Ermutigung zum C Die Welt braucht die Kirche als versöhnende, verbindende Kraft

Impuls und Ausblick von Dr. Peter Frey im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

Ermutigung zum C 

Die Welt braucht die Kirche als versöhnende, verbindende Kraft


Meine Damen und Herren,

herzlichen Dank für die Einladung, vor Ihnen zu sprechen. „Wo steht unsere Kirche heute?“ – dieses Thema ist mir gestellt worden. Ich bedaure, dass ich die Debatten des gestrigen Tages wegen beruflicher Verpflichtungen in Mainz nicht habe verfolgen können. Ich will auch darauf hinweisen, dass ich hier nicht in meiner Funktion als ZDF-Chefredakteur spreche, sondern als Privatmann, Mitglied dieses Gremiums und sicher auf der Grundlage meiner Erfahrung als politischer Journalist. Ich will heute Morgen die Frage stellen, welche Rolle die Kirche in einer Welt spielen soll, die, wie Außenminister Steinmeier schon im letzten Jahr gesagt hat, „aus den Fugen geraten“ ist. Lange waren wir nicht mehr mit einer solchen Fülle von Problemen, sich überlagernden Konflikten konfrontiert wie in diesem Herbst. Wir sollten darauf nicht nur als Staatsbürgerinnen und -bürger, sondern auch als Christen und Kirche reagieren. Die Welt braucht die Kirche, als versöhnende, verbindende Kraft – und mehr denn je als eine Art Vergewisserungsinstanz, die uns Hinweise darauf gibt, wie wir mit diesen sich verschärfenden Spannungen umgehen sollen.

Ich will deshalb heute Morgen diese Konfliktlagen beschreiben – und an manchen Stellen andeuten, wo es meiner Auffassung nach Handlungsoptionen für die Kirche gibt. Ich will ein paar Anmerkungen zu den Machtverhältnissen in der Kirche machen, die mit der Synode deutlich geworden sind. Mein Thema ist der Terror, der Europa erfasst hat, die Flüchtlingswelle als Teil einer globalisierten Welt und die Notsituation, in die das „Projekt Europa“ geraten ist. Dabei habe ich im Ohr, wie Papst Franziskus bei seiner Rede vor dem Europaparlament dieses Europa ermahnt hat. Aber welchen Ausweg gibt es aus der Krise des Projekts „Europäische Integration“?

„Aus den Fugen“ - wie könnte man diesen Befund noch steigern? Ich fürchte, wir müssen ein Wort dafür finden, denn dieses Jahr 2015 hat unsere Welt noch einmal unsicherer und weniger berechenbar gemacht. Spätestens mit der Terrorwelle von Paris und der Absage des Freundschaftsspiels der Nationalmannschaft am Dienstag ändert sich auch das Lebensgefühl der Deutschen, das lange Jahre von einer Art neuer Biedermeierlichkeit geprägt war, einer Selbstzufriedenheit, gespeist aus wirtschaftlichem Wohlstand, Entfernung von den Konflikten dieser Welt und einen Debatten und Zumutungen vermeidenden Regierungsstil der Bundeskanzlerin. Seit diesem Jahr ist alles anders. Bei den Deutschen zeigen sich Zeichen der Verunsicherung. Radikale Bewegungen und Parteien gewinnen Boden. Beunruhigung entsteht. Und auch die Kanzlerin zeigt in der Flüchtlingspolitik Haltung, die allerdings für Polarisierung sorgt.

2015 - ein Jahr des Schreckens

Wenn wir in sechs Wochen eine Bilanz des Jahres 2015 ziehen, wird gewiss das Stichwort Terror und gleich zweimal der Schauplatz Paris fallen. Im Januar haben islamistische Terroristen in der Stadt der Aufklärung und des Lichts die Satirezeitschrift Charlie Hebdo angegriffen und jüdische Mitbürger angegriffen, und damit das freie Wort, eine pluralistische Gesellschaft und eine religiöse Minderheit. Dann, vor einer Woche: eine Welle ungeheuer brutaler Gewalt, Maschinengewehrsalven gegen Restaurant- und Konzertbesucher und ein offenbar gescheiterter spektakulärer Attentatsversuch auf ein Fußballstadion – ein Versuch, die größtmögliche Bühne für einen Massenmord zu finden.

