Aktuelle Entwicklungen, Rede der ZdK-Präsidentin

im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

Anhaltender Krieg in der Ukraine, Flucht und humanitäre Lage/Hilfe sowie Menschenrechte weltweit 

Liebe Mitglieder des ZdK,
Sehr geehrte Damen und Herren, 

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine dauert schon fast zehn Monate. Die Gefahr, dass wir uns an diesen Krieg gewöhnen, ist groß. Wir werden Zeuginnen und Zeugen eines Kriegsgeschehens, das Millionen von Menschen zur Flucht gezwungen und in Europa wie weltweit gravierende Auswirkungen hat.

Für große Beunruhigung sorgte kürzlich der Einschlag einer Rakete in Polen, im Grenzgebiet zur Ukraine, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen. Die Stunden der Unsicherheit, bis geklärt war, dass es ukrainische Flugabwehrraketen waren, zeigten uns allen, wie schnell der Krieg und die unmittelbare Bedrohung näher rücken können. 

Ukrainische Truppen haben mit der Befreiung der Stadt Cherson einen wichtigen militärischen Erfolg erzielt. Kurz darauf – noch während des G 20-Gipfes auf Bali – haben die russischen Militärs einen der massivsten Luftangriffe der vergangenen Monate durchgeführt, der auf ukrainische Städte und vor allem die kritische Stromversorgung zielte. Putin beweist weiter, dass er willens ist, das Leid des ukrainischen Volkes über die Grenzen des Erträglichen hinaus zu vergrößern. 

Laut UN-Angaben sind  acht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in europäischen Ländern als Flüchtlinge registriert, über 6,5 Millionen Menschen sind innerhalb der Ukraine auf der Flucht. Die Menschen vor Ort zeigen Durchhaltewillen, aber der lange Winter kann dazu führen, dass die Zahl der Geflüchteten wieder ansteigt. Lassen Sie uns werben für Solidarität, für Mitmenschlichkeit und für eine unkomplizierte Hilfe. Sei es in Form von Unterstützung für kirchliche Partner in der Ukraine und ihren Nachbarländern, wie sie beispielsweise RENOVABIS eindrucksvoll leistet. Oder wie sie die Mitarbeitenden im Generalsekretariat Woche für Woche erleben: die Herz Jesu-Gemeinde, in deren Räumen das ZdK seit Januar residiert, hilft Geflüchteten in den ersten Stunden nach ihrer Ankunft in Berlin.

Ein schnelles Kriegsende ist derzeit nicht in Sicht und wir müssen uns darauf einstellen, dass der Wiederaufbau des Landes Jahrzehnte dauern wird, weshalb die G7- und EU-Staaten kürzlich bereits einen sogenannten “Marshallplan” angekündigt haben. 

DAs ZdK hat sich auf verschiedenen Ebenen mit diesem Krieg befasst:

Der ZdK-Arbeitskreis „Nachhaltige Entwicklung und globale Verantwortung“ hat im September die Erklärung „Friedensethik in Kriegszeiten: Impulse für die Verteidigungspolitik der 20er-Jahre“ erarbeitet, die wir als Präsidium beschlossen haben. Sie gilt auch drei Monate später: Wir stehen in der Pflicht, für die Schwachen zu optieren und die Solidarität mit der Ukraine entschieden aufrechtzuerhalten. Das Recht auf Selbstverteidigung bleibt unbestritten. Waffenlieferungen, die der Verteidigung dienen, sind legitim. Gleichzeitig braucht es für einen dauerhaften Waffenstillstand diplomatische Bemühungen. Gerade Deutschland muss stärker denn je in die internationale Zusammenarbeit, die humanitäre Hilfe und den Klimaschutz investieren, um auf einen umfassenden sozialen, ökologischen und politischen Frieden hinzuarbeiten.

Im Oktober hat der ZdK-Arbeitskreis „Europäische Zusammenarbeit und Migration“ in Kooperation mit Renovabis eine Reise an die polnisch-ukrainische Grenze durchgeführt. Sie diente dazu, Solidarität zu zeigen, Gesprächsfäden zu knüpfen und von den Menschen an der EU-Außengrenze zu lernen. Marie von Manteuffel wird nachher dazu berichten. 

