Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 11/2002
Rede von Prof. Dr. Hans Joachim Meyer im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Vor wenigen Wochen begingen wir den 40. Jahrestag der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils. Diese große Kirchenversammlung ist das wichtigste Ereignis der katholischen Kirche in der Geschichte der Neuzeit. Und Papst Johannes XXIII. ist einer der ganz großen Gestalten der katholischen Kirche. Durch ihn und das von ihm einberufene und inspirierte Konzil hat sich die katholische Kirche nach einem längeren geschichtlichen Umweg auf die geistige und gesellschaftliche Freiheit eingelassen. Mit Johannes XXIII. und dem II. Vatikanum ist die katholische Kirche, wenn auch verspätet, aber doch mit eindrucksvollem Mut und frischer geistiger Kraft in der Neuzeit angekommen. Mit Nachdruck müssen wir immer wieder daran erinnern, dass dieses Konzil zu seinen bahnbrechenden Einsichten gekommen ist, weil es in den Jahrzehnten davor aus der Mitte der Kirche durch mutige Theologen, weitsichtige Bischöfe und Priester und nicht zuletzt durch eigenständige Laien geistig und praktisch vorbereitet worden ist, wenn auch nicht selten in bitteren Konflikten. Mit seinen Debatten und Beschlüssen hat das II. Vatikanum ein neues Kapitel der Kirchengeschichte aufgeschlagen. Dieses Kapitel ist noch lange nicht zu Ende geschrieben. Gewiss prägen die Beschlüsse des Konzils viele und bedeutsame Bereiche des kirchlichen Lebens. Die liturgische Erneuerung ist nur eines, wenngleich ein herausragendes Beispiel. Ein nicht minder wichtiges Beispiel ist die neue Haltung zur Ökumene. Dagegen stehen wir bei den Konsequenzen aus der Sicht der Kirche als Volk Gottes, für das Verhältnis von allgemeinem und besonderem Priestertum, in bezug auf die Beziehung zwischen Bischof und Ortskirche und in bezug auf die Kollegialität der Bischöfe unter dem Primat des Papstes wie ganz generell in der Wertung des Verhältnisses von Amt und Synodalität erst am Anfang und rückläufige Bestrebungen sind unübersehbar. Manche, darunter auch Einflussreiche, halten am Modell einer zentralisierten absoluten Monarchie, das im 19. Jahrhundert als Gegenkonzept zur freiheitlichen Moderne durchgesetzt wurde, hartnäckig fest und behaupten wider die geschichtliche Wahrheit, dies sei die einzige authentische Rechtsform der Kirche. Der große katholische Kirchenhistoriker Hubert Jedin hat einmal geschrieben, ein Konzil brauche fünfzig Jahre für seine Verwirklichung. Ich fürchte, dieses Konzil braucht länger. So lange aber das Konzil in unseren Herzen lebt und unser Denken und Handeln bestimmt, kann es nicht ungeschehen gemacht werden.
Wie viel Hartnäckigkeit und Selbstbewusstsein wir für eine dialogische und geschwisterliche Kirche im Sinne des II.Vatikanums brauchen, ist uns kurz vor dem Jubiläum gezeigt worden, als ein Gegensatz behauptet wurde zwischen der Bedeutung von Glaubenswissen und dem Sinn von Gremien und Satzungen des organisierten Laienkatholizismus. Ich will da überhaupt keine Missverständnisse aufkommen lassen: Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken steht mit Entschiedenheit gegen Lauheit und vorgebliche Liberalität in Sachen des Glaubens. Und natürlich halten wir auch solides religiöses Wissen für unverzichtbar. Unser Fundament ist der ganze Glauben, wie ihn auch das II. Vatikanische Konzil für die Herausforderungen dieser Zeit formuliert hat. Was die Zukunft der Kirche dagegen wirklich gefährden könnte, wäre ein Pseudokatholizismus aus religiösem Hinterwäldlertum, Nostalgie nach einem realitätswidrig verklärten 19. Jahrhundert und ängstlichem Unverständnis unserer Zeit, gepaart mit dem heute modischen antipolitischen Vorurteil eines individualistischen Zeitgeistes.
