Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 11/2003
Rede von Prof. Dr. Hans Joachim Meyer im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Zur Bedeutung des Ökumenischen Kirchentages
Das bedeutsamste Ereignis seit unserer letzten Vollversammlung war ohne Frage der Ökumenische Kirchentag in Berlin, der in seinem Erfolg und in seiner Wirkung alle unsere Erwartungen übertroffen hat. Das erfüllt uns mit Freude und Dankbarkeit. Unseren Gastgebern – den beiden Bischöfen und unseren Schwestern und Brüdern im Erzbistum Berlin und in der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg – möchte ich unser aller herzlichen Dank aussprechen. Es entspricht der Bedeutung dieses Ereignisses, dass wir ihm auf unserer Vollversammlung heute Nachmittag einen eigenen Tagesordnungspunkt widmen. Dort wird dann auch Zeit für eine ausführlichere Debatte sein. In meinem Bericht will ich nur kurz auf die innerkatholische Kontroverse nach dem Ökumenischen Kirchentag eingehen, die durch die kritischen Äußerungen der Kardinäle Meisner und Ratzinger ausgelöst worden ist. Was dazu aus der Sicht des ZdK zu sagen war, habe ich gesagt und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Ausdrücklich danken möchte ich jedoch den Kardinälen Lehmann und Sterzinsky, die danach die Bedeutung dieses großen Christentreffens verteidigt haben, und Kardinal Kasper, der sich zu seiner Mitwirkung als einer der Hauptvortragenden beim ÖKT noch einmal ausdrücklich bekannt hat. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, dankbar an die ermutigende Botschaft des Heiligen Vaters an den ÖKT zu erinnern und an die Teilnahme vieler Bischöfe und Kardinäle. Es geht uns gewiss nicht darum, Kritik am Ökumenischen Kirchentag generell abzuwehren, die neben der Freude nicht nur berechtigt, sondern in mancher Detailfrage auch notwendig ist. Außerdem stünde dem ZdK mit dem von uns praktizierten Verständnis von Dialog in der Kirche eine solche generelle Abwehr nicht gut zu Gesicht. Was uns aber bei der geäußerten Art der Kritik betroffen gemacht hat, war neben der verletzenden Nichtachtung unseres Engagements insbesondere die Gefahr, dass der katholische Anteil am Erfolg des ÖKT beschädigt wird. Denn naturgemäß liegt es im Wesen der Ökumene, dass über ihr Verständnis und über ihren Weg beständig gerungen wird. Wer – beabsichtigt oder unbeabsichtigt - den Eindruck hervorruft, sich aus diesem Ringen faktisch zu verabschieden, beeinträchtigt das katholische Engagement in der Ökumene und stört damit auch deren innere Balance.
Die Rechtsstellung der Räte in Deutschland
Aus aktuellen Gründen bedarf die Rechtsstellung der Räte, die eine der beiden Säulen des deutschen Laienkatholizismus bilden, einer grundsätzlichen Klarstellung. Auch wenn es in dem konkreten Streitfall, über den ich in der letzten Vollversammlung berichtete, inzwischen zu einer Einigung gekommen ist, was wir ausdrücklich begrüßt haben, so ist dadurch doch keineswegs die notwendige Klarheit eingekehrt.
Wer den Charakter der verschiedenen Räte in Deutschland richtig verstehen will, muss zunächst wissen, dass das II. Vatikanische Konzil zwei Beschlüsse gefasst hat, die für die Klärung dieser Frage sorgfältig auseinander gehalten werden müssen. Erstens empfahl das Konzil in seinem Dekret über die Bischöfe mit dem Titel „Christus Dominus“ im Artikel 27 in den Diözesen einen Pastoralrat einzurichten, „dem es zukommt, unter der Autorität des Bischofs das zu erforschen, was die pastoralen Werke in der Diözese angeht, es zu erwägen und dazu praktische Schlussfolgerungen vorzulegen.“ Was der Text bis in die Wahl der Verben deutlich macht, ist, dass die als Pastoralräte bezeichneten Gremien ihr Mandat – direkt oder indirekt - vom Bischof erhalten und dass der Bischof daher auch der Adressat der von diesen geleisteten Beratung ist. Bekanntlich gibt es auch in Deutschland solche Diözesanpastoralräte. Sie sind jedoch mit jenen Diözesanräten, deren Mitglieder von Laien gewählt werden, nicht identisch.