Richteten sich die Anschläge im Januar noch gegen klar erkennbare Opfer, Journalisten, Karikaturisten, Juden – so ging es vor einer Woche offenbar nur um die Morde an sich, denn auch viele Muslime gehörten zu den Toten und Verletzten. Das Ziel war Terror, Schrecken, global und live vermittelt. Mich hat die Inszenierung dieser Nacht an die Rede des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels erinnert. Der Muslim Navid Kermani hat im Oktober in der Paulskirche gesagt: wir müssen den Enthauptungsvideos des Islamischen Staates ein Bild der Brüderlichkeit entgegenstellen und zu einem gemeinsamen Gebet aufgerufen. Die Mord-Nacht von Paris war ein überdimensionales Gewaltvideo. Sie wurde in real time in alle Welt übertragen. Die Bilder sind mit all ihrem Grauen in alle Medien und damit in uns eingedrungen. So gesehen waren die Täter schrecklich erfolgreich.

Das Vordringen von Gewalt wird auch in anderer Hinsicht von diesem Jahr bleiben, als verbale, kommunikative Gewalt. Ich meine das Eindringen von Häme und Hass in unsere politische Kultur, verbreitet durch Kommunikationsmittel, die uns doch angeblich immer mehr miteinander verbinden sollen. Sie tun das, gewiss, und niemand kommt mehr ohne sie aus. Sie schaffen aber auch eine neue Art von Öffentlichkeit, in der Verrohung herrscht und staatlicher Kontrollverlust. Oft wird diese Verbal-Gewalt durch die Angst vor dem Fremden erklärt oder den Verlust von politischer Heimat. Aber irgendwann geht es nicht mehr um Verstehen, sondern um Abgrenzung. Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus oder der Aufruf zum Umsturz unserer politischen Ordnung oder gar zum Mord an ihren Repräsentanten markieren die Grenze der notwendigen Toleranz in einer offenen Gesellschaft.

Verbale Gewalt steht am Anfang. Sie kann aber leicht in Taten münden, ja sogar in Mordanschläge – wie wir unweit von hier jüngst in Köln gesehen haben. Die Debatte darüber, wie Mittel der Sozialen Kommunikation zu Kommunikationsplattformen von Extremisten werden können, ist dringend erforderlich. Facebook und Twitter sind keine zu vernachlässigenden Randbereiche mehr. Gewaltbotschaften oder Volksverhetzung sind in diesen öffentlichen Räumen ebenso wenig zu tolerieren wie in anderen Bereichen der Öffentlichkeit, auf der Straße oder in konventionellen Medien. Wir brauchen hier dringend Regeln, Kontrolle und Überwachungsorgane.

Die Flüchtlingskrise

2015 konfrontiert uns mit der Zuspitzung einer weiteren Krise, der Flüchtlingskrise. Nein, sie ist nicht neu. Flüchtlinge drängen seit mindestens zwei Jahrzehnten an die europäischen Grenzen. Wir haben die Bilder doch nicht vergessen: vom schockierten EU-Kommissionspräsidenten Baroso vor den weißen Särgen in Lampedusa bis zur demonstrativen Pastoralreise des gerade gewählten Papstes auf diese Insel, die längst zum Symbol geworden ist. Franziskus nutzte sie zu einer wütenden Ermahnung zur Menschlichkeit. Und wenn wir hier auch darüber sprechen, was die Kirche erreichen kann, so würde ich das als Beispiel nennen und behaupten, es war nicht zuletzt der dramatische Appell von Franziskus, der dazu führte, dass die Rettungsaktionen wieder aufgenommen wurden und nicht weiter hunderte oder wahrscheinlicher: tausende Menschen im Mittelmeer ertranken.

