Bericht zur Lage, Rede des ZdK- Präsidenten 05/2014

im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde!

Wir leben in einer zunehmend unruhigen und konfliktträchtigen Welt. Diese Beobachtung bezieht sich nicht mehr nur auf Entwicklungen in Afrika, in Asien oder in Lateinamerika. In diesen Wochen stehen wir in einer neuen Phase der Entwicklungen in Europa und sind damit unmittelbar als Bürgerinnen und Bürger dieses Europas angesprochen.

Europa nach der Wahl

Bis vor kurzem haben wir geglaubt, dass hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre nach dem Fall der Mauer Frieden und Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie auf unserem Kontinent Selbst-verständlichkeiten geworden sind. Sie sind uns so selbstverständlich geworden, dass die Wahrung und Sicherstellung von Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat für die meisten Menschen in Europa als Begründung für das Festhalten am europäischen Einigungsprozess gar kein Gewicht mehr haben. Zugleich befinden wir uns in komplexen internationalen Abhängigkeiten, die die Stabilität der friedlichen Beziehungen der Völker und der internationalen Kooperation voraussetzen, z.B. im internationalen Geflecht des Handels und insbesondere in unserer Energieversorgung.

Nun erleben wir, dass alte Geister wieder wach werden. Mit den Erfahrungen der Finanzkrise und ihren oft notwendigerweise schmerzlichen Konsequenzen sind Vorurteile zwischen den Völkern Europas wieder wach geworden, wird die Solidarität der Völker in Europa auf eine schwere Probe gestellt, bekommen nationalistisch getönte Parolen und Abgrenzungen wieder Gehör.

Mit der Krise in der Ukraine und der Politik Russlands in diesem Konflikt sind wir in eine neue Phase der europäischen Politik gestoßen worden. Dabei ist erstaunlich und alarmierend, wie rasch grundlegende Werte Europas, wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die friedliche Lösung von Konflikten auf dem Verhandlungswege, auch in unserem Land zur Disposition gestellt werden. Jetzt ist der Testfall für die gerne gebrauchte Formulierung, dass Europa mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft, eine Wohlstandsmaschine.

Als Christinnen und Christen fordern wir immer wieder, die Werte und damit auch die christlichen Grundlagen Europas zur Geltung zu bringen. Angesichts dieser Entwicklungen sind wir nun besonders gefordert, in den schwierigen Konstellationen der europäischen Politik nicht einfach den bequemsten, sondern den nach den Maßstäben unserer Werte notwendigen Weg zu suchen. Hier steht an erster Stelle die Aufgabe Brücken zu bauen, getreu dem Leitwort unseres Katholikentags "Mit Christus Brücken bauen". Es geht auch beim Thema Ukraine um die Würde des Menschen, seinen Anspruch auf Freiheit und seine Verpflichtung zum verantwortlichen Handeln, um den Willen zur Verständigung und zur friedlichen Lösung der Konflikte. Dies müssen wir auch in die europapolitischen Diskussionen in Deutschland verstärkt einbringen. Mit dem "Regensburger Aufruf", der im Anschluss auf unserer Tagesordnung steht, wollen wir als ZdK-Vollversammlung heute Nachmittag diesen Anspruch und Willen zum Ausdruck bringen.

Seit Jahren nehmen wir in Europa in verschiedenen Ländern eine Tendenz zum Separatismus, das Bemühen einzelner Landesteile sich vom Nationalstaat zu trennen, wahr. Beispiele dafür sind Schottland oder in Spanien die Basken und die Katalanen. Im Zusammenhang mit dem Vorgehen Russlands in der Ukraine gewinnt dies alles eine zusätzliche Dynamik. Wenn die Solidarität mit der eigenen Volksgruppe im Nachbarland zur akzeptierten Begründung für die Unterstützung von Abspaltungen wird, hat Europa bald viele Brandherde. Gerade in vielen mittel- und osteuropäischen Staaten gibt es nationale und ethnische Minderheiten, aber auch in Westeuropa kann die Situation in mehreren Ländern schnell eskalieren.