Das II. Vatikanische Konzil hat zweitens ein Dekret über das Laienapostolat mit dem Titel „Apostolicam Actuositatem“ beschlossen. In diesem wird u. a. im Artikel 26 empfohlen, auf pfarrlicher, zwischenpfarrlicher und interdiözesaner, aber auch auf nationaler und internationaler Ebene beratende Gremien einzurichten, welche
„die apostolische Tätigkeit der Kirche im Bereich der Evangelisierung und Heiligung, im caritativen und sozialen Bereich und in anderen Bereichen bei entsprechender Zusammenarbeit von Klerikern und Ordensleuten mit den Laien unterstützen. Unbeschadet des je eigenen Charakters und der Autonomie der verschiedenen Vereinigungen und Werke der Laien werden diese Beratungskörper deren gegenseitiger Koordinierung dienen können.“
Für das richtige Verständnis dieses Textes müssen wiederum zwei Dinge klar unterschieden werden: Die Empfehlung, koordinierende Räte für das Apostolat aus Priestern, Ordensleuten und Laien einzurichten, und die Feststellung, dass dadurch der je eigene Charakter und die Autonomie der Laienvereinigungen nicht berührt werden. Der zweite Punkt ist schon deshalb wichtiger und höherrangiger, weil er auf Artikel 31 der Kirchenkonstitution Lumen Gentium fußt, welcher lautet:
„Den Laien ist der Weltcharakter in besonderer Weise eigen ... Sache der Laien ist es, Kraft der ihnen eigenen Berufung in der Verwaltung und in der Gott gemäßen Regelung der zeitlichen Dinge das Reich Gottes zu suchen ...“
Bekanntlich hatte Rom bis zum II. Vatikanum den Anspruch vertreten, jede Laienaktivität müsse unter bischöflicher Leitung stehen und sei „ein Werkzeug in der Hand der Hierarchie“ (Pius XII.) Gerade angesichts mancher Tendenz, das Neue in den Beschlüssen des II. Vatikanischen Konzils herunterzuspielen oder gar zu leugnen, ist es geboten, an diese Tatsachen immer wieder zu erinnern. Die Konsequenzen aus dieser neuen Sicht der Laienaktivität wurden dann vom Konzil selbst in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ gezogen, die ja in wichtigen Teilen eine wahre Charta des Laienkatholizismus ist.
Für Deutschland sind die beiden Beschlüsse des II. Vatikanischen Konzils umgesetzt worden durch die Gemeinsame Synode der Bistümer der Bundesrepublik in Würzburg und durch die Pastoralsynode der Jurisdiktionsbezirke in der DDR in Dresden. Als jetzt in ganz Deutschland geltende Grundlage ist hier der Würzburger Beschluss „Verantwortung des ganzen Gottesvolkes für die Sendung der Kirche“ vom Mai 1975 zu nennen. Auch dieser Beschluss geht, wie das Konzil, von zwei Arten von Gremien aus, nämlich einerseits von einem Diözesanpastoralrat, der durch Beratung des Bischofs „an der Willensbildung und Entscheidungsfindung in den der gemeinsamen Verantwortung obliegenden Aufgaben der Diözese“ teilnimmt (III, 3,3) und andererseits von einem Katholikenrat der Diözese, der als Zusammenschluss von Vertretern des Laienapostolats definiert wird. Die Mitglieder dieses Gremiums erhalten ihr Mandat durch Wahl aus dem Kreis derer, die sie repräsentieren, oder durch Zuwahl in dieses Gremium. Ein solcher Rat fasst seine Beschlüsse unabhängig.