In diesem Herbst hat sich der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung verschoben – zur Balkanroute. Hundertausende, vielleicht über eine Million Menschen werden dieses Jahr nach Deutschland strömen. Man könnte, was sich ereignet, auch so beschreiben: Europa, Deutschland zumal, erfährt, dass Globalisierung mehr ist als die Öffnung der Märkte. Globalisierung hat nicht nur eine ökonomische, sie hat auch eine menschliche, eine humanitäre Dimension. Menschen in Afrika oder in den durch Krieg und Bürgerkrieg heimgesuchten Ländern von Syrien bis Afghanistan sind nicht nur Kunden und Konsumenten für Waren „made in Germany“. Ähnlich wie einst die DDR-Bürger durchs Westfernsehen wissen sie, weiß die durch das Internet verbundene Welt recht gut, wie es sich in „Germany“ lebt, oder meint es zu wissen. Vielleicht ist es in die Entscheidung der Bundeskanzlerin in jener Nacht des 4. September eingeflossen, die Grenzen nicht dicht zu machen, dass es – nach allem, was Deutschland der Welt im 20. Jahrhundert angetan hat – nicht selbstverständlich ist, als Modell, als Sehnsuchtsland, als Hort der Sicherheit zu gelten.

Das Ziel ist Deutschland, nicht Europa, leider nicht Europa. Was wir in den letzten Monaten miterleben, hat in Ländern wie Slowenien und Kroatien sicher auch mit objektiver Überforderung zu tun. Aber das Beispiel Ungarn zeigt es auf drastische Weise – und ich fürchte, wir werden mit der neuen polnischen Regierung ähnliches mit noch größerer Wucht erleben –: dieses Europa hat nicht die gleichen Werte.

Willkommenskultur ist ein deutsches Phänomen – gewiss, auch die Österreicher, Niederländer, Schweden und Luxemburger öffnen sich. Aber die übergroße Zahl unserer europäischen Partner steht beiseite. Vor allem auch die Osteuropäer – und das, obwohl nach der Niederschlagung der Aufstände in Budapest und Prag 1956 und 1968 hunderttausende von ihnen Zuflucht im Westen suchen und fanden. Es ist eine verstörende Erfahrung. Sie zeigt, dass West- und Osteuropa in unterschiedlichen Zeitzonen leben. Das Europa der Toleranz und Vielfalt, ein Europa, das sich selbst sicher und deshalb stark ist, war ein Phänomen der 90er und 2000er Jahre. Wir haben uns getäuscht, als wir glaubten, dass die Osterweiterung, der Ausbau der Infrastruktur von Tallin bis Bukarest und von Danzig bis Sofia gleichermaßen eine Übernahme dieses, vielleicht zu westeuropäisch geprägten Zeitgeistes mit sich bringen würde.

Europa: Ein Kontinent der Ungleichzeitigkeit

Die Staaten und alten europäischen Völker der Mitte unseres Kontinents, Polen, Tschechen, Ungarn, Balten, strebten in die Europäische Union, vor allem weil sie weg-strebten von Russland. Und mehr als alles andere entdeckten sie ihre eigene Nationalität und Souveränität. Die Osteuropäer sahen Europa vor allem als Raum, der nach vier Jahrzehnten der Unterwerfung unter den sowjetischen Hegemon das ihnen Eigene zum Ausdruck und Vorschein bringt.

Dieses Auseinanderfallen Europas ist für mich das tragischste Resultat dieses Jahres. Gerade für die Generation, die wahrscheinlich auch hier im Saal die Mehrheit bildet, war Europa doch die große Hoffnung, unser heimliches Identitätszeichen. Wir hatten den Mauerfall eben nicht ausschließlich national als deutschen Glücksfall interpretiert, sondern auch als Tür zu einem grenzenlosen Kontinent, eine Tür, die nicht zuletzt vom polnischen Papst Johannes Paul ll. aufgestoßen worden war. Unsere Hoffnung war: Toleranz, Solidarität, Zivilität, Weltoffenheit. Diese Werte sollte nun bis zum Schwarzen Meer gelten, der europäische Raum der supranationalen Bürgerlichkeit erweitert und vertieft werden. Jetzt schein bei den meisten Nachbarn die Abgrenzung im Vordergrund zu stehen, auch aus Angst vor rechtsnationalen Parteien wie in Frankreich.

