Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 05/2003
Rede von Prof. Dr. Hans Joachim Meyer im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Am Gründonnerstag hat der Papst seine schon länger erwartete Enzyklika zur Eucharistie unterzeichnet. Ich habe sie noch am gleichen Tage als ein Dokument gewürdigt, das deutlich die persönliche Handschrift des Papstes trägt und vor allem spiritueller Natur ist. Die Enzyklika will die Verehrung für die Gegenwart Jesu Christi unter den Zeichen von Brot und Wein in der katholischen Kirche stärken und die Gläubigen wieder neu zu diesem Höhepunkt des christlichen Lebens führen. Ermutigt fühlen wir uns durch das päpstliche Bekenntnis zur Notwendigkeit weiterer ökumenischer Bemühungen. In rechtlicher Hinsicht geht die Enzyklika, wie Kardinal Walter Kasper inzwischen betont hat, keinen Millimeter hinter die Position des II. Vatikanischen Konzils zurück. Der Papst betont vielmehr seine Dankbarkeit „für bedeutsame Fortschritte und Annäherungen, die uns auf eine Zukunft in voller Glaubensgemeinschaft hoffen lassen“. Das lässt uns an die bedeutsamen Aussagen denken, die angefangen vom Lima-Dokument über den Text „Das Herrenmahl“ und die Lehrverwerfungsstudie trotz bestimmter konfessioneller Differenzen einen wesentlichen Konsens zwischen den großen christlichen Kirchen in Bezug auf die Realpräsenz Jesu Christi in der Abendmahlsfeier feststellen. In der Enzyklika wird darauf allerdings kein Bezug genommen, was sicherlich viele begrüßt hätten. Die Medienberichterstattung vor und nach der Enzyklika zeigte nämlich, dass dieser ökumenische Konsens in der Öffentlichkeit offenbar weithin unbekannt ist. Sonst wären in diesen Berichten nicht Aussagen möglich gewesen, nach denen für evangelische Christen das Abendmahl eine rein symbolische Handlung sei. Wir kennen jedoch aus unserer geschwisterlichen Partnerschaft mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag bewegende persönliche Bekenntnisse dafür, welche Bedeutung die Feier des Abendmahles für diese evangelischen Christen hat. Daher glauben wir auch deren Zustimmung sicher sein zu können, wenn wir mit Nachdruck dem in Medienberichten zum Ausdruck kommenden Verständnis der Eucharistie bzw. des Abendmahles als eines bloßen Gemeinschaftsritus ohne Bezug zur Person Jesu Christi und seiner Wahrheit entschieden widersprechen.
Unbestreitbar bleibt, dass, was die Beziehung zwischen Abendmahlsgemeinschaft und Kirchengemeinschaft angeht, die Auffassung der katholischen Kirche und die evangelische Auffassung nicht übereinstimmen. Nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre sind von beiden Seiten die unterschiedlichen Positionen zum Wesen der Kirche und des geistlichen Amtes sogar unterstrichen worden. Daher hielten wir es als ZdK für unumgänglich, rechtzeitig zu sagen, dass sich die Hoffnung auf ein gemeinsames Abendmahl beim Ökumenischen Kirchentag nicht erfüllen kann. Naturgemäß hat dies zu lebhaften Debatten geführt. Was mich bei den Gesprächen und Auseinandersetzungen zur Möglichkeit einer ökumenischen Abendmahlsfeier unter katholischen Christen betroffen macht, ist, dass der inhaltsreiche Begriff des Volkes Gottes, den Lumen gentium für die Kirche entfaltet, für nicht wenige Katholiken in der kirchlichen Praxis keine wirkliche Lebenskraft gewonnen hat. Ich spreche jetzt nicht von jenen Zeitschriftenartikeln, in denen man sich nicht scheut, die Abendmahlsfrage zu einem Instrument im Kampf gegen die Existenz und die Autorität des kirchlichen Amtes zu machen. Sondern ich denke an jene, die die Kirche durchaus als geschwisterliches und dialogisches Miteinander von geistlichem Amt und Gemeinde erleben wollen, aber die eine Wirklichkeit erfahren, die nicht oder nur wenig ihrer Sehnsucht entspricht. Wohl deshalb sehen sie nicht, dass es die Kirche ist, unsere nach dem Willen Jesu Christi geordnete Kirche, durch die sie die Einladung Jesu Christi zur Mahlfeier erreicht, sondern sie lösen die Eucharistie aus diesem notwendigen Zusammenhang. Für mich ist diese Haltung, die aus Enttäuschung und Resignation entspringt, ein Grund zur Trauer und zur Sorge. Denn das geistliche Amt gehört zum Volke Gottes und lebt in ihm. Zu keiner Zeit - und ganz gewiss nicht in dieser Zeit - können Amt und Volk entgegengesetzt und die Kirche auf Weisung und Gehorsam reduziert werden. Die Kirche ist auch nicht statisch und auf die Vergangenheit fixiert, sondern sie bleibt auf dem Weg durch die Geschichte. Daher hätten viele begrüßt, die Enzyklika würde über die eindringlich wiederholten Ziele der Ökumene hinaus auch konkrete Wege eröffnen oder markieren, auf denen die nächsten Schritte zu diesen Ziele hin gegangen werden können. Mit dem Papst hoffen wir auf weitere Fortschritte in der Ökumene. Und wir halten an der Hoffnung fest, dass eine gemeinsame Abendmahlsfeier der Christen in Zukunft möglich wird.