Dabei geht es um die Wahrung der eigenen Identität, den Anspruch auf regionale Autonomie, in verschiedenen Fällen aber auch um die Aufkündigung der Solidaritätsleistungen finanzstärkerer Regionen gegenüber schwächeren Regionen, die Empfänger solcher Leistungen sind. Die rechtspopulistischen Strömungen haben hier ihre Quellen. Nicht alle diese Bestrebungen sind purer Nationalismus, sie haben als Quelle auch die Angst vor Identitätsverlust und Fremdbestimmung durch europäische Zentralregelungen. Sie bringen den Anspruch und den Willen zur eigenen Gestaltung all der Lebensbereiche zum Ausdruck, die nicht zwingend zentraler Regelungen bedürfen.

Das Europäische Parlament muss deshalb in seiner neuen Wahlperiode auf diese Entwicklungen konstruktiv eingehen. Eine Orientierung dafür ist die konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im staatlichen Bereich, also in föderalistischen Strukturen. Auch hier geht es zentral um die Frage, wie Einheit und Vielfalt neu ausbalanciert und miteinander verbunden werden können. Das Subsidiaritätsprinzip in der Ausgestaltung des politischen Föderalismus ist friedensstiftend. Allerdings braucht es dazu eine Politik, die nicht nur auf messbare Statistiken und funktionale Denkkategorien ausgerichtet ist.
In diese Situation hinein fanden nun in den vergangenen Tagen die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. In unserem Wahlaufruf "Europa ist unsere Zukunft" haben wir einmal mehr für eine an den Werten Europas orientierte Wahlentscheidung geworben. Mit dem Ergebnis dieser Wahlen ist die Situation nicht einfacher geworden. Das Wahlergebnis gibt zu einigen Sorgen über den künftigen Weg und die künftige politische Kultur in Europa Anlass. Zugleich steht das Europäische Parlament, dessen Bedeutung in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist, vor großen Aufgaben. Ich rufe insbesondere die politischen Kräfte der Mitte im Europäischen Parlament und in den Parlamenten und Regierungen der Mitgliedsstaaten auf, ihrer jeweiligen Verantwortung für die Zukunft Europas gerecht zu werden, und den Verlockungen des Populismus zu widerstehen. Lasst uns in Europa weiter Brücken bauen und nach Zusammenhalt unter den Völkern Europas streben!


Schutz der Privatsphäre – Schutz der Würde des Menschen

Eine für uns noch recht neue Problematik, deren wahres Ausmaß uns erst allmählich bewusst wird, sind die Auswirkungen der Digitalisierung unseres Lebens. Mit den großen Chancen und Potenzialen moderner Informations- und Kommunikationstechnologien sind zugleich Risiken und Grenzen verbunden. Ich sage ganz deutlich: Grundrechte müssen auch im Internet geachtet und geschützt werden. Das ist die besondere Aufgabe des Staates, sowohl in seinem eigenen Aufgabenbereich und Handeln als auch im Hinblick auf die internationalen Akteure in der Politik und in den einschlägigen internationalen Unternehmen, die mit ihren technologischen Systemen das Netz beherrschen. Das Persönlichkeitsrecht, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und auf Privatsphäre sowie das Telekommunikationsgeheimnis müssen auch online uneingeschränkt gelten.

Es ist auch auf diesem Gebiet, dem Schutz der Privatsphäre als wichtigem Bereich der Menschenwürde, von besonderer Bedeutung, dass die europäische Staatengemeinschaft ein eigenes, von diesen Werten geleitetes Konzept verfolgt. Diese Werte und besonders zu schützenden Rechte dürfen nicht einem Weltbild untergeordnet werden, das uns als Konsumenten steuert, das auf den gläsernen Bürger und die lückenlose Überwachung der Bürgerinnen und Bürger durch global operierende Konzerne, Geheimdienste und autoritäre politische Regimes hinausläuft. Das wäre letztlich eine Diktatur gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern.