Die Kernfrage ist und bleibt, wie Glauben und Kirche in einer freiheitlichen Gesellschaft, in der bekennende und praktizierende Christen eine Minderheit sind, lebendig bleiben können. Nach unserer Überzeugung wird dies vor allem das Werk mündiger Christen sein, die ihren Glauben und die Kirche gut kennen, fest zum Glauben und zur Kirche stehen und die kirchliche Wirklichkeit selbstbewusst mitgestalten. Dafür bietet uns der in mehr als 150 Jahren gewachsene deutsche Laienkatholizismus einen großen Vorteil. Und daher wissen wir auch um den Wert von Organisationen, Strukturen, Gremien und Satzungen und erwarten, dass wer in der Kirche ein Amt hat, dies mit Achtung und Wertschätzung für den Dienst der Laien führt und sich diesen dialogischen Herausforderungen stellt. Wir danken den vielen Bischöfen und Pfarrern, die das genau so sehen und danach handeln.
Das ZdK engagiert sich für die Kirche vor allem in der ständigen gesellschaftlichen Auseinandersetzung und bei der Gestaltung der großen Ereignisse, bei denen wir uns unseres Glaubens vergewissern und ihn gemeinsam öffentlich bezeugen. Das Ereignis, auf das wir uns freuen und das wir jetzt gemeinsam mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag und in Partnerschaft mit der ACK intensiv vorbereiten, ist der Ökumenische Kirchentag, über den auf dieser Vollversammlung berichtet werden wird. Ein Ereignis von internationaler Dimension wird das katholische Weltjugendtreffen 2005 in Köln sein. Hier kommt dem Bund der deutschen katholischen Jugend eine wichtige Aufgabe zu, bei der er sich auf die Unterstützung des ZdK verlassen kann. Und schließlich, aber nicht zuletzt hat parallel zur Arbeit für den Ökumenischen Kirchentag die Vorbereitung des 95. Deutschen Katholikentages in Ulm begonnen. Nach gründlicher Diskussion in der Katholikentagsleitung und im Hauptausschuss hat der Hauptausschuss das Leitwort beschlossen. Es lautet `Leben aus Gottes Kraft´. Nach unserer Überzeugung greift dieses Wort einen zentralen Begriff der gegenwärtigen geistigen Auseinandersetzungen auf und stellt ihn in eine klare Beziehung zu unserem christlichen Glauben.
Wie notwendig es ist, die Stellung der Christen in der Gesellschaft illusionsloser zu sehen als dies vielfach der Fall ist, haben uns in diesem Herbst ein Buch und die Debatte darüber vor Augen geführt. Ich meine Daniel Goldhagens Buch über die katholische Kirche und den Holocaust, in dem der katholischen Kirche und dem Christentum die Hauptschuld für den Antisemitismus und die massenhafte Ermordung der europäischen Juden gegeben wird. Diesem Vorwurf und dem daran geknüpften maßlosen Forderungen ist an mehreren Stellen in aller Deutlichkeit widersprochen worden. Das braucht hier nicht wiederholt zu werden. Um jedes Missverständnis auszuschließen und jeder Missdeutung vorzubeugen, will ich jedoch noch einmal unterstreichen, dass die unselige Tradition des kirchlichen Antijudaismus vollständig beseitigt sowie geschichtliche Schuld und geschichtliches Versagen der Kirche, auch durch herausragende Persönlichkeiten, rückhaltlos benannt werden müssen. Zu diesem Bestreben, in dem wir uns eins wissen mit dem Heiligen Vater und vielen Bischöfen in der Kirche, hat das ZdK bisher nach seinen Kräften beigetragen und wird das auch in Zukunft tun. Dafür danke ich insbesondere unserem Gesprächskreis Juden und Christen. Mit diesem Anliegen haben die absurden Behauptungen und maßlosen Forderungen von Goldhagen nichts, rein gar nichts zu tun. Nun könnten wir mit dem bisherigen Verlauf der Auseinandersetzungen durchaus zufrieden sein. Die Fachwelt geht, trotz der Breite der in ihr vertretenen Auffassungen