Jetzt sehen wir mit Freude und Zuversicht dem Ökumenischen Kirchentag in Berlin entgegen. Die intensive und aufwändige inhaltliche und organisatorische Vorbereitung berechtigt uns, ein großes Ereignis der christlichen Glaubensbotschaft und des gesellschaftlichen Dialogs zu erwarten. Für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit danken wir unseren evangelischen Schwestern und Brüdern in diesem gemeinsamen Projekt. Mit ihnen sind wir froh über die engagierte Mitarbeit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland. Es entspricht einer guten Tradition der Kirchen- und Katholikentage, dass Gottesdienste ihre geistliche Mitte bilden und dass ein durchdachtes thematisches Programm dem Gespräch unter Christen und dem Gespräch mit allen Mitmenschen, die eine gute Zukunft unserer Gesellschaft wollen, eine anregende und ermutigende Grundlage bietet. Der Ökumenische Kirchentag wird erweisen, wie breit das gemeinsame Fundament aller Christen im Glauben ist und wird deshalb, wie wir hoffen dürfen, der ökumenischen Entwicklung einen kräftigen Impuls geben. In einer Zeit der Zukunftsangst und der Suche nach neuer Orientierung bezeugen wir mitten in der deutschen Gesellschaft unseren Glauben an Jesus Christus.
Wir geben dieses Zeugnis, gerade weil wir wissen, dass viele sich vom Glauben und von der Kirche entfernt haben. Die jüngste Umfrage "Perspektive Deutschland" dokumentiert einen Tiefstand im Ansehen der Kirche. Eine Minderheit zu werden in einem Land, das durch das Christentum geprägt worden ist und von diesem einen gut Teil seiner geistigen Kraft empfangen hat, ist gewiss bitter. Aber eine freiheitliche Gesellschaft wird nicht zuletzt bewegt vom Engagement überzeugter Minderheiten – zum Guten wie zum Bösen. Nach unserer Überzeugung braucht diese Gesellschaft die Frohe Botschaft Jesu Christi. So kann eine Minderheit ihren Glauben bekennender und mit ihrer Kirche lebender Christen sehr wohl eine große Kraft sein. Durch uns Christen wird das Christentum in diesem Land nicht nur überleben, sondern wir können auch auf die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft deutlichen Einfluss nehmen. Dazu brauchen wir gewiss mehr Selbstbewusstsein und den Mut zum klaren Profil. Selbstsäkularisation und Rückzug aus dem gesellschaftlichen Engagement sind gleichermaßen Irrwege, die unsere jetzige Situation nur verschlimmern. Christen dürfen weder in dieser Gesellschaft verschwinden, noch dürfen sie sich aus unserer Gegenwart in eine angeblich heile Vergangenheit zurückflüchten. Uns entgeht nicht, dass in Deutschland die Stimmen jener lauter werden, die den Weg der Kirche nach dem II. Vatikanum und dieses bedeutsame Konzil selbst beargwöhnen und herunterreden. Dazu gehört auch die wichtige Rolle der katholischen Laien im kirchlichen Leben und deren gesellschaftliches Engagement. Wer meint, die Rettung der Kirche in Deutschland erfordere, die Eigenverantwortlichkeit des deutschen Laienkatholizismus zu bestreiten, begeht einen schweren Fehler.