Mit anderen Worten: Die Würzburger Synode hat bei ihrer konkreten Umsetzung des Konzilsbeschlusses die in Deutschland geschichtlich gewachsene Laienaktivität weiter entwickelt und hat neben die Pastoralräte einen besonderen Typ von repräsentativen Laienräten gestellt. Bei ihrem Beschluss ist sie im Wesentlichen von den im Dekret über das Laienapostolat genannten eigenständigen und unabhängigen Laienvereinigungen ausgegangen. Die im Würzburger Synodenbeschluss genannten Katholikenräte sind also keine koordinierenden Gremien aus Priestern, Ordensleuten und Laien. Sie sind vielmehr, so der offizielle Terminus, Zusammenschlüsse von gewählten Vertretern des Laienapostolats aus den Räten der nächst unteren Ebene, aus den Laienorganisationen und aus hinzugewählten Persönlichkeiten aus Kirche und Gesellschaft. Zur Unterscheidung von den Diözesanpastoralräten hatte die Würzburger Synode für diese Zusammenschlüsse die Bezeichnung „Katholikenrat der Diözese“ eingeführt. Viele der dann nach der Würzburger Synode geschaffenen Gremien tragen andere Bezeichnungen wie Diözesanrat, Diözesanversammlung oder Diözesantag. An deren rechtlicher Natur ändert sich dadurch jedoch nichts. Auf der Grundlage des Würzburger Beschlusses sind dann in der Folgezeit die verschiedenen von den Bischöfen bestätigten oder erlassenen Satzungen der Diözesan- oder Katholikenräte sowie der Dekanats- und der Pfarrgemeinderäte in den Diözesen entstanden. Auf der gleichen Grundlage gibt es das von der Deutschen Bischofskonferenz bestätigte Statut des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, inzwischen in der von der Vollversammlung beschlossenen Fassung vom November 1995. Bekanntlich ist das ZdK auf gesamtdeutscher Ebene „der Zusammenschluss von Vertreterinnen und Vertretern der Diözesanräte und der katholischen Verbände sowie von Institutionen des Laienapostolats und von weiteren Persönlichkeiten aus Kirche und Gesellschaft“, dessen Statut in bezug auf seine Zusammensetzung, seine Aufgaben und seine Rechtsstellung ebenfalls dem von der Würzburger Synode entwickelten Modell entspricht.
In Bezug auf die Weltkirche handelt es sich beim Beschluss der Würzburger Synode und bei den Satzungen um partikulares Recht in Deutschland. Der Codex Juris Canonici von 1983 enthält zwar in seinem Canon 511 universalrechtliche Bestimmungen über die Pastoralräte, nicht aber über die im Konzilsdekret über das Laienapostolat genannten Gremien. Der CIC enthält allerdings zwei Bestimmungen, die in diesem Zusammenhang genannt werden sollten, nämlich das Recht der katholischen Laien zur Meinungsäußerung (CIC 212, §§ 2 und 3) und das Koalitionsrecht der katholischen Laien (CIC 215). Jedenfalls gibt es keinen Konflikt mit den auf der Grundlage des Würzburger Synodenbeschlusses entstandenen Räten in Deutschland und deren Rechtsstellung. Gleichwohl gab es nach 1983 in Deutschland eine Debatte über den rechtlichen Charakter der Pfarrgemeinderäte. Denn diese verbinden in der Tat Elemente der pastoralen Beratung und der eigenverantwortlichen Laienaktivität. Daran machte sich die Frage fest, wer einem Pfarrgemeinderat vorsitzen soll – der Pfarrer oder – wie es der gewachsenen deutschen Praxis entspricht – ein gewählter Laie. Mit dieser Frage hat sich eingehend die Gemeinsame Konferenz – das durch die Würzburger Synode geschaffene Beratungsgremium von gewählten Vertretern der Deutschen Bischofskonferenz und des ZdK - beschäftigt und seine Ergebnisse im vom Vorsitzenden der DBK und dem Präsidenten des ZdK unterschriebenen Protokoll vom 15. Oktober 1987 festgehalten. Dort heißt es:
„Zur Frage des Vorsitzes im Pfarrgemeinderat wird in der Konferenz festgestellt, dass in dieser Frage kein Handlungsbedarf bestehe, weil der Pfarrgemeinderat gegenüber dem im Codex aufgeführten Pfarrpastoralrat ... ein aliud, wenn auch kein totaliter aliud sei. ... Es bestehe Konsens darüber, dass es bei den bisherigen Regelungen bleiben soll.“
Mit anderen Worten: Auch in Zukunft ist nach Auffassung der Gemeinsamen Konferenz der Vorsitzende des Pfarrgemeinderats ein gewählter Laie – Mann oder Frau.