und der kritischen Einstellung vieler Fachvertreter zur katholischen Kirche, zur Position und Vorgehensweise Goldhagens auf Distanz. Und sogar die meisten Medien zeigen sich wenig beeindruckt. Gleichwohl ist der Erfolg dieses Buches bei einem Teil der Öffentlichkeit unübersehbar. Es gibt offenbar in dieser Gesellschaft nicht wenige Menschen, die bereit sind, jeden Angriff auf das Christentum zu unterstützen, und die sich jedem sachlichen und nachdenklichen Gespräch über Glauben und Kirche verweigern. Das sollte uns erneut Anlass sein, zu fragen, ob nicht ein höheres Maß an christlichem Selbstbewusstsein in dieser Gesellschaft notwendig ist. Zu viele Christen, so scheint mir, geben gesellschaftlich vorherrschenden Meinungen und den in dieser Gesellschaft offensiv vertretenen Vorurteilen ein zu großes Gewicht, wenn es darum geht, ihre eigene Haltung zu bestimmen. Gewiss ist es richtig, dass wir uns den Fragen und Erwartungen der Gesellschaft stellen wollen. Aber das kann nicht heißen, auch die Antworten aus der Gesellschaft zu übernehmen oder unsere Antworten von der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung abhängig zu machen. Es scheint mir ein weitverbreiteter Irrtum unter den Christen in Deutschland zu sein, möglichst in diese Gesellschaft eintauchen und von ihr ununterscheidbar sein zu wollen. Je mehr die bekennenden und praktizierenden Christen eine Minderheit sind, um so weniger können sie sich das leisten. Und so unterstreiche ich erneut, was ich schon 1997 bei meiner Antrittsrede als Präsident gesagt und seitdem mehr als einmal wiederholt habe: Die Christen brauchen in dieser Gesellschaft ein klares Profil. Wir müssen erkennbar sein und selbstbewusst, damit uns auch jene achten, die unsere Überzeugung nicht teilen.
Am 22. September d. J. fanden in Deutschland die Wahlen zum 15. Deutschen Bundestag statt. Es entspricht dem Selbstverständnis des Zentralkomitees der deutschen Katholiken als einem politischen Gremium, welches die öffentliche Meinungsbildung und die Aktionen der katholischen Laien bündelt, dass ich in diesem Lagebericht auf die Ergebnisse der Wahlen und die in der Koalitionsvereinbarung festgelegten Inhalte für die Politik der nächsten vier Jahre eingehe.
Die Wahlen hatten ein knappes Ergebnis, aber sie haben eine klare Mehrheit gebracht. Damit können wir für die nächsten vier Jahre von politischer Stabilität in Deutschland ausgehen.
Als Zentralkomitee werden wir den Dialog mit der neuen Bundesregierung und mit den Abgeordneten des Deutschen Bundestages suchen. Zur Konstituierung des 15. Deutschen Bundestages am 17. Oktober 2002 habe ich den Abgeordneten herzlich zu ihrer Wahl gratuliert und zum Ausdruck gebracht, dass wir um die Mitverantwortung der Parlamentarier für die anstehenden politischen Herausforderungen wissen und zugleich zugesagt, dass wir sie nach unseren Kräften unterstützen werden. Ein besonderer Glückwunsch gilt jetzt den Mitgliedern aus den Reihen des Zentralkomitees, die neu bzw. erneut in den Deutschen Bundestag gewählt worden sind. Dem wiedergewählten Präsident des Deutschen Bundestages, Herrn Wolfgang Thierse, möchte ich auf diesem Wege ebenfalls herzlich gratulieren. Wir wünschen ihm für dieses für unsere Demokratie wesentliche, der Überparteilichkeit verpflichtete Amt eine glückliche Hand und Gottes Segen.
Unsere Aufmerksamkeit gilt naturgemäß den im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Vereinbarungen sowie der in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder angekündigten Ausrichtung der Politik. Dabei müssen wir die einzelnen Politikbereiche mit unseren Positionen zu Sachfragen konfrontieren.