Meine Überzeugung, dass das Bild vom Volke Gottes, das das II. Vatikanische Konzil in seiner Konstitution "Lumen gentium" von der Kirche zeichnet, auch weiterhin die uns alle verpflichtende Grundlage sein muss, lässt mich zu einem lokalen Vorgang Stellung nehmen: Der neue Bischof von Regensburg hat den gewählten Vorsitzenden eines Dekanatsrates, der zugleich gewähltes Mitglied eines Diözesanrates ist, aus seinen Aufgaben entlassen. Zur rechtlichen Begründung beruft sich der Bischof auf das universalkirchliche Recht. Dieses kennt jedoch die gewählten Laiengremien in Deutschland nicht und regelt sie folglich auch nicht. Als inhaltlicher Grund wird pauschal gesagt, der Betroffene wolle eine andere Kirche. Wenn dem, der an seinen Bischof oder an das kirchliche Amt kritische Anfragen hat, der rechte Glauben abgesprochen und die Wahrnehmung seiner Rechte bestritten wird, dann werden in der Kirche bald jene Menschen überwiegen, die zu eigener Überzeugung und zum eigenen Handeln entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind. Eine Kirche ohne inneren Freimut wird in einer freiheitlichen Gesellschaft dramatisch an Bedeutung verlieren. Selbstverständlich schließen sich für Katholiken Kirchentreue und Kirchenkritik nicht aus, sondern Kirchentreue ist die Grundlage und Voraussetzung von Kirchenkritik. In diesem Sinne sind wir entschlossen, den deutschen Laienkatholizismus, wie er seit 1848 geschichtlich gewachsen und im Ergebnis des II. Vatikanischen Konzils und der Würzburger Synode gültig formuliert worden ist, zu verteidigen, und appellieren an den Bischof von Regensburg, auf diesen Boden des Miteinanders, des argumentativ geführten Dialogs und der Zusammenarbeit zurückzukehren.
Die internationale Lage hat in der Zeit seit unserer letzten Vollversammlung dramatische Entwicklungen gesehen. Am 24. Januar hat der Hauptausschuss eine Erklärung zum Irak-Konflikt verabschiedet. In dieser Erklärung haben wir darauf hingewiesen, dass „das diktatorische Regime des Saddam Hussein nicht nur die Menschen im eigenen Land mit verbrecherischen Methoden unterdrückt, sondern auch nicht davor zurückschreckt, seine außenpolitischen Ziele mit militärischen Mitteln zu verfolgen und sich zu diesem Zweck in den Besitz von Massenvernichtungsmitteln zu setzen“. Daher haben wir die Berechtigung scharfer politischer Maßnahmen einschließlich der Drohung, „notfalls militärische Gewalt zum Einsatz zu bringen“ unterstrichen. Zugleich haben wir betont, dass auch diese Politik unter „dem Grundsatz der Friedensbewahrung“ stehen muss und dass jeder Krieg, „auch der aufgezwungene und unvermeidliche Krieg“, Leid und Tod für Unschuldige bedeutet. Kann eine schwere Gefährdung des Weltfriedens oder des Friedens in einer Weltregion anders nicht verhindert werden, so darf der Entschluss dazu nicht von einer einzelnen Macht, sondern er muss im Rahmen der UN-Satzung gefasst werden. Wir sahen im Januar nicht die Notwendigkeit zum militärischen Handeln, wohl aber die einer glaubhaften Bereitschaft dazu.
Inzwischen hat eine Koalition unter Führung der USA im Irak militärisch interveniert, und das verbrecherische Regime des Saddam Hussein ist gestürzt. Es sollte keinen Demokraten geben, der über diesen Sturz nicht froh ist. Gleichwohl stellen sich auch jetzt alte und neue Fragen. Welche Ordnung soll nun im Irak entstehen? Was bisher geschehen ist, zeigt, wie Recht wir im Januar hatten, als wir es eine verhängnisvolle Illusion nannten, „anzunehmen, durch einen militärischen Schlag könnte die politische Situation im Irak grundlegend und dauerhaft verbessert werden“. Die Zerstörungen und Plünderungen medizinischer und kultureller Einrichtungen im eroberten Bagdad waren schockierend, und dies als einen Ausdruck von Befreiung zu werten, ist zynisch.