Europa desintegriert sich. Für unsere Nachbarn hatte Europa schon in den Jahren zuvor Glanz eingebüßt, hatte die Finanz- und Bankenkrise zu tiefer wirtschaftlicher Depression und Jugendarbeitslosigkeit geführt, zur Verarmung von Menschen, deren Ziel doch war, zur Mittelschicht aufzusteigen. Deutschlands Sparpolitik wurde oft (zu Recht oder Unrecht) dafür verantwortlich gemacht. Nun könnte man sagen: Angela Merkel hat in diesem Jahr 2015 mit der nochmaligen Rettung Griechenlands, mit der Verhinderung des Grexit – gegen den Ratschlag ihres eigenen Finanzministers – das Schlimmste verhindert. „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ – an diesem (ersten) Mantra der Kanzlerin gemessen, ist Europa noch nicht gescheitert. Aber die Flüchtlingskrise führt uns in grellen Farben vor, dass es das Europa der Solidarität, des gemeinsamen Lastentragens nicht mehr gibt. An dessen Stelle heißt es: Rette sich wer kann. Die einen bauen Mauern, die anderen schauen weg und die dritten müssen sehen, wie sie mit den Hunderttausenden zu Rande kommen, deren Hoffnungsziel, ironisch genug, Europa heißt.

Für uns Deutsche ist es vielleicht am schmerzhaftesten zu realisieren, dass sich fast von dem einen auf den anderen Tag die Kräfteverhältnisse verschoben haben – in der Euro-Krise eben waren wir eben noch die, wenn auch nicht geliebten, so doch unangefochtenen Retter. Heute fühlen wir uns alleine gelassen von unseren europäischen Partnern, abhängig von schwer beeinflussbaren Potentaten, die die Flüchtlingsströme auch nutzen, um international Druck und auf sich aufmerksam zu machen, seien es Erdogan oder Putin. Solche Ohnmachtsgefühle, der Zwang mit den falschen Partnern zusammenzuarbeiten, werden wohl ein Teil der internationalen politischen Kultur bleiben.

Übrigens - seien wir ehrlich: die Zerrissenheit Europas zeigt sich auch in der Zerrissenheit der europäischen Kirche. Da hat sich ein ungarischer Bischof die Rhetorik von Orban zu Eigen gemacht und das Horrorbild einer muslimischen Invasion beschrieben. Der Sieg der Kaczynski-Partei zeigt auch in Polen sehr viel ländlichen Nationalkatholizismus und anti-islamische Abwehrreflexe in einer Gesellschaft ohne Muslime. Auch die Katholiken Europas leben in unterschiedlichen Zeitzonen.

Machtkampf in der Kirche

Dass auch die Kirche von Ungleichzeitigkeit, Asynchronität betroffen ist, spürte man auch auf der Familiensynode. Gerade wir Deutsche haben, was die strittigen Themen angeht, mehr erwartet. Einen Durchbruch hat es so nicht gegeben, offenbar auf Druck eines neuen Bündnisses zwischen römischen Bewahrern und neuen konservativen Kräften aus der kirchlichen Peripherie, für die die Themen Europas entweder nicht wichtig, nicht nachvollziehbar oder schlicht Häresie sind. Es ist für mich eher enttäuschend, dass die Teilnahme an der Kommunion für wieder verheiratete Geschiedene nur höchst verklausuliert ermöglicht wurde. Auch an vielen anderen Punkten hätte man sich eine deutlichere Sprache gewünscht – oder um mit dem Dokument selbst zu sprechen: eine „Dynamik der Barmherzigkeit“. Offenbar waren die Machtverhältnisse anders. Aber der Papst hat das letzte Wort.

Und dennoch sehe ich Bewegung. Es ist ein Wert an sich, dass die Diskussionen offen geführt wurden. Es ist ein Wert an sich, dass so schwierige Fragen dem Synodal-Prinzip, also einer kollektiven Beratung, unterworfen und nicht einfach tabuisiert wurden. Wenn ich das Dokument richtig lese, öffnet es auch mehr Türen zu regionalen Lösungen. Das heißt: es wird jetzt auch sehr darauf ankommen, wie z.B. die Diözesen in Deutschland den Ball aufnehmen, wie viel Mut die Bischöfe beweisen – und ob sie selbst Formen der Beratung mit dem Kirchenvolk suchen, wie die laufende Synode in Trier, um solche Entscheidungen abzusichern und zu vermitteln.