Ausdrücklich hebe ich hervor, dass in der Koalitionsvereinbarung positive Ansätze erkennbar sind, die unsere Unterstützung verdienen. Ich denke dabei an die Absicht, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in seiner Eigenständigkeit zu stärken und wichtige Anliegen der Entwicklungszusammenarbeit umzusetzen. Dazu gehören die angekündigten Initiativen für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, für die Investition von Mitteln, die aus der Entschuldung besonders armer Länder frei werden, zur Armutsbekämpfung, für ein faires und transparentes Verfahren im Zusammenhang mit Staatsinsolvenzen, für eine verbesserte Rüstungskontrolle insbesondere von Kleinwaffen sowie für die Verpflichtung, bis 2006 mindestens 0,33 % des Bruttosozialproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit und für die Armutsbekämpfung in der Welt zur Verfügung zu stellen. Ausdrückliche Erwähnung verdient auch die Absicht, die sog. HERMES-Bürgschaften für Ausfuhrgewährleistungen des Bundes transparent zu gestalten und eine Prüfung von Menschenrechtsverletzungen vorzunehmen, bevor entsprechende Bürgschaften geleistet werden.
Unkonkret bleiben hingegen die Absichtserklärungen für den deutschen Beitrag zum Aktionsprogramm 2015, mit dem die weltweite extreme Armut halbiert werden soll, sowie für den deutschen Beitrag zur Bekämpfung von HIV/Aids. Dabei hat die Ausbreitung von HIV/Aids inzwischen schier unvorstellbare Ausmaße angenommen. Über 40 Millionen Menschen sind infiziert, jährlich sterben ca. drei Millionen an Aids. Der von UN-Generalsekretär Kofi Annan initiierte und inzwischen installierte Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria muss aus allen Ländern mit entsprechenden Finanzmitteln aufgefüllt werden. Ich schließe mich deshalb der Forderung des Aktionsbündnis gegen Aids, zu dem eine ganze Reihe von kirchlichen Einrichtungen und Werken gehören, an, die Bundesregierung sollte jährlich 350 Millionen Euro in diesen Fonds einzahlen. Denn es muss jetzt darum gehen, den infizierten Menschen in Entwicklungsländern einen besseren Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten zu gewähren und die Bekämpfung von Aids durch die Förderung von Präventionsmaßnahmen zu unterstützen. An die pharmazeutische Industrie geht die Forderung, lebensnotwendige, unentbehrliche Medikamente für die Behandlung HIV-Infizierter in wirtschaftlich ärmeren Ländern zum Produktionskostenpreis abzugeben.
In der Friedens- und Europapolitik begrüßen wir das eindeutige Bekenntnis zu den Vereinten Nationen, zur NATO, zur Europäischen Union sowie zur OSZE - eingebettet in eine feste Freundschaft Deutschlands mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Denn es entspricht den Erfahrungen seit dem Zweiten Weltkrieg, dass Frieden in Deutschland und Europa nur in diesen Kooperationen und Allianzen gesichert werden kann. Und unsere geschichtlichen Erfahrungen stimmen gegenüber der Vorstellung eines `deutschen Weges´ misstrauisch. Dringend erforderlich sind neue Initiativen, damit der unerträgliche Konflikt im Heiligen Land deeskaliert werden kann. In der Beendigung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern liegt der Schlüssel für die Befriedung der gesamten Region im Mittleren- und Nahen Osten. Dazu muss Deutschland im Verbund mit der Europäischen Union und den Vereinten Nationen seinen Beitrag leisten.
Weder der Koalitionsvertrag noch die Regierungserklärung enthalten eine Stellungnahme zu den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und konkrete Aussagen über einen deutschen Beitrag zu einer politischen Lösung des Irak-Konflikts. Angesichts der offensichtlichen Instrumentalisierung der Irak-Frage im Wahlkampf hat die Öffentlichkeit aber ein Anrecht auf Klarheit. Die Aussage "Deutschland wird sich an einem Krieg gegen den Irak nicht beteiligen" wird jedenfalls Saddam Hussein nicht daran hindern, Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Ohne eine Entschärfung der Kriegsgefahr kommt es auch nicht zu der dringend notwendigen Verbesserung der katastrophalen humanitären Situation für die Menschen im Irak. Deshalb sind konstruktive Beiträge Deutschlands im Bündnis mit anderen erforderlich. Ein ermutigendes Zeichen für die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen ist in jedem Fall die einstimmige Verabschiedung der UN-Resolution 1441.