Angesichts der Krisen weltweit hat sich die Zahl derjenigen, die nach Europa und auch Deutschland fliehen, in den letzten Monaten stark erhöht. Die Situation an den Außengrenzen auf dem Mittelmeer und der sogenannten Balkanroute ist unerträglich - in Melonis Italien werden die Häfen für Rettungsboote gesperrt und eine europäische Lösung erscheint unerreichbar. Push-Back war das Unwort des vergangenen Jahres. Es ist eine humanitäre Bankrotterklärung des Friedenskontinents Europa, dass dieses Vorgehen noch immer praktiziert wird! Bis Oktober haben zudem 180.000 Schutzsuchende insbesondere aus Syrien, Afghanistan und dem Irak – viele von ihnen unbegleitete Minderjährige – Asyl beantragt. Unterkünfte, Schulplätze und Beratungsangebote reichen in den Kommunen oft nicht mehr aus. Einen Lichtblick gibt es für die rund 135.000 Menschen, die geduldet in Deutschland leben: das Chancen-Aufenthaltsrecht wurde vor einer Woche im Bundestag beschlossen 

Weltweit geraten die Menschenrechte weiter unter Druck: Nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini, die Mitte September von der Sittenpolizei in Iran festgenommen worden war und in Polizeigewahrsam unter ungeklärten Umständen verstarb, nehmen die Proteste im Land zu. Nach Schätzungen wurden bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei mehr als 420 Menschen getötet und mehr als 17.000 Menschen festgenommen. Der UN-Menschenrechtsrat hat eine unabhängige Untersuchung von Verstößen gegen die Menschenrechte beschlossen.

 

2. Soziale Frage und soziale Gerechtigkeit

Mit den Gas- und Strompreisbremsen sollen Bürger*innen, Unternehmen und gemeinnützige Einrichtungen von den seit Beginn des Krieges stark gestiegenen Energiekosten entlastet werden. Als Soforthilfe übernimmt der Bund den Dezember-Abschlag für Gas und Wärme für private sowie kleine und mittlere gewerbliche Kunden. Ab 2023 sollen Preisbremsen für Strom- und Gas eine Basisversorgung zu günstigeren Preisen sicherstellen. Als ZdK begrüßen wir, dass die Regierung die Vorschläge der „ExpertInnen-Kommission Gas und Wärme“ zeitnah aufgegriffen hat!

Wohnen – verschärft durch die hohen Nebenkosten und Heizkosten – ist vielleicht die zentrale soziale Frage unserer Zeit. Das neue Wohngeldplus ist eine wichtige Hilfe, gleichwohl warnen die kommunalen Spitzenverbände, dass die Auszahlung noch Monate dauern kann. Als eine der größten Grundstücks- und Immobilieneigentümerinnen in Deutschland ist die Katholische Kirche selbst in der Pflicht, Antworten auf die dringliche Frage des Wohnens geben. Ich bin dankbar, dass der VV ein Antrag dazu vorliegt.

Prekäre Lebenslagen haben sich verfestigt. Deshalb brauchen wir dringend Reformen. Die Einführung des Bürgergeldes zum 01. Januar 2023 ist ein wichtiges Signal. Für andere Probleme gibt es noch keine ausreichenden Lösungen: Rund 14 Prozent der jungen Menschen jedes Jahrgangs bleiben auch weiterhin ohne Berufsabschluss, nur noch jede/r dritte Jugendliche startet nach der Schule erfolgreich in eine Ausbildung. Wozu es führt, wenn jedes noch so schlechte Jobangebot angenommen werden muss, sehen wir an dem in zwanzig Jahren Hartz IV stark gewachsenen Niedriglohnsektor. Es bleibt herausfordernd, Menschen zu empowern und ihnen eine existenzsicherende Grundsicherung zu garantieren, ohne gleichzeitig Neiddebatten Nahrung zu geben. Über das rechte Maß von fordern und fördern wird auch jenseits von Hartz IV weiter gestritten werden.

Angesichts der Tatsache, dass jedes 5. Kind in Armut lebt, ist es ein wichtiges Signal, dass das Kindergeld auf 250 Euro angehoben wird. Aber nicht alle Kinder profitieren davon, weshalb die zugesagte Grundsicherung für Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsene, die noch im Bildungssystem sind, dringend nötig ist!

