheidung des Einzelnen jenen Raum, den niemand verwehren darf.2

Schutzräume für das Leben schließen keinesfalls aus, dass über alle Sterbe- und Suizidwünsche, wo sie sich im Verlaufe des Lebens einstellen, einfühlsam und offen gesprochen wird. Im Gegenteil, die freimütige Rede über Sterbewünsche und selbst über Formen der Suizidassistenz ist Bestandteil umfassender palliativer Begleitung – auch in konfessionsgebunden Diensten und Einrichtungen. Denn das freimütige Reden ist nicht nur dem Respekt vor der von Suizidwünschen bedrängten Person geschuldet, sondern erwiesenermaßen wichtiger Bestandteil der Suizidprävention. Aber aus dem Gebot einfühlsamer Achtung und Begleitung folgt kein Verschaffungsanspruch oder Behandlungsauftrag in Gestalt einer palliativmedizinisch oder gar seelsorgerisch ausgestalteten Suizidassistenz. Für das vom BVerfG geforderte, übergreifende legislative Schutzkonzept erwarten wir, ähnlich wie es das BVerfG mit seinem Beschluss vom 10. Dezember 2020 (Rn. 9) bekräftigt, dass es den Schutz der Autonomie und den Schutz des Lebens abgewogen berücksichtigt. Dazu gehört es u. E.,

2 Vgl. ZdK (Hg.). Stellungnahme des Hauptausschusses „Ja zur palliativen Begleitung – Nein zur organisierten Suizidbeihilfe“, 17. Oktober 2014.

dass Einrichtungen das Offenhalten solcher Schutzräume

– mindestens als Ausfluss ihres Rechts auf (korporative) Religionsfreiheit – als Schutz ihrer Bewohner*innen gewähren und damit dem „Wunsch- und Wahlrecht“ weiterhin zur Geltung verholfen wird.

 

V.        Für ethische Mindeststandards zur Gefahrenabwehr unkontrollierter Sterbehilfeorganisationen

 

Das ZdK bedauert die durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil deutlich erschwerte Abwehr jener Gefahren, die  von  geschäftsmäßigen  Sterbehilfeeinrichtungen und -organisationen ausgehen. Diese Gefahrenabwehr stand im Mittelpunkt des nunmehr für nichtig erklärten § 217 StGB. Deshalb hat auch das ZdK die dort getroffenen Regelungen (im Sinne seiner Stellungnahme „Ja zur palliativen Begleitung  –  Nein  zur  organisierten  Suizidbeihilfe“ vom 17. Oktober 2014) ausdrücklich begrüßt. Auch wenn ein uneingeschränktes, strafbewehrtes Verbot solcher Organisationen nach dem BVerfG-Urteil vom 26. Februar 2020 unmöglich erscheint, erwarten wir vom Gesetzgeber ein legislatives Schutzkonzept, das bestimmten ethischen Mindestanforderungen Genüge leistet. Dazu gehören

• der Ausbau von suizidpräventiven Angeboten im Rahmen einer Suizidpräventionsstrategie (im Sinne des von der WHO geforderten Aktionsplans Mental Health) und die Regelfinanzierung durch die öffentliche Hand (wie z. B. die U25-Suizidpräventionsberatung der Caritas).

• der Ausbau der (Beratungs-)Angebote gegen Einsamkeit und Isolation (wie #gemeinsamstatteinsam).

• verstärkte Investitionen in hospiz- und palliativmedizinische Angebote und Gewährleistung ausreichender Personalschlüssel in Einrichtungen der Alten-, Kranken- und Behindertenhilfe, um Zeit für Beziehung und Begegnung zu sichern.

• umfassende Schulungen von Mitarbeiter*innen in sozialen Berufen, Diensten und Einrichtungen zum kompetenten Umgang mit Suizidalität.

• die Ermöglichung von Schutzräumen  in  Diensten und Einrichtungen, die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe im Sinne des ‚Wunsch- und Wahlrechts‘ von Dienstleistungsnutzer*innen als Ausdruck ihres spezifischen Selbstverständnisses ablehnen.

• ein allgemeines Verbot von Werbung für geschäftsmäßige Suizidbeihilfe.

Der Aufbau von förmlichen Suizidassistenz-Beratungsstrukturen, wie ihn Vorschläge aus dem Kreis der Mitglieder des Deutschen Bundestags vorsehen, die im Februar 2021 bekannt geworden sind, ist ein Schritt zu viel in Richtung einer Veralltäglichung des Suizids als Normalfall des Sterbens. Sollte es dem Gesetzgeber im Gefolge des Verfassungsgerichtsurteils dennoch unumgänglich erscheinen, im Rahmen des übergreifenden legislativen Schutzkonzeptes förmliche Beratungs- bzw. Genehmigungsstrukturen für suizidwillige Personen aufzubauen, so müssen wenigstens folgende Mindeststandards gewährleistet sein:

• Festhalten an Zugangsbeschränkung  zu  Pharmaka mit potenziell  letaler Wirkung  gemäß  § 13 Betäubungsmittelgesetz (mindestens strikte Ärzt*innenbindung, keine Freiverkäuflichkeit im Sinne des BVerfG-Beschlusses vom 5. Februar 2021).

• Effektive Prüfung, ob die Voraussetzungen der Ernsthaftigkeit, Dauerhaftigkeit und Freiverantwortlichkeit eines Suizids im Einzelfall vorliegen (Abwehr unzulässiger Fremdeinwirkungen, Aufzeigen von Alternativen zwecks Herstellung des für freiverantwortliche Entscheidungen unverzichtbaren Wählen-Könnens).

• Ausschluss einer vorausverfügenden Suiziderklärung (nach dem Muster einer Patient*innenverfügung als vorausverfügender Erklärung über Behandlungsmaßnahmen).

Der Umgang mit dem assistierten Suizid in unserer Gesellschaft verlangt reflektierte und sensible Beiträge, die zuvorderst das Wohl des Menschen im Blick haben. Einen solchen Beitrag möchten wir, aus christlicher Verantwortung, hiermit vorlegen.

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