Mit Sorge erfüllt uns, dass die Aufgabe des Staates, das menschliche Leben von Beginn bis zum Ende zu schützen, weder im Koalitionsvertrag noch in der Regierungserklärung Erwähnung findet. Mein verehrter Vorvorgänger im Amt des ZdK-Präsidenten, Hans Maier aus München, hat einmal festgestellt: "Ob Leben geschützt wird und wie es geschützt wird, das sagt etwas aus über die innere Verfassung eines Gemeinwesens". Die Aussagen über die Würde des Menschen und das Recht auf Leben stehen am Anfang unseres Grundgesetzes. Der Schutz des im Mutterleib wachsenden Kindes ist also kein strafrechtliches Relikt, sondern aktuelles Gebot der Verfassung, ebenso wie eine menschenwürdige Begleitung des Sterbeprozesses.
Ich möchte in diesem Zusammenhang darüber berichten, dass ich am 7. Juni d. J. den Bundeskanzler über den Beschluss unserer letzten Vollversammlung "Beratungsangebot zum Schutz des ungeborenen Lebens qualitativ und quantitativ ausgestalten" informiert und ihn gebeten habe, dafür Sorge zu tragen, dass die Bundesregierung die Anstrengungen des Staates in Bund und Ländern zum Schutz des ungeborenen Lebens darlegt. Damit wäre ein geeigneter Ansatzpunkt gegeben, feststellbare Mängel des Beratungskonzeptes oder seiner praktischen Durchführung beseitigen und das gesetzliche Beratungssystem in Zukunft effektiver umsetzen zu können. Am 19. August 2002 erhielten wir leider eine völlig unzureichende, weil unseren Fragen ausweichende Antwort - nicht vom Bundeskanzler selbst, sondern von einem leitenden Beamten im Bundeskanzleramt. Darauf hin sah ich mich veranlasst, - in gebührendem Abstand zur Bundestagswahl - erneut an den Bundeskanzler zu schreiben und ihn an unsere Bitte zu erinnern.
Wir bedauern das Fehlen klarer Aussagen zum Lebensschutz im Koalitionsvertrag, weil biomedizinische Entwicklungen ein unserem Grundgesetz verpflichtetes gesetzgeberisches Handeln erfordern. Wir sehen jedenfalls die Notwendigkeit, ein umfassendes Fortpflanzungsmedizingesetz zu erarbeiten, das keinesfalls unter das Schutzniveau des geltenden Embryonenschutzgesetz von 1990 zurück geht. Dies gilt insbesondere für den im geltenden Embryonenschutzgesetz festgehaltenen Ausschluss von Forschung an Embryonen und von anderen Verwendungen, die nicht dem Wohl des Embryos selbst dienen. Für die Erarbeitung eines solchen Gesetzes erscheint nach den Erfahrungen der letzten Wahlperiode die Einrichtung einer Enquête-Kommission des Bundestages sinnvoll. Deshalb sind wir sehr dankbar dafür, dass sich aus der Mitte des Parlaments heraus eine entsprechende Initiative abzeichnet. Ich hoffe, dass ein solcher Antrag die notwendige Zahl von Stimmen erhält.