Ein Wort noch zu den Machtverhältnissen im Vatikan: Positiv betrachtet, könnte man sagen: hier ist eine Kultur eingezogen, in der Kontroversen möglich sind. Kritisch betrachtet: es wird ein Machtkampf mit harten Bandagen ausgefochten. Die Enthüllungen in italienischen Medien über die angebliche Hirnerkrankung des Papstes sollen ja wohl ein Signal dafür zu sein, dass der Mann nur noch begrenzt handlungsfähig ist – und überhaupt seine Zeit bald vorbei sein wird. Wir spüren auch, dass der erste Franziskus-Zauber verfliegt und die Erwartungen steigen, nicht nur symbolisch zu handeln, sondern mehr Bleibendes und konkrete Reformen zu schaffen. 

Kirche in der Zivilgesellschaft

Welches Bild gibt die Kirche in der Flüchtlingskrise ab? Franziskus wie erwähnt – ein eindeutiges. In Deutschland unterstützen die Bischofskonferenz, die EKD, die Laiengremien die Politik, so wie die Gemeinden die Zivilkräfte vor Ort. Manchmal wünschte ich mir noch mehr Sichtbarkeit. Aber vielleicht ist es auch ein gutes Zeichen, dass wir uns nicht vordrängen, sondern als Teil der Zivilgesellschaft agieren.

Die Kirche trägt viel zur Bewältigung der Krise bei – durch den professionellen Einsatz ihrer Hilfswerke, durch die Organisationskraft von Diözesen und Gemeinden, durch praktischen Spirit, der ja Gott-sei-Dank immer noch eingeübt ist. Es ist sogar eine Chance, sich mit Helfern zu verknüpfen, die aus ganz anderen Bereichen unserer Gesellschaft kommen, eine Chance, Glaubwürdigkeit wieder zu gewinnen, die wir durch die Debatten über den Missbrauch oder die Selbstherrlichkeit eines Bischofs verloren haben. Wir können jetzt viel dazu beitragen, dass diese Gesellschaft Fremden-freundlich und das Wort von den christlich-jüdischen Fundamenten unseres Gemeinwesens alltagstauglich bleibt.

Die Flüchtlingskrise ist längst zu einer innenpolitischen Krise geworden. Für die Kanzlerin gab es keine Alternative zum „Wir schaffen das“ – auch aus staatspolitischen Gründen. Sie glaubte, ein Staat, der die weiße Flagge zeigt, verliert – gerade in Deutschland – alle Legitimität. Aber es gab Zweifel von Anfang an, hinter vorgehaltener Hand sagen mittlerweile viele, gerade in der Union, „wir schaffen das nicht“ – jedenfalls so nicht. CDU/CSU scheinen zwischen dem C und dem K zerrissen. Generalsekretär Peter Tauber erklärt das anschaulich in einem „Zeit“-Interview: zwischen christlichem Humanismus, Glaube, Liebe, Hoffnung, und konservativem Leitkultur-Reflex, Familie, Arbeit, Vaterland. Den vielen Ehrenamtlichen in unserer Gesellschaft stehen die Ängstlichen gegenüber, von denen sich mancher radikalisiert, in Pegida oder AfD. Die Flüchtlingskrise wird zur Belastungsprobe für unseren Staat. Ich meine: Wir sollten weder die Frage nach den Grenzen der Leistungsfähigkeit noch die nach der Veränderung der Gesellschaft aus dem politischen Diskus ausgrenzen, sondern auch hier eine Kraft sein, die Dialog und Vermittlung ermöglicht – in der vielleicht polarisierenden Debatte der letzten Jahrzehnte.

Lassen wir uns aber nicht verängstigen. Gewalt ging doch in den letzten Wochen von Wutbürgern und Brandstiftern aus. Es gibt eine eindrucksvolle Bewegung der Bürgerinnen und Bürger auf den Staat zu: eine ZDF-Umfrage hat gerade gezeigt, dass 23 Prozent aller Menschen sich in irgendeiner Form für Flüchtlinge engagieren und weitere 19 Prozent das ins Auge fassen. Das heißt: wir haben es hier mit Millionen zu tun, die bis zum Rand der Erschöpfung helfen – und ich sage es nochmal: nicht nur den Flüchtlingen, sondern dem Staat, ihrer Stadt, ihrer Gemeinde. Natürlich kann das nicht unbegrenzt gehen. Wir erleben ja eine Art Überwältigungssituation. Jetzt müssen Gesetze gemacht und umgesetzt werden, neue Strukturen entstehen, internationale Partner gefunden werden. Es geht darum Zeit zu gewinnen, für Geduld zu werben – und das tun Millionen durch praktische Arbeit.