Mit Sorge erfahren wir von einer deutlichen Verschlechterung in der Situation der irakischen Christen. Bisher ist ein wirklichkeitsnahes politisches Konzept der amerikanischen Regierung für die Zeit nach Saddam Hussein nicht erkennbar. Trotzdem ist zu befürchten, dass sich durch den raschen militärischen Erfolg jene in den USA bestätigt fühlen, die ein unilaterales Vorgehen der einzigen gegenwärtigen Weltmacht für notwendig und berechtigt halten. Eine solche nur von einer Macht konzipierte und durchgeführte Politik wäre ein verhängnisvoller Rückschritt auf dem Weg zu einer internationalen Rechtsordnung. Die Frage ist allerdings: Welche realistischen Modelle gibt es für die Handlungsfähigkeit einer internationalen Rechtsordnung? Die Vereinten Nationen und die Europäische Union sind durch den Gang der Ereignisse geschwächt, und dies ist nicht ausschließlich die Schuld der amerikanischen Regierung. Nicht nur unilaterales Vorgehen, sondern auch Blockbildung innerhalb von Allianzen ist das Ende kollektiven Handelns. In Deutschland haben die großen Demonstrationen nicht nur einen unbedingten Willen zum Frieden gezeigt, sondern leider auch offenbart, wie weit verbreitet die Neigung zur Realitätsverweigerung und zum apolitischen Schwarz-Weiß-Denken ist. Was wir dringend brauchen, ist eine ebenso selbstbewusste wie realistische Definition der politischen Rolle Deutschlands in und mit der Europäischen Union. Das schließt Kritik an amerikanischer Regierungspolitik nicht aus, wohl aber Antiamerikanismus. Zwar scheint die unkritische Übernahme amerikanischer Lebensformen, die einhergeht mit einer Verachtung der deutschen Sprache, ein wesentliches Merkmal der bundesdeutschen Gesellschaft zu sein. Und deshalb bin ich nicht glücklich darüber, dass die Verantwortlichen des Jugendzentrums des Ökumenischen Kirchentags „Ihr sollt ein Segen sein“ durch „Be a Blessing“ ersetzten. Dafür fehlt mir jedes Verständnis. Gravierender ist es freilich, dass - wie manche englischsprachigen Schilder und Plakate der Friedensdemonstrationen zeigten - die hemmungslose Lust zur Kopie des American way of life mit antiamerikanischer Einstellung durchaus Hand in Hand gehen kann. Die deutsche Debatte über den festen Platz unseres Landes in der westlichen Welt ist offenbar noch nicht zu Ende. Wir sollten uns weiterhin mit katholischem Friedenswillen und mit katholischem werteorientierten Realitätssinn daran beteiligen. Wahrer Friede beruht auf dem Respekt vor der Menschenwürde. Da dieser Respekt in einer widersprüchlichen Wirklichkeit praktiziert werden muss, ist er auch stets eine Sache der praktischen Vernunft.
Wir haben in den letzten Jahren mit kritischer Aufmerksamkeit die biomedizinischen Entwicklungen beobachtet, sie ethisch bewertet und an der notwendigen politischen Gestaltung mitgewirkt. Deshalb sind wir Bischof Dr. Gebhard Fürst sehr dankbar, dass er sich in diesem Feld außerordentlich engagiert und uns während dieser Vollversammlung Auswertungen seiner Forschungsreise in die USA vortragen wird. Ich möchte Sie auf einen Vorgang hinweisen, der unsere besondere Aufmerksamkeit erfordert: Im letzten Jahr hat die EU-Kommission das sechste Forschungsrahmenprogramm für die Jahre 2003 bis 2006 mit einem Finanzvolumen von 17,5 Mrd. Euro beschlossen. Ursprünglich war auch die Förderung von Forschungsprojekten vorgesehen, bei denen Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen vernichtet werden. Durch öffentlichen Druck und das Handeln mehrerer Regierungen, unter ihnen auch der deutschen Bundesregierung, konnte verhindert werden, dass auf diese Weise Fakten geschaffen werden, die im Widerspruch zu gesetzlichen Regelungen in Mitgliedsländern stehen. Allerdings wurde zunächst nur ein Moratorium bis zum Ende dieses Jahres vereinbart. Nun ist für die Zeit danach aus der EU-Kommission eine Diskussionsgrundlage vorgelegt worden, die eine deutliche Ausweitung auch der verbrauchenden Embryonenforschung vorsieht. Wie im Vorjahr müssen wir erneut darauf aufmerksam machen, dass dies der Gesetzeslage in der Bundesrepublik wie auch in einigen anderen Mitgliedsländern widerspricht. Denn in Deutschland ist jede beabsichtigte künstliche Erzeugung von Embryonen, außer bei der künstlichen Befruchtung mit dem Ziel einer Schwangerschaft bei der Frau, von der die Eizelle stammt, gesetzlich verboten. Daher fordere ich die Bundesregierung auf, bei den anstehenden Entscheidungen, notfalls durch ihr Vetorecht, dafür Sorge zu tragen, dass keine öffentlichen Mittel aus Mitgliedsländern solche Forschungsvorhaben fördern, die der nationalen Gesetzgebung widersprechen.