Die Dringlichkeit verdeutlicht nicht zuletzt ein Blick auf die Entwicklungen im Gesundheitswesen mit eminent gewachsenen medizinischen Diagnose- und Prognosemöglichkeiten. Wie leicht wird aus diesem Wissen eine Bewertung, welchem Menschen eine medizinische Behandlung noch zusteht und welches genetisch bedingte Risiko noch von einer Solidargemeinschaft abgesichert werden soll?


Sterbehilfe, Sterbebegleitung und Palliativversorgung

Damit leite ich zu einem anderen Thema über, das die innenpolitische und gesellschaftliche Debatte bei uns mehr und mehr prägt. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe hat bereits kurz nach seinem Amtsantritt angekündigt, sich für ein gesetzliches Verbot der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung einzusetzen. Damit hat er dankenswerterweise eine Debatte eröffnet, die inzwischen weit über das Verbot sogenannter Sterbehilfevereine hinausgeht. Die Debatte umfasst inzwischen auch, häufig ohne das eine vom anderen zu unterscheiden, die Legalisierung aktiver Sterbehilfe und des ärztlich assistierten Suizids. Im Deutschen Bundestag gibt es ein Einvernehmen, dass die schwierige Frage der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung im Laufe der Wahlperiode aus der Mitte des Parlaments mit fraktionsübergreifenden Gruppenanträgen geklärt werden soll.

In der notwendigen Auseinandersetzung um eine gesetzliche Regelung geht es um mehr als um das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen. Gesetzliche Regelungen prägen die gesellschaftlichen Maßstäbe, das gesellschaftliche Klima für und die Erwartungen an den Einzelnen. Wenn die Freiheit zur Selbsttötung zum höchsten Ausdruck der Selbstbestimmung hochstilisiert wird, die Hilfe dazu gesellschaftlich so selbstverständlich ist wie die Pflege, verändert dies unaufhaltsam die Situation schwerstkranker Menschen, aber auch die Situation vieler pflege- und hilfsbedürftiger Menschen, zumal, wenn die Krankheit und Pflegebedürftigkeit ein langer und oft auch aufwändiger Prozess ist.

Ich will diese Wirkung gesetzlicher Regelungen auf die Situation der Betroffenen mit Erfahrungen zu Beginn des Lebens verdeutlichen. In vielen Fällen haben sich die umfassenden  Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft als sehr sinnvoll und mitunter lebensrettend erwiesen. Doch es ist auch eine Folge der immer weiter entwickelten Pränatal-diagnostik, dass Eltern, die sich trotz einer entsprechenden Diagnose für die Geburt eines Kindes mit Behinderung entscheiden, regelmäßig mit der vorwurfsvollen Frage konfrontiert werden, ob dies denn hätte sein müssen. Das hätte man doch verhindern können und damit der Gesellschaft, den Eltern und dem Kind vieles ersparen können. Wer nicht nach diesen Maßstäben handeln will, wird in eine Rechtfertigungsposition gedrängt.
Meine Damen und Herren, hier sind gesellschaftliche Folgen eingetreten, vor denen wir immer gewarnt haben!

Und warum sollte dies bei den Pflegebedürftigen, bei den Schwerstkranken und bei chronisch kranken Menschen anders sein, zumal in einer alternden Gesellschaft die Verteilungskämpfe im Gesundheitswesen zunehmen? Wenn in einem Beitrag in der FAZ ("Mein Ende gehört mir", von Ingrid Matthäus-Maier) in Verbindung mit der Palliativmedizin zu lesen ist: "Angesichts der demographischen Entwicklung wird es auch bei allen zu unterstützenden Anstrengungen keine ausreichenden flächendeckenden Angebote geben können" – bedeutet dies dann etwa, die Unterstützung bei der Selbsttötung sei als Alternative zur notwendigen Kraftanstrengung beim flächendeckenden Ausbau der Hospizbegleitung und Palliativ-versorgung zu verstehen? Ist das nicht das Ende einer humanen Gesellschaft?