In der Mitte November veröffentlichten Studie “Jugend in Deutschland” zeigt sich, dass die Nachwirkungen der Corona-Epidemie auf die psychische Gesundheit junger Menschen nicht überstanden sind. Sie beurteilen ihre Lebensqualität, die wirtschaftliche Lage oder den  gesellschaftlichen Zusammenhalt schlechter als vor sechs Monaten. Eine steigende Zahl junger Menschen gibt an, suizidale Gedanken zu haben – das muss Anlass zur Sorge sein.

 

3. Klimakonferenz Sharm el Sheikh,  06. – 18. November

Andererseits: Es sind junge Menschen, die uns eindrucksvoll – und zumeist friedlich – zeigen, wie man sich engagiert und kompetent für Nachhaltigkeit und gegen den Klimawandel einsetzt. Die Menschheit kann es sich nicht mehr leisten, die notwendigen Maßnahmen für die globale sozial-ökologische Transformation aufzuschieben. Wir müssen das 1,5-Grad-Ziel einhalten und aus allen fossilen Energieträgern aussteigen. Daneben braucht es einen starken Ausbau von erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff. Wir müssen in den Krisenmodus schalten und die fossile Sackgasse verlassen!

Klimaschutz ist eine Frage der Gerechtigkeit, sowohl zwischen dem Globalen Süden und Norden als auch zwischen den Generationen. Seit Jahren gehen junge Menschen mit Fridays for Future auf die Straße, um eine politische Antwort einzufordern. Die Proteste der Gruppe „Letzte Generation“ führen uns vor Augen, dass Menschen in sich verschärfenden Krisen mitunter zu immer verzweifelteren Mitteln greifen. Ich werbe dafür, dass das Ringen um Nachhaltigkeit weiterhin gewaltlos geschieht. Bei zivilem Ungehorsam sollten Ziel und Aktion eng miteinander verbunden sein. Gleichzeitig warne ich davor, dass sich die gesellschaftliche Debatte von einem Ringen um die notwendigen klimapolitischen Instrumente zu einer Auseinandersetzung um die zivilgesellschaftlichen Mittel verschiebt.

Die Ergebnisse der diesjährigen Weltklimakonferenz sind katastrophal. Es gelingt der Weltgemeinschaft nicht, den kollektiven Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger zu beschließen. Der Globale Norden muss – auch im Sinne des Verursacherprinzips – die sozial-ökologische Transformation besonders stark vorantreiben. Er muss aber auch die Staaten des Globalen Südens finanziell befähigen, gleiches zu tun. Ich freue mich, dass in Sharm el Sheikh zumindest bei der Finanzierung für Klimaschäden ein Durchbruch erreicht werden konnte. Der Beschluss, einen neuen Fonds auf den Weg zu bringen, ist eine erste Antwort auf eine Herausforderung, die uns noch über Dekaden umtreiben wird.

Heute Mittag wird Gelegenheit sein, im Rahmen des Podiums mit Staatssekretär Sven Giegold über die Klima- und Energiekrise zu sprechen.

 

4. Bioethische Fragen und Selbstbestimmungsgesetz

Wir haben uns im ZdK in diesem Jahr intensiv mit bioethischen Fragen befasst. Dabei wurde immer wieder deutlich, dass kirchlichen Akteur*innen wie dem ZdK für Fragen des Lebensanfangs und -endes von Gesprächspartner*innen aus Politik und Gesellschaft Expertise zugeschrieben und Vertrauen entgegengebracht wird.

Besonderes Augenmerk möchte ich auf das Thema der Triage legen. Am 16. Dezember 2021 hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass Menschen mit Behinderungen, im Falle einer Triage nicht benachteiligt werden dürfen. Mit Blick auf die gewachsene Bedeutung der Triage während der Corona-Pandemie und auf dieses Urteil hat das ZdK-Präsidium einen Ad hoc-Arbeitskreis eingesetzt, dessen Federführung Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl übernommen hat. Auf Grundlage, der vom Ad hoc AK Triage erarbeiteten Argumentationshilfe wurde im ZdK-Generalsekretariat eine Stellungnahme zum Gesetzentwurf verfasst.  Kernpunkte waren 1. Diskriminierungsrisiken für strukturell benachteiligte Personengruppen, 2. Zuteilungskriterien „Überlebenswahrscheinlichkeit“ und „Dringlichkeit” sowie 3. Ausschluss von „Ex-post-Triage". Nachdem der Bundestag am 10. November 2022 die Änderung des Infektionsschutzgesetzes zu Triage verabschiedet hat, haben Andreas Lop-Hüdepohl und ich presseöffentlich begrüßt, dass die „Ex-Post-Triage" unzulässig bleibt; jedoch gefordert, dass Zuteilungskriterien nachgeschärft werden müssen.
 

