„Zwischenruf zu Deutschlands globaler Verantwortung“

Erklärung des Präsidiums des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine am 24.02.2022 stellt eine geopolitische Zäsur dar. Für die Menschen in der Ukraine bedeutet die militärische Invasion unfassbares Leid. Dieses Leid mit allen zur Verfügung stehenden Mittel in der Ukraine selbst, aber auch durch die Aufnahme von durch den Krieg vertriebenen Menschen bei uns zu lindern, hat absolute Priorität. Gleichzeitig sind die Auswirkungen auch in Deutschland und ganz Europa zu spüren und stellen Regierungen sowie die EU-Institutionen vor grundsätzliche und praktische Herausforderungen. Mit seiner Regierungserklärung vom 27.02.2022 spiegelte Bundeskanzler Olaf Scholz wider, was viele Menschen gerade fühlen. Zum einen wird sehr deutlich, dass die unterschiedlichen Krisen nicht nacheinander passieren, sondern miteinander. Sie stehen in Beziehung und beeinflussen sich gegenseitig. Dies darf aber nicht dazu führen, dass wir Krisen und ihre Bewältigung gegeneinander ausspielen oder dass wir uns von der Gleichzeitigkeit und Komplexität der Geschehnisse lähmen lassen.

Im Gegenteil – das Zusammentreffen von Pandemieerfahrung, Krieg in Europa und Klimakatastrophe muss Bestärkung sein, die notwendigen grundlegenden Veränderungen nicht zu stoppen, sondern kraftvoller voranzutreiben. Als Gesellschaft dürfen wir nicht in die Falle laufen, in Zeiten großer Umbrüche und Unsicherheit einen politischen „Rollback“ hinzunehmen, anstatt nachhaltige politische Weichen für die Zukunft zu stellen.

Gerade jetzt müssen wir aus unserem Glauben heraus ein Zeichen des Mutes gegen Resignation und Verzagtheit setzen. Dazu müssen wir in der Kirche mit gutem Beispiel vorangehen. Unser Handeln muss entschlossen, wirksam und solidarisch sein, um unserem Auftrag gerecht zu werden. Im Kontext von Krieg, Klimakrise und eskalierenden Konflikten um fossile Energieträger und die Nahrungsmittelversorgung bedeutet dies, Kirchenland ökologisch zu bewirtschaften, kirchliche Gebäude mit energieeffizienten und erneuerbaren Heizungssystemen auszustatten, Mobilität konsequent klimafreundlich auszurichten in die Erzeugung von erneuerbaren Energien einzusteigen und diese massiv auszubauen. Umfassende Solidarität und ein suffizienter Lebensstil müssen Kern der kirchlichen Verkündigung sein. Es ist an der Zeit, die Umsetzung jener unverzichtbaren Vorhaben zu beschleunigen, die in Empfehlungen beschlossen wurden und in Studien anschaulich vor Augen geführt werden.[1]

Der russische Angriffskrieg hat deutlich gemacht, dass nach dem Überfall auf die Krim weder die diplomatischen Instrumente noch die angepassten militärischen Konzepte der NATO dieses Völkerunrecht verhindert haben. Europa als Friedensprojekt und die Gestaltung der zukünftigen Weltordnung sind in Frage gestellt.

Europa als Friedensmacht muss auch in Kriegszeiten Kompass und Anspruch der politisch Handelnden bleiben. Angesichts des militärischen Angriffs auf ein europäisches Land muss nach Wegen gesucht werden, das Friedensprojekt Europa zu erhalten und seiner Verantwortung für die Welt gerecht zu werden.