Wie Sie wissen, ist die Perspektive der Europäischen Union der thematische Schwerpunkt dieser Vollversammlung. Ohne dem Vortrag von Ministerpräsident Erwin Teufel vorgreifen zu wollen, möchte ich im Rahmen des Berichts zu einer aktuellen europapolitischen Frage Stellung nehmen:
Seit längerem wird debattiert, ob es möglich ist, dem Wunsch der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union zu entsprechen. Viele, wenn nicht die meisten, sind der Auffassung, darüber könne erst entschieden werden, wenn sich die Menschenrechtssituation in der Türkei eindeutig verbessert habe. Um so notwendiger ist es, jetzt prinzipielle Fragen zu stellen, damit die Gründe klarer werden, die dafür und die dagegen sprechen, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen. Für das ZdK ist - neben anderen wichtigen politischen, rechtlichen und kulturellen Fragen - entscheidend, wie die Menschenrechte geachtet und wie die Christen und die christlichen Kirchen in der Türkei behandelt werden. Und da müssen wir in aller Klarheit feststellen: Die Menschenrechte gelten nicht als unantastbar und die christlichen Kirchen werden in der Türkei permanent schikaniert und diskriminiert. Geschichtlich ehrwürdige christliche Gemeinschaften sind zu einem Schatten ihrer selbst geworden, weil ihre Mitglieder keine Möglichkeit sahen, als bekennende und praktizierende Christen in der Türkei wie gleichberechtigte Bürger behandelt zu werden, so dass sie sich dazu entschlossen, das Land zu verlassen. Damit stellt sich für uns die Frage, was für ein Europa das sein soll, in das diese Türkei aufgenommen werden will. Europa ist für uns nicht primär ein Markt, sondern eine geistig-kulturelle Größe. Europas Identität speist sich aus drei Quellen - dem Erbe der Antike, der jüdisch-christlichen Glaubenstradition und der europäischen Freiheitsgeschichte. Nur aus dieser geistigen Fülle kann Europa leben und von Bestand sein. Wir werden nicht zulassen, dass die Traditionslinie des militanten Laizismus zum allein maßgebenden europäischen Erbe erhoben wird und als wesentliches Kriterium für die Aufnahme der Türkei gilt. Genau das scheinen aber jene im Sinn zu haben, die der Türkei mit der Begründung, Europa sei kein Christenklub, die Tür öffnen wollen. Soll die Europäische Union dadurch wachsen, dass wir die Geschichte vergessen und die Gegenwart ignorieren? Gegenwärtig verbindet die Türkei einen rigorosen staatlichen Laizismus mit einer rigiden staatlichen Bevormundung der islamischen Religion und einer skandalösen Einschnürung der christlichen Kirchen. Ein solches Konzept ist nicht nur menschenrechtsfeindlich, sondern auch wirklichkeitsfern. Es kann daher niemanden wundern, dass ein solches Modell nur mit der ständigen Drohung polizeilicher oder militärischer Gewalt aufrecht erhalten werden kann. Der Gedanke scheint nicht abwegig, dass ein solches System die Entwicklung einer offenen Haltung im Islam zur geistigen und gesellschaftlichen Freiheit eher behindert statt fördert. Gewiss weiß niemand, wie die Geschichte künftig verläuft und wie künftige Generationen auf Grund neuer Tatsachen entscheiden werden. Durch gute Beziehungen zur Türkei können wir das unsere zu einem guten Weg der Geschichte beitragen. Realistisch ist die Perspektive einer engen Partnerschaft zwischen der Türkei und Europa. Die gegenwärtige Türkei jedoch gehört nicht in die Europäische Union.
So wie in der Außenpolitik in diesen Monaten darüber gestritten wird, wie Krieg verhindert und Frieden bewahrt werden kann, so stehen Innen- und Gesellschaftspolitik unter dem Vorzeichen des Ringens um eine zeitgemäße Politik für Familien und Kinder. Über lange Zeit waren in der Bundesrepublik Familie und Kinder kein öffentliches Thema. Und wie so oft in der bundesdeutschen Gesellschaft, hatte dies zwei gegensätzliche, aber in die gleiche Richtung wirkende Gründe. Für die einen waren Familie und die Erziehung von Kindern ein bürgerliches Überbleibsel, das der Selbstverwirklichung nur im Wege stand. Für die anderen war das eine Angelegenheit, die Staat und Öffentlichkeit grundsätzlich nichts angingen. Beide Haltungen sind ideologisch borniert und haben großen Schaden angerichtet. Daher ist es zunächst einmal ein großer Fortschritt, dass Familie und Kinder endlich im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen. Denn wir haben wenig, zu wenig Kinder in Deutschland. Die Bevölkerungsstatistiker sagen uns, dass mehr als ein Viertel der Frauen des Geburtsjahres 1965 kinderlos bleiben werden. Nach jahrzehntelanger Tabuisierung