Wenn an einer Stelle als gesellschaftlich akzeptierte Norm das Leben in "lebenswert" und "nicht lebenswert", in zumutbar oder nicht zumutbar für den Einzelnen oder für die Gesellschaft eingeteilt wird, gibt es auf dieser Rutschbahn keinen Halt. Deshalb geht die Frage nach einer gesetzlichen Regelung der Suizidbeihilfe und der Sterbehilfe weit über die Selbstbestimmung des Einzelnen hinaus. Jenseits aller Bevormundung von Menschen geht es um zentrale gesellschaftliche Werte, um das gesellschaftliche Klima, um das Bild vom Menschen und die Einstellung zu Leid und Krankheit in einer Konsum- und Leistungsgesellschaft.
Wir werden nicht nachlassen, mit Artikel 1 des Grundgesetzes zu betonen: Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Nach Umfrageergebnissen befürworten ca. 70 Prozent der Deutschen gesetzliche Regelungen zur aktiven Sterbehilfe wie in den Niederlanden und Belgien, also Regelungen, die weit über das hinausgehen, worum derzeit bei uns politisch gerungen wird. Diese Haltung vieler Bürgerinnen und Bürger müssen wir ernst nehmen und verstehen, warum sie sich so äußern. Es geht dabei um Ängste, nicht nur vor dem Tod, der für uns alle unausweichlich ist, sondern um Angst vor großen Schmerzen, vor Einsamkeit, Hilflosigkeit, vor den automatisierten Abläufen der Hochleistungsmedizin. Es geht um die Angst, dass der Patientenwille nicht ernst genommen wird, die Angst anderen zur Last zu fallen.

Wir müssen uns dabei auch Folgendes vergegenwärtigen: Aus dem christlichen Glauben heraus argumentieren wir zwar anders und benennen die Unverfügbarkeit des von Gott geschenkten Lebens als Maßstab. Aber welche Überzeugungskraft hat das in einer Gesellschaft, in der eine Mehrheit der Menschen keine ernsthafte persönliche Beziehung mehr zum christlichen Glauben oder jedenfalls nicht eine enge Bindung an die christlichen Kirchen hat? Ich schließe daraus, dass wir unsere Überzeugung so vermitteln müssen, dass  deutlich wird: Es geht hier nicht um eine christliche Sondermoral. Diese Werthaltung ist generell für den Menschen, für seine Würde und seine Zukunft wichtig, unabhängig davon, ob der Einzelne eine entsprechende Bindung an Glauben oder Kirchen hat. Der Hinweis, es sei Tradition, es sei christlich, ist in der heutigen Zeit für die Mehrheitsbildung nicht mehr ausreichend.

Zugleich dürfen wir uns auch nicht von anderen in eine solche Minderheitenposition drängen lassen. Die Argumentation aus den Reihen der Sterbehilfebefürworter, zum Beispiel von den sich humanistisch nennenden Organisationen, zielt ja genau darauf. Uns wird als Christen abgesprochen und bestritten, dass wir Argumente vorbringen könnten, die auch für Nicht-Christen einsichtig sind. Das ist eine unredliche Verkürzung, denn es geht uns nicht um einen christlichen Herrschaftsanspruch, sondern um die umfassende Wahrung der Menschenwürde und das Wohl der Menschen während der ganzen Lebensspanne. Dafür einzutreten ist unser christlicher Auftrag.