Die deutsche Debatte über die Reform und die künftige Gestalt des deutschen Sozialstaates nimmt an Intensität zu und verlangt nun endlich mutige, aber auch gut durchdachte Entscheidungen. Zwei große Herausforderungen sind zu bewältigen, die in ihrer gegenseitigen Bedingtheit gesehen werden müssen: Die demographische Entwicklung und die wirtschaftliche Entwicklung. Die Vorschläge, die der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung am 14. März vorgestellt hat, konzentrieren sich auf die „strukturellen Ursachen der aktuellen Wachstumsschwäche“: Diese sind in seiner Sicht „die Höhe der Lohnnebenkosten“ und die „Vernichtung von rund 700 Milliarden Euro“ an den Börsen in Deutschland, wodurch Investitionen und Konsumausgaben drastisch zurückgegangen seien. Der demographischen Herausforderung widmen sich die Vorschläge der Rürup-Kommission, insbesondere die Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre.
In der Tat sprechen die Zahlen, die von der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ im vorigen Jahr vorgestellt wurden, eine deutliche Sprache: Die durchschnittliche Lebenserwartung von 60-jährigen Männern und Frauen ist allein zwischen 1991/93 und 1997/98 um mehr als ein Jahr, die durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 1980 bis 2001 um mehr als vier Jahre gestiegen. Das spricht für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Zu fragen ist allerdings, ob nicht zunächst das tatsächliche Renteneintrittsalter, das weit unter dem jetzigen gesetzlichen Eintrittsalter liegt, erhöht werden müsste. Dafür steht jedoch keine auch nur annähernd ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung. Dem steht nicht minder der Jugendwahn entgegen, der nach wie vor von vielen Personalchefs praktiziert wird. Ich bin daher Dr. Kues und den Mitgliedern des Sachbereiches 3 des ZdK dankbar, dass sie sich neben der gewichtigen Erklärung, die der Vollversammlung vorliegt, auch mit diesem Problem befasst haben: Wir brauchen auf dem Arbeitsmarkt dringend eine neue Wertschätzung der fachlichen Leistungsfähigkeit, der Lebenserfahrungen und der Sozialkompetenz älterer Menschen. Dazu bedarf es des Umdenkens in der Wirtschaft und einer Offensive in der öffentlichen Meinung, die diese erzwingt. Es liegt doch auf der Hand, dass die Arbeitgeber bald eine kreative Förderung der Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer unter veränderter Lebenszeitperspektive in ihrem eigenen Interesse brauchen werden.
Warnen müssen wir auch vor der Absicht, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von heute auf morgen drastisch zu kürzen. Über Jahre und Jahrzehnte haben Menschen Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt, um sich gegen dieses unverschuldete Risiko abzusichern. Häufig wurden diese Mittel für andere Leistungen verbraucht. Mir bereitet auch große Sorge, wie stark arbeitsmarktpolitische Maßnahmen auf die Zunahme befristeter Arbeitsverhältnisse setzen und wie hemmungslos in den Medien das Leitbild des sich flexibel jeder ökonomischen Forderung anpassenden Arbeitnehmers propagiert wird. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung sieht in der Unsicherheit des Arbeitsplatzes durch die häufige Vergabe von zeitlich befristeten Stellen eine wesentliche Ursache für den Rückgang der Geburtenrate bei hochqualifizierten jungen Leuten. Eine Arbeitsmarktpolitik, die blind ist für die Familiensituation und die Bevölkerungsentwicklung, untergräbt genau die Zukunft, die sie eigentlich sichern soll.