ist diese Tatsache inzwischen so alarmierend, dass es nicht mehr möglich ist, jene, die darauf hinweisen, einer faschistoiden Mutterschaftsideologie zu bezichtigen. In einem - aus meiner Sicht allerdings äußerst wichtigen Punkt - vermag ich jedoch bisher keinen Fortschritt zu entdecken. Bis heute ist in der Politik der Zusammenhang zwischen der Stabilität des Sozialstaates und der Zahl der Kinder immer noch weithin tabuisiert, nämlich in bezug auf die schlichte Tatsache, dass es in diesem Lande die Eltern, vor allem die Mütter, sind, die mit der Sorge für ihre Kinder zugleich die Altersversorgung jener mit ermöglichen, die - aus welchen Gründen auch immer - keine Eltern sind. Deutlicher gesagt: In der ganzen familienpolitischen Debatte bleiben die sogenannten Singles außen vor. Nun komme man mir nicht damit, diese seien ja schon steuerlich höher belastet. So lange statistisch nachgewiesen werden kann, dass alle, die sich dazu entschließen, Kinder zu haben, finanziell erheblich schlechter gestellt sind als jene, die keine Kinder haben - so lange ist die Gerechtigkeitslücke nicht geschlossen und so lange ist die Zukunft der deutschen Gesellschaft in Gefahr. Das ist das Kernproblem unseres Sozialstaates. Und die immer wieder neu aufflackernde Debatte über das Ehegattensplitting dient in Wahrheit dazu, die sogenannten Singles vor einer angemessenen Beteiligung an den Lasten der Familien zu schützen.
Dass das soziale Sicherungssystem selbst zur demographischen Krise beiträgt, wenn es nicht gelingt, im System die Familienleistungen adäquat zu honorieren, ist in der Wirtschaftswissenschaft inzwischen herrschende Meinung. Ob man bei der Anerkennung der Familienleistungen so weit gehen kann und will wie Prof. Sinn, Präsident des ifo-Instituts München, der vor wenigen Wochen im Generalsekretariat des ZdK gefordert hat, die Rentenansprüche kinderloser Beitragszahler um 50 Prozent zu kürzen, weiß ich nicht sicher. Sicher weiß ich allerdings, dass das umlagefinanzierte Rentensystem zwei Voraussetzungen hat: Die monetären Beiträge der Arbeitnehmer und die bestandssichernde Erziehungsleistung der Eltern. Beide Voraussetzungen müssen systemimmanent und ihrer Bedeutung entsprechend in der Rentenformel berücksichtigt werden. Dass die derzeitigen Reformabsichten der Bundesregierung, die wiederum die Familienleistungen nicht berücksichtigen, zu einer Stabilisierung des Systems führen werden, bezweifle ich jedenfalls. Daher begrüße ich die Ankündigung der Präsidentin unseres Familienbundes, Frau Bußmann, dass sich die katholischen Verbände sehr entschieden dafür einsetzen werden, das Sozialversicherungssystem durch adäquate Anerkennung der Lebensleistung von Familien, insbesondere von Frauen, nachhaltig zukunftssicher zu gestalten.
Derzeit erleben wir die Neuauflage einer ideologischen Debatte in bezug auf die Ehe. Halten wir zunächst fest, was das ZdK nicht müde wird zu betonen und bei seiner letzten Vollversammlung durch seine Erklärung `Rahmenbedingungen für das Gelingen stabiler Partnerschaften in Ehe und Familie verbessern´ nachdrücklich unterstrichen hat: Eine Familie gelingt um so besser, wenn ihr eine stabile Partnerschaft zwischen den Eltern zugrunde liegt. Denn die Partnerschaft von Vater und Mutter ist die beste Voraussetzung des Kinderwunsches und für ein Aufwachsen von Kindern unter guten Bedingungen. Die geeignete und erprobte rechtliche Form dieser Partnerschaft ist die Ehe, denn sie ist auf Dauer und Zusammenhalt angelegt. Das ist eine durch alle bisherige Geschichte immer wieder bestätigte und erhärtete Erfahrung. Wer also die Familien wirklich unterstützen will, muss die Ehe fördern und das Ansehen der Ehe unterstützen. Das bedeutet überhaupt nicht, andere Lebensformen gering zu achten. Die Koalition scheut sich aber, vom Schutz der Ehe überhaupt zu sprechen. Was wir heute in weiten Teilen der veröffentlichten Meinung feststellen, ist nicht selten eine Verächtlichmachung der Ehe mit der dummen Behauptung, diese sei überholt. Liegt da der Verdacht nicht nahe, dahinter verberge sich häufig nichts anderes als der Wunsch nach Bindungslosigkeit und Beliebigkeit? Wirklich lächerlich ist der Vorwurf, die Ehe sei gegen die Berufstätigkeit der Frau gerichtet. Wenn es eine realistische Chance für eine Frau gibt, Mutterschaft und Beruf zu verbinden, dann ist es die Ehe. Und wenn es eine ernstgenommene Variante werden soll, dass sich auch Väter zeitweise ausschließlich der Erziehung ihrer Kinder widmen, dann ist auch dafür die Ehe die beste Voraussetzung.