Übrigens denke ich, dass wir durch diese praktische Arbeit auch die Legitimation für die dringend notwendige zweite Phase der Integration erwerben. Im Moment geht es immer noch um Nothilfe. In der Perspektive wird und muss es um Eingliederung und die Spielregeln in unserer Gesellschaft gehen. Wiederholen wir nicht die Fehler der 60er Jahre, als wir von Gastarbeitern sprachen. Viele wollen und werden bleiben, wir dürfen sie deshalb nicht ausgrenzen. Wir müssen ihnen aber auch sagen, was für ein Deutschland es ist, in dem sie angekommen sind und heimisch werden sollen. Denn es könnte ja auch bei den Flüchtlingen ein Globalisierungs-Missverständnis geben, in dem sie Deutschland vor allem als Konsum- und Wohlstands-und nicht als Werteraum wahrnehmen.

Wer jetzt hilft, den Menschen ein Dach überm Kopf zu besorgen, der hat auch das Recht, ihnen zu sagen, wofür dieses Deutschland 2015 steht: eine engagierte Zivilgesellschaft, orientiert am Grundgesetz. Wir werden uns Errungenschaften wie den Verzicht auf Gewalt im täglichen Miteinander, die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die Gleichstellung von Homosexuellen nicht nehmen lassen. Das Modell Deutschland ist mehr als „made in Germany“. Dazu gehört auch die unbedingte Solidarität mit Israel und der Kampf gegen jede Art von Antisemitismus. Die Bewältigung der deutschen Geschichte gehört zur deutschen Identität – und das werden die meisten, die zu uns kommen, erst lernen müssen. Ich möchte aber hier klar sagen: Sie müssen es lernen!

Fazit

2015 ist also ein Krisenjahr – aber eines, das uns die Augen öffnet, in welcher Welt wir leben. Ich möchte mit fünf Punkten schließen:

Erstens: Globalisierung kann – und an das zu erinnern bleibt Aufgabe von Kirche und Katholiken – nicht nur ökonomisch gedacht, sie muss auch sozial gedacht werden. Indem wir die Lebensverhältnisse anderswo verbessern, für Fairness, Gerechtigkeit und Frieden sorgen, entlasten wir uns selbst. Wer das nicht tut, muss mit den Konsequenzen leben – und sie heißen: massenhafte Migration, die etablierte Gesellschaften an den Rand ihrer Funktionsfähigkeit bringt und wenn nicht das: radikale politische Kräfte beflügelt.

Globalisierung bedeutet in einer digitalisierten Welt Gleichzeitigkeit. Distanzen sind zusammengeschmolzen. Alles findet nebeneinander, parallel statt. Aber viele Menschen, Institutionen, Staaten sind noch nicht so weit. Es braucht Zeit – und Kräfte der Geduld. Das ist viel verlangt, weil wir z.B. in Europa vor der Alternative stehen, den Bund der Gemeinschaft und Solidarität zu kündigen, oder selbst in Fragen, die uns sehr wichtig sind, auf Fortschritt und Tempo zu verzichten.

Zweitens: Aufgabe von Souveränität an einen größeren europäischen Souverän – das stand in Mittel-Osteuropa schon vor der Flüchtlingskrise nicht auf der Tagesordnung. Und jetzt erst recht nicht. Ich fürchte, wir müssen – um die Essenz von Europa über die nächsten schwierigen Jahre zu retten – nicht nur von einem Europa der zwei, vielleicht mehrerer Geschwindigkeiten ausgehen, wir müssen dieses Europa unterschiedlicher Zeitzonen und Entwicklungsstufen aktiv gestalten.