Ganz generell wird im Protokoll „im Blick auf die Räte des Laienapostolats gemeinsam festgehalten, dass sich hier zwei Bereiche berühren, das Vereinigungsrecht und das Verfassungsrecht. Dadurch, dass die Räte ihre Satzungen selbst beschlössen und der Bischof diese in Kraft setze, sei bei den Räten zuerst das Vereinigungsrecht angesprochen. Diese seien freie Initiativen, die sich unter Anerkennung des kirchlichen Amtes zusammenschlössen. Gleichzeitig seien diese Räte in die Diözesen ‚eingebaut’ und ein Organ für die Gesamtgestalt der Diözese. Sie seien von oben gesetzt und von unten gewachsen. Deswegen müsse festgestellt werden, dass das vereinigungsrechtliche Element überwiege.“
Wegen des primär vereinigungsrechtlichen Charakters der Räte war es denn auch für die Würzburger Synode selbstverständlich, dass sich die Mitgliedschaft in einem solchen Gremium allein aus der Wahl durch die von diesem Laien repräsentierten katholischen Christen ergibt. Diese Rechtsgrundlage ist für uns unverzichtbar, und wir werden sie mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln verteidigen. Darum weisen wir auch mit Entschiedenheit jeden Versuch zurück, wie er jüngst in einem Brief aus Rom unternommen wurde, in Bezug auf die Mitglieder von Donum Vitae Unvereinbarkeitsregeln einzuführen und auf diesem Wege einen wesentlichen Teil der aktiven katholischen Laienschaft aus dem kirchlichen Leben auszugrenzen. Ganz ausdrücklich möchte ich dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, dafür danken, dass er öffentlich dieses Schreiben in seiner Bedeutung tief gehängt hat. Wer es gut meint mit der Katholischen Kirche in Deutschland, möge mit dafür sorgen, dass es dort auch bleibt.
Freilich müssen wir stets bedenken, dass die Räte in Deutschland, unbeschadet ihrer wesentlichen Verankerung in den Beschlüssen des II. Vatikanums, in ihrer konkreten rechtlichen Ausgestaltung partikularrechtlichen Charakter haben. Daraus ergeben sich aus meiner Sicht zwei Konsequenzen: Einerseits sind Beschwerden in Rom in bezug auf Konflikte in und mit einem solchen Rat, wie sie unlängst ein gewählter Laienvertreter eingebracht hat, alles andere als klug und sinnvoll, andererseits kann die rechtliche Relevanz von Antworten auf solche Beschwerden nur höchst fragwürdig sein. Im konkreten Fall ist überdies die Zuständigkeit der Kleruskongregation, bei der diese Beschwerde schließlich landete, nicht erkennbar. Tatsächlich lassen denn auch die Zitate aus deren Antwort in einer Pressemeldung des Regensburger Ordinariats, diese römische Behörde habe die Entscheidung des Bischofs „bestätigt“, den Schluss zu, dass diese sich nur auf einen Pastoralrat und nicht auf einen Katholikenrat im Sinne des Würzburger Beschlusses beziehen kann.
Ich habe diese rechtliche Frage relativ ausführlich behandelt, damit wir uns in unserer Arbeit in den Räten auf unsere inhaltlichen Aufgaben konzentrieren können, weil über deren Stellung und deren Selbstverständnis keine Unklarheit besteht. Ganz ausdrücklich will ich betonen, dass es darüber, wie die beiden von mir genannten konkreten Fälle gezeigt haben, mit der überwiegenden Mehrheit der deutschen Bischöfe überhaupt keine Meinungsverschiedenheit gibt. Dafür bin ich sehr dankbar. Denn nicht zuletzt gehört ein konstruktives und vertrauensvolles Verhältnis zwischen dem kirchlichen Amt und den katholischen Räten zu den Grundvoraussetzungen einer erfolgreichen Arbeit unserer Räte.
Forschungsprojekt über die diözesanen synodalen Prozesse
In diesem Zusammenhang freue ich mich, mitteilen zu können, dass der Auftrag der Vollversammlung vom Herbst 2001, „für die baldige Sichtung und Systematisierung der Ergebnisse der verschiedenen diözesanen synodalen Prozesse Sorge zu tragen, die in den vergangenen etwa 10 Jahren in den meisten Diözesen stattgefunden haben oder gegenwärtig stattfinden“, auf gutem Wege ist. Unter Verantwortung von Prof. Dr. Hanspeter Heinz ist nach Beratungen im Präsidium und im Hauptausschuss ein Projekt erarbeitet worden, dessen Kosten in einem zweiten Anlauf zum größeren Teil von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert werden, während der Rest vom Verband der deutschen Diözesen und dem ZdK übernommen wird. Prof. Heinz hat zusammen mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiter und einer studentischen Hilfskraft die Arbeit am Projekt, das auf einen Zeitraum von ca. 16 Monaten angelegt ist, im August dieses Jahres aufgenommen, so dass wir hoffen können, die Ergebnisse der Vollversammlung im November 2004 oder im Mai 2005 vorzulegen.