Kinder brauchen Eltern, auf die sie sich verlassen können. Und um sich zu freien und bindungsfähigen Menschen entwickeln zu können, müssen sie in der Familie stabile Bindungen erleben. Daher besteht für eine moderne Gesellschaftspolitik die Herausforderung darin, das Rechtsinstitut der Ehe auch unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen lebbar zu machen. Maßnahmen, mit denen der Bundesgesetzgeber die Gestaltungsfreiräume von Eltern deutlich hätte vergrößern können, fehlen aber im Koalitionsvertrag oder sind ausdrücklich unter Finanzierungsvorbehalt gestellt - wie der Ausbau der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten. Und die Aussage des Koalitionsvertrages, Familien in den nächsten Stufen der Steuerreform weiter entlasten zu wollen, bleibt weit hinter den Wahlversprechen beider Regierungsparteien zurück.
Freilich: Damit es für eine Frau eine realistische Option werden soll, Mutterschaft und Beruf zu verbinden, bedarf es dafür unter anderem unterstützender Angebote für die Kinderbetreuung und Kindererziehung, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Und nun entwickelt sich mit wachsendem ideologischen Furor der Streit, ob die Frauen durch die Art der öffentlichen Förderung dazu ermuntert werden, Kindererziehung und Beruf zu verbinden, oder ob vielmehr ihre Mütteraufgabe so öffentlich gefördert wird, dass sie es vorziehen, jedenfalls zeitweise zu Hause zu bleiben. Da gibt es solche, die sich offenbar auf diese Weise - nach alter sozialistischer Tradition - einen größeren Einfluss auf die Kindererziehung und eine weitere Entwertung der Ehe, also eine veritable Kulturrevolution versprechen. Und da gibt es andere, denen nichts Besseres einfällt, als in bewährter Manier das Schreckgespenst der DDR an die Wand zu malen. So droht - in typisch bundesdeutscher Manier - eine notwendige Reform wieder einmal zwischen die ideologischen Mühlsteine zu geraten. Nach meiner Überzeugung muss es in dieser Situation zwei Grundsätze geben:
1. Die Frauen müssen durch die Art der öffentlichen Förderung das höchst mögliche Maß an Freiheit haben zu entscheiden, ob sie sich für eine Phase ihres Lebens ganz der Erziehung ihrer Kinder widmen wollen oder ob sie Elternschaft und Beruf miteinander verbinden wollen.
2. Die Frauen müssen in jedem Fall eine realistische Chance erhalten, wenn sie es wollen, Elternschaft und Beruf zu verbinden.
Von diesen beiden Grundsätzen scheint mir derzeit der zweite besonders wichtig zu sein. Und das wiederum aus zwei Gründen: Erstens ist es mein Eindruck und meine Überzeugung, dass eine große Zahl der jungen Frauen, die Kinder haben möchten, Elternschaft und Beruf verbinden wollen. Zweitens ist Deutschland, genauer gesagt, die alte Bundesrepublik Deutschland, in bezug auf die realistische Chance, sich so zu entscheiden, ein Entwicklungsland. Für diese Feststellung braucht man überhaupt nicht die DDR zu bemühe
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des ZdK