Ich hoffe, dass sich dabei ein Kern von Staaten und Nationen herausbildet, der Europa weiter nicht nur als wirtschaftliche Gemeinschaft, sondern als gesellschaftspolitisches Integrationsprojekt versteht – und dafür ambitionierte Beispiele findet und umsetzt. Frankreich und Deutschland müssen vorangehen. Es ist Zeit, dass das wirtschaftlich prosperierende Deutschland einen neuen Solidarpakt mit dem verletzten Frankreich eingeht. Es gibt in dieser unruhig gewordenen Welt kein besseres Modell für Interessenausgleich und Konfliktregulierung als Europa.

 

Drittens: Die Kirche und die Christen sind unverhofft in eine wichtige Rolle geraten – und sie ist wichtiger als manche innerkirchliche Auseinandersetzung. Es ist die Rolle der Rückkopplung der sogenannten christlichen Werte an die politische Realität. Solidarität, Lastenteilung, Hilfe für die Schwachen sind plötzlich furchtbar konkret geworden. Wir müssen die staatstragenden Parteien an diesen Werten messen und sie zum C ermutigen, diese Werte aber auch in der Praxis mit den Partnern in der Zivilgesellschaft beglaubigen.

Für die Kirche selbst rückt nach der Bischofssynode – über alle konkreten Differenzen hinweg – das Prinzip der Beratung und Kollegialität in den Vordergrund und die Möglichkeit zu regionaler, lokaler Praxis. Gefragt sind Verantwortung und Dialog zwischen Bischöfen und dem Kirchenvolk.

Viertens: Die Flüchtlingskrise konfrontiert Europa, auch unser Land, so unmittelbar wie nie zuvor mit den Folgen internationaler Konflikte. Wir können nicht mehr am Rand stehen und werden die Konsequenzen tragen müssen. Dabei sollten wir es als Gewinn einordnen, dass Gesellschaften kulturell, sprachlich, religiös heterogener werden. Aber das bedeutet nicht aufzugeben, was im Geist der Aufklärung und Staatsbürgerlichkeit entstanden ist: eine Zivilgesellschaft, die darauf bestehen muss, dass ihre Regeln von allen eingehalten werden. Nur dadurch ermöglicht sie die Freiräume für unterschiedliche Bekenntnisse.

Schließlich fünftens: Das Vordringen des Terrorismus nach Europa, die Entscheidung das Schlachtfeld zu uns auszudehnen und unsere Städte zum Schauplatz eines Kampfs der Kulturen zu machen, wird uns sehr langfristig beschäftigen. Es geht jetzt um die Frage, ob wir uns der Angst überlassen. Ob wir als europäische Zivilgesellschaften zu Einigkeit und Entschlossenheit finden. Das Problem hat eine außenpolitische Dimension, bei der wir nach Lage der Dinge keine kurzfristige Lösung erwarten können. Ich persönlich halte militärische Interventionen übrigens eher für die Ursache als für die Lösung des Problems. Deutschland muss sich, auch angesichts des Ansehens, das wir in den letzten 25 Jahren erarbeiten haben, vor allem als „soft power“ und Vermittler einbringen. Auch bei der Bewältigung schmerzhafter Vergangenheit können wir uns einbringen.

Für das Zusammenleben in der Gesellschaft ist die Frage der Integration entscheidend. Die meisten Täter sind bei uns in Europa geboren. Wir können sie nicht einfach abschieben. Viel entschiedener als in der Vergangenheit müssen wir mit einer Mischung aus Bildung, Chancen und der Vermittlung der Werte unserer Gesellschaft die Entstehung radikaler Milieus verhindern.

Hier sollten die Kirchen auch ihre Gesprächspartner in den islamischen Gemeinden zu mehr Klarheit auffordern. Gehört der Islam zu Deutschland? Ja, denn Muslime gehören zu Deutschland. Menschen von ihrer Religion zu trennen, wäre ein furchtbarer Irrtum. Aber es muss ein Islam sein, der sich in das Koordinaten- und Wertesystem unserer Gesellschaft einfügt. Im Dialog mit Imamen und Moscheen, in Patenschaften auf allen Ebenen der Kirche, sollten wir darüber berichten, wie wir Religion im Verfassungsstaat leben.

 

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