Nach meinem Eindruck gibt es noch lange keinen Konsens darüber, dass die Zukunft der deutschen Gesellschaft nur durch eine strukturelle Verbesserung der Situation der Familien gesichert werden kann. Eine erfreuliche Ausnahme stellt die Forderung von Angela Merkel dar, dass die Erziehung der Kinder einen deutlich größeren Einfluss auf die Höhe der Rente haben müsste als bisher. Ich möchte Frau Dr. Merkel in diesem Punkt nachdrücklich unterstützen, gerade nachdem sie, wie zu erwarten war, auf heftigen Widerstand gestoßen ist. Denn sie hat deutlich gemacht, dass kosmetische Verbesserungen nicht ausreichen. Angela Merkel hat zu Recht gefordert, die Rentenansprüche von älteren Menschen, die Eltern von Kindern sind, im Vergleich mit denen von Kinderlosen deutlich zu erhöhen. Das entspricht einem Gedanken, den bekanntlich Prof. Sinn im November vorigen Jahres bei einem Fachgespräch im ZdK geäußert hat. Wie zu erwarten war, ist Frau Merkel damit auf heftigen Widerstand gestoßen. Wer dazu die Leserbriefe in Zeitungen liest, dem eröffnen sich bemerkenswerte Einblicke in die gesellschaftlichen Konsequenzen eines nur an sich denkenden Individualismus. Und es gibt Pressekommentare, die so „tief im Abseits“ sind, dass man um die Zukunft unseres Landes fürchten muss. Für uns kann dieser Widerstand nur ein Grund sein, um so energischer für eine Altersversorgung einzutreten, die den Leistungen von Eltern gerecht wird und die derzeitige soziale Schieflage zu Lasten der Familien ein für allemal beseitigt.
Auch die Tagesordnung dieser Vollversammlung spiegelt die Vielzahl von Aktivitäten des ZdK wider. Einige Aufträge und Projekte befinden sich noch in Arbeit. So werden Sie sich erinnern, dass im November vorigen Jahres die Forderung beschlossen wurde, dass in Zukunft das Volk Gottes wesentlich stärker als bisher an der Auswahl der Kandidaten zur Bischofswahl beteiligt wird. In diesem Sinne hat der Hauptausschuss bei seiner Sitzung am 14. März diese Frage ausführlich beraten und sich von der Kirchenrechtlerin Prof. Dr. Sabine Demel in die rechtlichen Möglichkeiten einführen lassen. Aus der derzeitigen Rechtslage ergibt sich als eine erste zeitnah realisierbare Möglichkeit, eine stärkere Beteiligung des Volkes Gottes zu erreichen, indem das Domkapitel in Form einer Selbstbindung sein Wahlrecht auf andere Gremien ausdehnt und den jeweiligen Diözesanrat an der Kandidatenfindung beteiligt. Der Ständige Arbeitskreis im Sachbereich I „Pastorale Grundfragen“ hat es, auf die Bitte des Hauptausschusses hin, mittlerweile übernommen, die Thematik vertiefend zu bearbeiten und einen Vorschlag für die weitere Behandlung der Thematik im ZdK zu erarbeiten. Zur Sichtung und Systematisierung der diözesanen synodalen Prozesse in den deutschen Diözesen legen wir einen Arbeitsbericht vor.
Thematischer Schwerpunkt unserer Vollversammlung ist die von namhaften Experten miterarbeitete Vorlage zu den Internationalen Finanzmärkten, die schon durch ein Symposium in Frankfurt am Main öffentliches Interesse auf sich gezogen hat. Ganz ausdrücklich will ich auf den großen Zusammenhang hinweisen, der zwischen dieser Thematik und der Reflexion über die gesellschaftliche Entwicklung in Mittelosteuropa aus Anlass des Jahrestages von RENOVABIS sowie mit dem Bericht über die Exposure-Projekte am Beispiel Boliviens besteht. Wie bei den anderen in meinem Bericht behandelten Themen stellt sich damit das Zentralkomitee der deutschen Katholiken in seine große Tradition der sozialen und politischen Verantwortung aus der Kraft des christlichen Glaubens.
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des ZdK