Wir müssen eine überzeugende Antwort auf das Hauptmotiv der ca. 70 Prozent Befürworter einer Regelung wie in den Niederlanden geben. Das heißt eine überzeugende Antwort auf ihre Ängste! Die Angst kann man nicht einfach wegargumentieren. Die notwendige Antwort, die notwendige Hilfe ist der Weg der Hospizbewegung, ist die Begleitung des Kranken und seiner Angehörigen mit menschlicher Zuwendung und den heutigen Möglichkeiten der Palliativmedizin. Mit ihnen kann in vielen Fällen der Angst und der Situation, dass medizinische Heilung nicht mehr möglich ist, begegnet werden. Die bestmögliche Lebensqualität in dieser Situation und auf dieser Wegstrecke – das ist Aufgabe und Ziel von "Palliative Care". Wir haben uns in der Vollversammlung in Münster vor einem Jahr mit dieser Aufgabe intensiv auseinandergesetzt und mit der Erklärung "Leben bis zuletzt. Sterben in Würde" unsere Position und unsere Aufgabe in der Kirche und in Gesellschaft und Politik beschrieben. Natürlich ist dies in besonderer Weise auch eine Selbstverpflichtung im Hinblick auf die internen Handlungsmöglichkeiten unserer Kirche.

Ich konnte vor einigen Wochen in Berlin gemeinsam mit dem Geschäftsführer des Bayerischen Hospiz- und Palliativverbandes auf Einladung des Kardinal-Höffner-Kreises vor Bundestagsabgeordneten Vorschläge für ein Aktionsprogramm zum nachhaltigen Ausbau von "Palliative Care" erläutern. Es wird für unsere Glaubwürdigkeit in der auf uns zukommenden Debatte über die organisierte Suizidbeihilfe, den ärztlich assistierten Suizid bis hin zur Frage der Legalisierung von Sterbehilfe entscheidend sein, dass wir konstruktive Vorschläge einbringen, dass wir aus der Ecke einer reinen Verbotsdebatte herauskommen, und damit zugleich auch aus der Defensive herauskommen. Das gilt nicht nur für uns als ZdK, das gilt für die ganze Kirche und für alle politischen Kräfte, die diese Position teilen.

Fortführung der Ökumenischen Sozialinitiative

Vor einigen Wochen haben die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland nach 17 Jahren wieder ein gemeinsames Papier zur wirtschaftlichen und sozialen Lage präsentiert. Ich halte dieses Papier für einen guten Impuls und eine gute Grundlage für die weitere Diskussion in Politik, Gesellschaft und Kirche. Das muss man sicherlich zunächst einmal würdigen. Doch zugleich mache ich immer wieder darauf aufmerksam, dass sich in dieser Diskussion unsere Phantasie nicht darauf begrenzen darf, wie wir die gesellschaftlichen Wohlstandsgewinne gerecht verteilen können, sondern auch darum, diesen Wohlstand zunächst einmal zu erwirtschaften.

Wie wollen und werden wir in unserer Gesellschaft morgen und übermorgen zusammenleben – und wovon werden wir dann leben? Diese Frage stellt sich insbesondere überall dort, wo der demografische Wandel uns herausfordert. Sie stellt sich aber auch bei der Energiewende. Gerade ihre konsequente Umsetzung kann ein gutes Beispiel dafür sein, wie wir uns in Deutschland an die Spitze einer Bewegung setzen können.

Mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft werden wir uns in den meisten Politikfeldern schon bald über viel grundlegendere Reformen verständigen müssen, als sie bislang in der Diskussion sind. Bundesregierung und Bundestag müssen viel stärker die langfristige Tragfähigkeit in den Blick nehmen. Das gilt unter anderem für die Alterssicherung. Als ZdK haben wir uns schon seit langem für die verbesserte Anerkennung der Kindererziehung in der gesetzlichen Rentenversicherung eingesetzt und sind dankbar, dass diese Forderung nun tatsächlich und auch gegen zahlreiche Widerstände umgesetzt wird. Es reicht aber nicht, nachholende Gerechtigkeit zu organisieren, sondern eine armutsfeste und leistungsgerechte – insbesondere für Familien leistungsgerechte – Lösung für die Zeit nach 2030 muss schon jetzt in den Blick genommen werden. Anderenfalls gibt man heute und in Zukunft viel Geld aus, ohne zukunftsfähige Weichenstellungen vorzunehmen, und läuft doch sehenden Auges auf eine wachsende Altersarmut zu.