Aus Sicht des ZdK bedeutet das:

Es braucht eine neue Debatte, welchen Stellenwert und welche Formen militärische Verteidigung für eine künftige Friedensordnung haben wird. Es darf keine einseitige Fokussierung auf die militärische oder die diplomatische Seite geben. Das angekündigte Sondervermögen für die Ausrüstung der Bundeswehr und die Einhaltung des zugesagten 2%-Ziels der NATO sind eine Seite der Medaille. Die andere Seite – Investitionen in Diplomatie und internationale Zusammenarbeit – darf deswegen nicht beeinträchtigt werden. Beide Bereiche tragen zur Sicherheit bei und müssen gleichermaßen und nicht auf Kosten des jeweils anderen finanziert werden. Es ist nun umso mehr darauf zu achten, den entwicklungspolitischen Etat gemäß dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung an die Verteidigungsausgaben zu koppeln und nicht, wie im aktuellen Regierungsentwurf vorgesehen, um über 12 % zu kürzen. Darüber hinaus sind auch die aktuell vorgesehenen Kürzungen bei der humanitären Hilfe dringend zu korrigieren und gleichzeitig längerfristige Formen der zivilen Krisenprävention zu stärken.

Der Angriffskrieg erschüttert u.a. auch die Nahrungsmittelmärkte. In den letzten dreißig Jahren hat sich der globale Warenstrom fast verfünffacht. Die Nahrungs- und Futtermittelproduktion ist globalisiert. Die militärische Aggression Putins gegen die Ukraine hat daher auch Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit der ganzen Welt. Jetzt gilt es unsere Lebensmittelsysteme umso mehr und konsequent weiter umzugestalten. Dabei darf sich der Globale Norden seiner Verantwortung für die Menschen des Globalen Südens nicht entziehen. Die steigenden Nahrungsmittelpreise haben katastrophale Auswirkungen. Bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch schnellten beispielsweise in Tunesien, in Ägypten, im Libanon oder in Kenia die Preise für Mehl und Speiseöl nach oben, da diese wie viele andere Länder den Großteil ihres Bedarfs an Weizen und Sonnenblumenöl aus der Ukraine und aus Russland decken. In Somalia sowie in Äthiopien herrscht nach erneuter extremer Dürre eine Hungersnot, jetzt noch einmal verschärft durch die ausbleibenden Düngerimporte aus der Ukraine und Russland. Während Weizen hier vorwiegend von Menschen der Mittelschicht genutzt wird, betrifft der Mangel an Düngerimporten v.a. ärmere Bevölkerungsschichten und die Kleinbauern, die lokale Getreidesorten anbauen. In der Vergangenheit haben steigende Nahrungsmittelpreise immer wieder zu gesellschaftlichen Unruhen geführt und bereits existierende Konflikte vertieft. Um die Preissteigerungen für Länder des Globalen Südens abzufedern, müssen kurzfristig die Mittel für das Welternährungsprogramm zum Kauf von Getreide erhöht werden. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Lebensmittelrationen des Welternährungsprogrammes im kriegs- und hungergeplagten Jemen fast halbiert werden. Darüber hinaus sollte die Reduktion der Tierbestände erwogen werden, damit mehr Getreide für die menschliche Ernährung zur Verfügung steht und erwartbare Ernteverluste abgemildert werden. Weiterhin braucht es eine wirksame Eindämmung der Nahrungsmittelverschwendung.