Zum Kopftuchstreit
Ein Thema, das gleichermaßen kirchliche wie gesellschaftliche Bedeutung hat, ist der sogenannte Kopftuchstreit, die Frage also, ob einer verbeamteten oder staatlich angestellten Lehrerin in einer öffentlichen Schule oder anderen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, welche die staatliche Hoheit in besonderer Weise repräsentieren, untersagt werden soll, ein Kopftuch zu tragen. Was diese Frage bedeutungsvoll macht, ist die unbestreitbare Tatsache, dass es im Islam Kräfte gibt, für die das Kopftuch Zeichen der Unterordnung der Frau ist und die damit der Gleichstellung von Mann und Frau als einem Grundpfeiler unserer freiheitlichen Verfassungsordnung in elementarer Weise widersprechen. Für andere Muslime dagegen ist das Kopftuch lediglich Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses ohne diskriminierende Wirkung für die Frauen. Überdies gibt es Menschen und Länder, für die der Islam wichtig ist, das Kopftuch dagegen nicht. Wer sich als Christ der Tatsache erinnert, dass es auch in der Geschichte des Christentums kräftige Tendenzen gab, den Frauen die Gleichberechtigung aus religiösen Gründen zu versagen, wird in dieser uneinheitlichen Haltung von Muslimen einen Grund für Hoffnung sehen. Allerdings begründet zugleich das Tragen eines Kopftuches im öffentlichen Dienst auch die Sorge, dass damit der Gleichberechtigung von Mann und Frau widersprochen werden soll. Wer die Auseinandersetzungen innerhalb des Islam beobachtet, kann nicht übersehen, dass die Verschleierung, wenn nicht sogar die Verhüllung der Frau von Fundamentalisten zum Merkmal ihrer Richtung gemacht wird, das sie bereit sind, mit Gewalt durchzusetzen. Diese Gefahr dürfen wir nicht unterschätzen. Die Absicht des Gesetzentwurfs der baden-württembergischen Landesregierung ist es, bei Lehrerinnen in öffentlichen Schulen generell davon auszugehen, dass das Tragen des Kopftuches Zweifel an der Verfassungsloyalität begründet, und dies deshalb im Interesse des Schulfriedens zu untersagen. In diesem Falle wird also das Kopftuch nicht als religiöses Symbol, sondern als Zeichen für eine politische Haltung behandelt.
Es gibt allerdings noch eine zweite Möglichkeit, der Sorge um mangelnde Verfassungsloyalität zu begegnen, in dem man nämlich das Zeigen von religiösen Symbolen für Repräsentanten der öffentlichen Ordnung und vielleicht sogar für öffentliche Orte wie die Schule generell untersagt. Das allerdings bedeutete eine radikale Veränderung der deutschen Gesellschaft und die Aufgabe oder doch zumindest die erhebliche Schwächung des sie bis jetzt mitprägenden partnerschaftlichen Staat-Kirche-Verhältnisses. Es wäre naiv nicht zu sehen, dass unter jenen, die heute ein Kopftuchverbot fordern, auch solche sind, die schon längst auch in Deutschland eine laizistische Kultur durchsetzen wollen und für die Religion – allenfalls noch – eine Privatsache ist. Gewiss könnten Christen auch in einer solchen Gesellschaft ihren Glauben leben und bekennen. Dennoch sage ich mit aller Entschiedenheit: Eine solche Gesellschaft will ich nicht. Und das ist gewiss unsere gemeinsame Überzeugung.
Unser oberstes Ziel sollte es sein, in Deutschland an einer solchen freiheitlichen Ordnung festzuhalten, die sich ihres ethischen Angewiesenseins auf Wertehaltungen aus religiösen und nichtreligiösen Überzeugungen bewusst ist und die daher mit den christlichen Kirchen als den immer noch wichtigsten Überzeugungsgemeinschaften eine respekt- und verständnisvolle Partnerschaft pflegt. In einer solchen Gesellschaft haben religiöse Symbole ihren Platz, aber keine politischen Zeichen, welche die Grundlagen unserer Verfassungsordnung in Frage stellen.