Innerkirchliche Entwicklungen der letzten Monate

Ich komme abschließend zu einigen Entwicklungen in unserer Kirche. Wir werden morgen noch ausführlicher Gelegenheit zur Beratung dieser Fragen haben, wenn der neue Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, zu uns spricht. Ich bin sehr froh und dankbar, dass er schon in den ersten Monaten seines Vorsitzes zu uns in die ZdK-Vollversammlung kommt.
In den vergangenen Monaten hat Papst Franziskus seine Vorstellung von der Kirche weiter entfaltet. Er hat entschieden gegen die Selbstbezogenheit der Kirche Stellung bezogen. Die Kirche ist kein Selbstzweck. Es geht darum, den Glauben im eigenen Lebensumfeld wie in den größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu leben und ihn auch in gesellschaftliches und politisches Handeln umzusetzen. Das konkretisiert sich in der Solidarität mit den Armen oder in Fragen der Gerechtigkeit, die Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben "Evangelii Gaudium" thematisiert hat.

Mit dem Fragebogen zu Ehe und Familie, den der Vatikan zur Vorbereitung der Bischofssynode im kommenden Herbst verschickt hat, wurden viele über lange Jahre tabuisierte, dadurch zum Teil auch theologisch vernachlässigte Fragen wieder aufgegriffen, und zweifelsfrei wurden auch Hoffnungen und Erwartungen geweckt. Es ist sehr positiv zu bewerten, dass die Deutsche Bischofskonferenz mit ihrer veröffentlichten Stellungnahme eine ehrliche, ja schonungslose Bestandsaufnahme vorgenommen hat. Denn die Umfrageergebnisse zeigen auf, dass die Lehre der Kirche zu Ehe, Familie und insbesondere zur Sexualethik für eine Mehrheit auch der kirchenverbundenen Katholikinnen und Katholiken kaum noch Bedeutung für die eigene Lebensführung hat. Das ist zweifelsfrei nicht nur für die Bischöfe, sondern für uns alle ein schmerzhafter Befund und auch ein Eingeständnis des Scheiterns. Wie kann es uns beispielsweise gelingen, den sakramentalen Charakter der vor Gott ge-schlossenen Ehe auch heute jungen Paaren zu vermitteln und zugleich Wege aufzuzeigen, dass die Ehe als Sakrament auch lebbar ist und nicht ein Anspruch, der angesichts vieler gesellschaftlicher Einflüsse zur ständigen Überforderung wird?

Bei der uns seit langem besonders beschäftigenden Problematik der wiederverheirateten Geschiedenen bleibt zu hoffen, dass ein Weg gefunden wird, mit dem die Unauflöslichkeit der Ehe nicht in Frage gestellt wird, aber gleichzeitig zivil geschiedene Menschen, die in neuen Beziehungen leben und voll am Leben der Kirche teilnehmen wollen, einen Zugang zu den Sakramenten erhalten können. Papst Franziskus betont, dass die Sakramente nicht Belohnung sind, sondern Hilfe und Stärkung auf dem Weg. Kardinal Kasper hat zu dieser Frage bei der letzten Zusammenkunft der Kardinäle wertvolle, weiterführende Hinweise gegeben.

Im Bistum Limburg wurden vor einigen Wochen wichtige Entscheidungen getroffen und der Weg für einen Neuanfang frei gemacht. Mit den personellen Entscheidungen konnte Papst Franziskus einen Knoten lösen, aber es bleibt im Bistum noch viel Aufarbeitung zu leisten. Für die Kirche in Deutschland ergibt sich die Aufgabe, aus den Erfahrungen insbesondere im Blick auf Transparenz und Kontrolle zu lernen. Es darf nun eines nicht passieren: Limburg darf nicht als unrühmlicher Einzelfall abgetan werden. Es müssen vielmehr Sicherheits- und Warnmechanismen aufgebaut werden, damit sich eine solche Situation nicht auch an anderer Stelle ergibt.