Die Bekämpfung des weltweiten Hungers ist eine Voraussetzung für stabile politische und wirtschaftliche Verhältnisse weltweit. Dies schließt eine extensive und nachhaltige Landwirtschaft sowie funktionierende Ökosysteme ein. Ein beschleunigter Klimaschutz senkt das Risiko für Ernteausfälle im Globalen Süden. Die ökologischen Krisen und die Hungerkrise sind eng miteinander verwoben und dürfen deshalb nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Angesichts der russischen Invasion müssen sich Deutschland und Europa auf ein russisches Gasembargo vorbereiten und ein klares Signal setzen, sich von russischen Gas- und Ölimporten unabhängiger zu machen. Dazu sollten russische Energieimporte verstärkt besteuert werden und die Einnahmen in einen Treuhandfonds für den notwendigen Wiederaufbau der Ukraine fließen. Gleichzeitig müssen wir weiter an einer effektiven europäischen klimapolitischen Architektur mit der CO2-Bepreisung als Kernelement festhalten und arbeiten. Kurzfristige verstärkte Nutzungen fossiler Energieträger sollten auf das Notwendigste reduziert werden. Die EU muss zügig die vollständige Umsetzung des “Fit for 55“-Paketes vorantreiben. Neben der Verschärfung des bestehenden Europäischen Emissionshandels, der vor allem Industrie und Stromwirtschaft abdeckt, sieht der Green Deal auch die Schaffung eines zweiten Emissionshandels für den Verkehrs- und Gebäudesektor vor, gegen den sich Teile des EU-Parlaments und auch einige Mitgliedstaaten bisher stemmen. Trotz aktuell hoher Energiepreise ist ein langfristiges Preissignal für fossile Energien essenziell, um Anreize für Investitionen in die Sektorkopplung (E-Mobilität, Wärmepumpen), die Erneuerbaren Energien sowie die Energieeffizienz zu stärken. Ein zweiter Emissionshandel kann auch bei möglicherweise zwischenzeitlich wieder sinkenden Energiepreisen dafür sorgen, dass diese benötigten Investitionen getätigt werden.

Der Verzicht auf russische Energieimporte und die CO2-Bepreisung führen zu höheren Energiepreisen mit steigenden Belastungen bis weit in die Mittelschicht. Das birgt gesellschaftliche Sprengkraft, die durch sozialpolitische Reformen abzufedern ist. Ziel muss ein Ausgleichsmechanismus sein, der die betroffenen Haushalte zielgenauer als die bisherigen Systeme entlastet. Eine Möglichkeit stellt dabei ein verbrauchsunabhängiges Energiegeld dar, das zusammen mit dem geplanten Klimageld eingeführt werden kann, um die sozialen Auswirkungen abzufedern. Es gilt, Verteilungskonflikte in der Energie- und Klimapolitik nicht durch Preisdeckel oder Subventionen zu verschleiern. Stattdessen muss das verfügbare Einkommen jener Menschen erhöht werden, die einer Unterstützung am dringendsten bedürfen. Dies ist vor allem eine Frage der Solidarität.

Bereits jetzt hat der Krieg in der Ukraine über 10 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Mindestens vier Millionen Menschen haben das Land verlassen, etwa die Hälfte von ihnen fand in Polen Aufnahme. Die Anwendung der Schutzgewährungsrichtlinie 2001/55/EG auf ukrainische Geflüchtete und das damit einhergehende beschleunigte Aufnahmeverfahren sowie der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt sind ausdrücklich zu begrüßen. Diese Rechte sind auch Drittstaatsangehörigen diskriminierungsfrei zu gewähren, die sich in der Ukraine aufgehalten haben und genauso vor dem Krieg fliehen müssen.

Grundsätzlich gilt es darauf zu achten, weder diejenigen Menschen und ihre Bedarfe zu vergessen, die mittelbar vom Krieg in der Ukraine und seinen Folgen betroffen sind, noch sämtliche andere von Krieg und Katastrophen erschütterte Menschen, sei es in Afghanistan, im Jemen oder eben am Horn von Afrika.

 

[1] Bereits im Jahr 2018 hatte die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) unter dem Titel „Schöpfungsverantwortung als kirchlicher Auftrag“ zehn Handlungsempfehlungen zu Ökologie und nachhaltiger Entwicklung für die deutschen (Erz-)Diözesen beschlossen. Wissenschaftliche Grundlagen liefern die Studie „Wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann“ der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ der Kommission Weltkirche der DBK aus dem Jahr 2021 sowie der im April 2022 veröffentlichte dritte Teil des sechsten IPCC-Sachstandsbericht – mit Fokus auf der Minderung des Klimawandels – zu nennen.

 

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