Dabei sind wir uns dessen bewusst, dass die christlichen Kirchen nicht mehr die einzigen wichtigen religiösen Gemeinschaften in Europa sind. Es ist die Folge von europäischer und in unserem Falle von bundesdeutscher Politik, dass es hier größere muslimische Gemeinschaften gibt. Diese Gemeinschaften werden nicht wieder verschwinden. Also muss diese Politik auch dazu beitragen, dass die muslimische Minderheit zu einem integrierten Bestandteil unserer Gesellschaft wird. Nach meiner Überzeugung ist dies letztlich nur möglich durch die Entwicklung eines europäischen Islams, ohne dass ich mir über das Tempo und die Schwierigkeiten einer solchen Entwicklung irgendwelche Illusionen mache. Denn das bedeutet nach meiner Überzeugung für die Muslime in Europa nicht nur die äußere Akzeptanz, sondern die innere Bejahung erstens der Gewissensfreiheit, zweitens der Trennung von religiöser Gemeinde und politischer Gemeinde und drittens der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Wer weiß, wie lang und schwierig der Weg der Christen und speziell der Katholiken war, bis sie diese drei Grundsätze für Selbstverständlichkeiten hielten, kann nicht ernsthaft behaupten, dass meine Erwartung an die Muslime in Europa völlig unrealistisch ist. Aber wir brauchen Geduld, Nüchternheit und nicht zuletzt die Stärke unserer eigenen Überzeugung.
Diesen allgemeinen Erwägungen möchte ich noch zwei Bemerkungen hinzufügen. Die erste Bemerkung betrifft die Türkei. Hier ist es mir zunächst ein Bedürfnis, meine Abscheu vor den verbrecherischen Attentaten zum Ausdruck zu bringen, die dieses Land jetzt in kurzer Abfolge heimgesucht haben, und die Menschen in der Türkei unserer Sympathie zu versichern. Für das Problem, das ich in meinem Bericht behandele, glaube ich gleichwohl nicht, dass eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union die Entwicklung eines europäischen Islams befördern würde. Denn die – jedenfalls bisher - in der Türkei praktizierte Mischung von repressivem Laizismus und staatskirchlicher Bevorzugung einer bestimmten islamischen Richtung, gepaart mit der jahrzehntelangen massiven Diskriminierung der Christen darf für die Muslime in Europa kein Vorbild sein. Auch im Kopftuchverbot der Türkei sehe ich keine Gemeinsamkeit mit uns. Zweitens ist es meine Überzeugung, dass für den künftigen Einfluss des Christentums in Europa wie für den künftigen Charakter des Islam in Europa der öffentliche und mitmenschliche Dialog und die geistige und gesellschaftliche Auseinandersetzung wichtiger und vor allem nachhaltiger sind als Rechtstitel und Gerichtsurteile. Noch weniger als durch Mehrheitsentscheidungen werden die großen Fragen der Zeit durch Gerichtsurteile entschieden. Früher oder später wird jedes Verfassungsgericht zur Institutionalisierung des Zeitgeistes. Was haben wir bei der geistigen Situation unserer Gesellschaft da zu erwarten? Letztlich ist für alle diese Kämpfe und Entwicklungen nur eine Frage entscheidend: Wie lebendig ist und bleibt das Christentum?
Lebensschutz
Die Thematik Lebensschutz steht aus guten Gründen ganz oben auf der Agenda der gesellschaftspolitischen Arbeit des ZdK. Derzeit gibt es in verschiedenen Bereichen der Thematik Entwicklungen und Diskussionen, die unsere ganze Aufmerksamkeit und unsere öffentliche Stellungnahme verlangen. Zunächst möchte ich dabei auf die Grundsatzrede von Frau Bundesministerin Zypries vom 29. Oktober dieses Jahres in Berlin eingehen, in der sie verfassungsrechtliche und rechtspolitische Fragen der Bioethik behandelt hat. Die Lektüre dieses Textes ist aufschlussreich, denn – geschickt verpackt und ebenso geschickt medial inszeniert – handelt es sich um nichts anderes als um den Versuch eines prominenten Mitglieds der Bundesregierung, eine biopolitische Wende in Deutschland herbeizuführen.
Mindestens zwei zentrale Aussagen von Frau Ministerin Zypries verdienen unseren ausdrücklichen Widerspruch. Erstens: Zwar leugnet Frau Zypries nicht die biologische Tatsache, dass mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle zur befruchteten Eizelle mit doppeltem Chromosomensatz auch in vitro menschliches Leben beginnt. Sie kommt jedoch zu der Schlussfolgerung, dass sie dem Embryo in vitro keine Menschenwürde zuschreibt. Frau Zypries vertritt die Auffassung, dass die Perspektive des Embryos, sich als Mensch zu entwickeln, nicht ausreicht, ihm die Menschenwürde zuzuerkennen. Als entscheidenden Grund nennt sie die fehlenden Umgebungsbedingungen des Embryos in vitro, im Unterschied zum Embryo in vivo, d.h. in der austragenden Mutter.