Auf dem Weg zum 3. Ökumenischen Kirchentag

Vor wenigen Tagen haben wir mit den Schwestern und Brüdern aus dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages erneut über die Möglichkeiten zur gemeinsamen Durchführung eines 3. Ökumenischen Kirchentages gesprochen. Wir haben uns darauf verständigt, nun das Jahr 2021 für dieses nächste ökumenische Großereignis festzulegen. Ich verstehe alle, die dies mit Unverständnis und Enttäuschung aufgenommen haben. Sie dürfen es mir glauben: Ich teile diese Enttäuschung und das gilt auch für alle, die in den letzten Wochen und Monaten intensiv um eine andere Lösung, nämlich für das Jahr 2019, gerungen haben.

Ich versichere Ihnen: Niemand von uns wollte den 3. ÖKT noch weiter auf die lange Bank schieben. Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass ein solches Ereignis aufgrund seiner schieren Größe nur in wenigen deutschen Städten realisiert werden kann. Und es ist ebenso sicher, dass dies nicht ohne die gemeinsame und einvernehmliche Einladung seitens eines katholischen Bistums und einer evangelischen Landeskirche möglich ist. Nur wo diese drei Faktoren – eine große Stadt und das gemeinsame Wollen eines katholischen Bischofs und einer evangelischen Landeskirche – zusammenfallen, kann ein solches Projekt gelingen. Und schon aus organisatorischen Gründen braucht man einen ausreichenden Vorlauf.

Wir haben deshalb viele intensive Gespräche geführt mit katholischen Bischöfen, mit landeskirchlichen Vertretern, immer wieder gemeinsam auch auf der Ebene der Präsidien von ZdK und DEKT. Da die Zeit aber nicht stillsteht und wir beide, der Deutsche Evangelische Kirchentag genauso wie das ZdK, Verantwortung dafür tragen, dass die Reihe der Kirchen- und Katholikentage nicht abreißt, sahen wir uns zuletzt gezwungen, eine Entscheidung für 2021 zu treffen. Auf diese Weise sind beide Seiten jetzt wieder frei und in der Lage, für die Zeitspanne bis dorthin eigene Veranstaltungen zu planen. Der Deutsche Evangelische Kirchentag wird jetzt im Jahr 2019 nach Dortmund gehen, und wir haben begonnen, Gespräche im Blick auf das Jahr 2018 zu führen. Wesentlicher Teil unseres Beschlusses einer Verschiebung des 3. ÖKT auf das Jahr 2021 war es aber auch, dass wir im Jahr 2017 eine zusätzliche gemeinsame Veranstaltung durchführen möchten. Diese soll nicht die Größe eines Kirchentages haben, aber doch ein weithin sichtbares Signal unseres gemeinsamen Bemühens und Ringens um die ökumenische Verbundenheit und das gemeinsame Zeugnis in die Welt aussenden. Deshalb haben die Präsidiumsdelegationen von ZdK und DEKT bei ihrem Treffen am 08.05.2014 die Einrichtung einer Arbeitsgruppe beschlossen, die hierfür zügig ein Konzept entwickeln soll.

Nach diesem Ausblick auf die Entwicklung bis 2021 will ich unseren Blick aber nun auf die Tage, die unmittelbar vor uns liegen, lenken. Es ist großartig und vielversprechend, dass wir schon heute und morgen mit der Vollversammlung und ab morgen Abend dann mit dem 99. Deutschen Katholikentag zu Gast in Regensburg sein können. Die einladenden Grußworte des Herrn Bischofs und des Herrn Oberbürgermeisters haben zu unserer Vorfreude noch weiter beigetragen. Bei allen Beratungen, Diskussionen, Begegnungen, Feiern und Gebeten wollen wir bedenken, dass wir, nach dem neuen Aufbruch von Mannheim im Jahr 2012, hier mit Christus Brücken zueinander und in die Welt hinein bauen wollen.

Ich lade Sie nun zur Aussprache über den Bericht ein und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Alois Glück Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

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