Selbstbestimmungsgesetz

Die gesetzliche Grundlage für die Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrags ist in Deutschland das 1980 beschlossene sogenannte Transsexuellen-Gesetz. Für trans* und inter* Menschen ist das durch dieses Gesetz vorgegebene Verfahren häufig eine unzumutbare Fremdbestimmung. Die zweifache medizinisch/psychiatrische Begutachtung geht in der Regel mit entblößenden Gesprächen über den eigenen „transsexuellen Lebenslauf“ und einer Pathologisierung einher. Mit dem Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz will die Bunderegierung nun einen rechtlichen Rahmen schaffen, durch den trans* und inter* Menschen selbstbestimmt eine Anerkennung ihrer Identität erreichen können. Der ZdK-Vollversammlung liegt dazu ein Antrag vor, der das begrüßt.


5. Erneuerte Grundordnung, Synodalversammlung, Verstetigung von Synodalität

Eine Gleichstellung queerer Menschen im kirchlichen Kontext haben sich viele Akteure durch die reformierte „Kirchliche Grundordnung“ erhofft, die die deutschen Bischöfe am 22. November verabschiedet haben. Ich denke, wir sind uns einig, dass es eine große Erleichterung ist, dass die "Loyalitätsobliegenheiten" für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Einrichtungen der katholischen Kirche nun weitestgehend abgeschafft sind. Dass die persönliche Lebensführung von Mitarbeitenden künftig Privatsache ist, ist ein längst überfälliger Paradigmenwechsel. Mehrere Fragen sind noch nicht zufriedenstellend gelöst, das gilt für den Kirchenaustritt und auch die Nichtbenennung von trans*Personen.

Was bleibt: Es ist wichtig, dass wir auch über den Synodalen Weg hinaus die dort diskutierten Themen weiter kritisch begleiten. Keine Frage: wir brauchen eine Verstetigung Synodaler Strukturen in der katholischen Kirche in Deutschland. Es gilt nun, den neu zu entwickelnden Synodalen Gremien (Ausschuss und Rat) ein Gesicht und eine Stimme zu geben.  

Der Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe Mitte November in Rom hat bestätigt, was wir seit Langem ahnen, ja wissen: Im Vatikan gibt es erhebliche Vorbehalte gegen den Synodalen Weg in Deutschland. Kardinäle wie Marc Ouellett und Luis Ladaria kritisierten Methoden, Inhalt und Ziel ifundamental. Die deutschen Bischöfe waren mit der Idee eines Moratoriums konfrontiert.

Es gibt offensichtlich im Vatikan und in Deutschland unterschiedlich intensive Erkenntnisse darüber, wie sehr der Missbrauchsskandal einen Synodalen Weg aus der Krise verlangt. Und wie wichtig dafür die offene Zusammenarbeit zwischen geweihten und nicht geweihten Mitgliedern der Kirche ist. In der katholischen Kirche in Deutschland ist in den letzten Jahren klar geworden, dass nur in einer inhaltlichen UND strukturellen Erneuerung ein Weg gespurt werden kann, der die Kirche wieder glaubwürdig machen kann.

Ich habe wahrgenommen, dass die deutschen Bischöfe in Rom einen starken, die zentralen Themen benennenden Auftritt hatten. Dafür bin ich dankbar. Wir werden den Synodalen Weg in Deutschland ruhig und konzentriert fortsetzen und abschließen. Die Kraft guter Argumente wird sich am Ende dort durchsetzen können, wo Argumente überhaupt zählen. Wir teilen diese Argumente zwischen Bischöfen und Laien. Es ist eine zentrale Erfahrung auf dem Synodalen Weg in Deutschland, dass manche Barrieren der Kommunikation gefallen sind. Wir leben mehr denn je in einem Miteinander. Das ist ein Schatz, den wir gemeinsam erworben haben. Das wird 2023 zu einem spannenden Jahr der katholischen Kirche machen. Für uns in Deutschland und für die Weltkirche.

 

Dr. Irme Stetter-Karp

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