Diese Auffassung halten wir für falsch, da die Entwicklung in der Gebärmutter dem Embryo kein neues Potential verschafft. Die Umweltbedingungen sind zwar notwendig für die Entwicklung, aber nicht hinreichend für das Selbstsein des Embryos. Nach fast einhelliger naturwissenschaftlicher Meinung liegen mit der Potentialität des Embryos alle Voraussetzungen für einen selbst gesteuerten Lebensprozess vor. Wer für die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens eine andere Grenze zieht als die des Beginns des menschlichen Lebens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, zieht eine willkürliche und damit ungerechte Grenze. Ich bin sehr dankbar dafür, dass das geltende Embryonenschutzgesetz in dieser Frage eindeutig und unmissverständlich ist ebenso wie einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Wir werden uns als ZdK bei der möglichen Erarbeitung eines umfassenden Fortpflanzungsmedizingesetzes, welches den neuen biomedizinischen Entwicklungen Rechnung trägt, dafür einsetzen, dass dieses Schutzniveau des geltenden Embryonenschutzgesetzes erhalten bleibt und somit Forschung an Embryonen und andere Verwendungen, die nicht dem Wohl des Embryos selbst dienen, ausgeschlossen bleiben.
Damit komme ich zu der zweiten zentralen Aussage in der Rede von Frau Zypries, die unseren deutlichen Widerspruch erfordert: Aus der Tatsache, dass das Leben ein Höchstwert ist, aber kein absolut geschützter Wert – ein absolut geschützter Wert ist nur die Menschenwürde – folgert sie einen abgestuften Lebensschutz, der von der fortschreitenden Entwicklung des Embryos abhängig ist. Auch dieser Aussage muss widersprochen werden, da sie eine aus meiner Sicht unzulässige Abstufung vornimmt. Ausnahmen darf es eben nur in bestimmten Fällen geben, wie Selbstverteidigung oder Landesverteidigung, in Fällen also wo Leben gegen Leben steht.
Neben diesen zentralen Aussagen, die unseren Widerspruch verlangen, finden sich im Vortrag Formulierungen, die eine deutliche Akzentverschiebung und damit eine biopolitische Wende andeuten. So spricht Frau Zypries in ihrer Argumentation gegen die Präimplantationsdiagnostik von einer schrankenlosen Zulassung und lässt damit die Tür offen, eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland zu ermöglichen. Mit Blick auf die Forschung an embryonalen Stammzellen lässt sie durch die Art der Fragestellung anklingen, dass sie hier ggfls. Handlungsbedarf sieht, die im Deutschen Bundestag vereinbarte Stichtagsregelung aufzuweichen.
Ich wiederhole deshalb hier nochmals meine Kritik an dem Vorgehen von Frau Ministerin Zypries, die ich bereits am 29. Oktober 2003 öffentlich gemacht habe: „Ohne Not hat sie das in der Bundesrepublik gewachsene Verständnis des Schutzes des menschlichen Lebens in den frühesten Phasen seiner Entwicklung und die Beschlüsse des Deutschen Bundestages vom Januar 2002 zur Biopolitik in Frage gestellt.“ Dagegen werden wir uns auch in Zukunft wehren.
UN-Verhandlungen zu einem umfassenden und weltweiten Klonverbot
Ich schließe mich der bereits von vielen Seiten öffentlich geäußerten Kritik an der Verhandlungsführung der Bundesregierung im Rahmen der Vereinten Nationen mit Blick auf ein weltweites Klonverbot ausdrücklich an. Nach allem was wir erkennen können, hat sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen der UN entgegen dem Votum des Bundestages nicht für ein umfassendes Klonverbot eingesetzt. Dass nun faktisch durch die Stimme der Bundesrepublik Deutschland die Entscheidung über ein weltweites und umfassendes Klonverbot im Rahmen der Vereinten Nationen für zwei Jahre zurückgestellt worden ist, halte ich für unverantwortlich.
Keine deutschen Steuergelder für Embryonenforschung
Trotz des großen Einsatzes unseres Mitglieds Dr. Peter Liese als zuständiger Berichterstatter im Europäischen Parlament konnte nicht verhindert werden, dass dies am 19. November d. J. für die Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen aus Haushaltsmitteln der Europäischen Union votiert hat. Deshalb fordern wir die Bundesregierung dazu auf, beim bevorstehenden EU-Ministerrat zusammen mit anderen Ländern zu verhindern, dass aus EU-Mitteln solche Forschung gefördert wird, bei der Embryonen zu Forschungszwecken getötet werden. Es wäre geradezu absurd, wenn mit deutschen Steuermitteln auf europäischer Ebene Forschungsprojekte gefördert würden, die in Deutschland aus guten Gründen verboten sind.
Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe
Erneut müssen wir uns mit der Euthanasiethematik beschäftigen.
In dem 400 v. Ch. von dem griechischen Arzt Hippokrates formulierten Eid heißt es: „Nie werde ich, auch nicht auf eine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur einen Rat dazu erteilen.“ Dieses Zitat aus dem Hippokratischen Eid steht im Kontext der beiden Grundsätze, die das Ethos der Heilberufe leiten müssen: Das Wohlergehen des Patienten steht an erster Stelle des ärztlichen Handelns und – so lautet der zweite Grundsatz – der Arzt darf einem Patienten auf keinem Fall Schaden zufügen. Diese Grundsätze haben die gesamte Rechtstradition Europas geprägt. Sie bringen das Tötungsverbot zur Geltung und zwar auch dann, wenn ein Todkranker ausdrücklich darum bittet. Die vorliegenden Erfahrungen mit der eingeführten Straffreiheit für aktive Sterbehilfe in den Niederlanden, Belgien und in der Schweiz lassen inzwischen Verheerendes zu Tage treten. Erste Analysen lassen erkennen, dass eine Straffreiheit für die aktive Sterbehilfe nicht zur Eindämmung, sondern zu einer deutlichen Ausweitung der Euthanasie-Praxis führt. Das verändert eben entscheidend die Rolle des Arztes. Denn mit solchen Gesetzen wird die Tötung von Menschen zu einer ärztlichen Tätigkeit erhoben. Zugleich drohen Gesetze zur Straffreiheit für die aktive Sterbehilfe auch die Gesellschaft zu verändern. Wenn nämlich einerseits über das Lebensrecht von Kranken, insbesondere von psychisch Kranken, von Behinderten oder alten Menschen offen gesprochen wird, und andererseits über Nutzen und Kosten, weil die Sozialsysteme in finanziellen Schwierigkeiten stehen, dann bleibt das nicht ohne Wirkung auf das gesellschaftliche Klima. Mit einer Legalisierung der aktiven Sterbehilfe - der staatlichen Erlaubnis für den Arzt zu töten - entsteht ein neues Klima. Nicht die Sorge um den Sterbenden und die Begleitung des Sterbenden drohen dann das Handeln zu bestimmen, sondern das Entsorgen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich auf einen Vorgang auf europäischer Ebene eingehen, auf den uns das Internationale Kolpingwerk aufmerksam gemacht hatte. Auf Initiative des Schweizer Abgeordneten Dick Marty und mit der Unterstützung von belgischen und holländischen Abgeordneten haben Euthanasiebefürworter durch eine geschickte Verhandlungsführung im Sozial-Komitee des Europarates für eine Neuaufnahme der Euthanasie-Diskussion im Rahmen des Europarates plädiert. Mit 14 zu 12 Stimmen konnte sich dieser sogenannte Marty-Antrag durchsetzen und erreichen, dass das Thema Euthanasie mit der Forderung, Straffreiheit für aktive Sterbehilfe in den einzelnen Mitgliedsländern des Europarates herbeizuführen, zunächst auf die Tagesordnung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg für Ende September/Anfang Oktober gesetzt wurde. Mit großem taktischen Geschick gelang es den Antragstellern, die geltende Empfehlung 1418 des Europarates aus dem Jahre 1999, die einen eindeutigen Schutz der Menschenrechte und der Würde Todkranker und sterbender Menschen beinhaltet, umzuinterpretieren und die Wiederaufnahme der Thematik zu erreichen. Der Rechtsausschuss des Europarates widersprach der Empfehlung des Sozial-Komitees und so wurde in der Plenarversammlung Ende September/Anfang Oktober der Punkt zunächst von der Tagesordnung gesetzt. Dazu haben sicherlich auch die verschiedenen Initiativen aus dem Bereich des Katholizismus beigetragen. Inzwischen ist der Tagesordnungspunkt jedoch wieder für die nächste Sitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates im Januar 2004 vorgesehen.
Es ist also weiterhin äußerste Wachsamkeit erforderlich, damit diesem und anderen Vorstößen Einhalt geboten wird. Es kommt dabei vor allem darauf an, die Unterschiede zwischen einer menschenwürdigen Sterbebegleitung und einer aktiven, gegen die Menschenwürde verstoßenen Euthanasie bewusst zu machen und die notwendige Öffentlichkeit herzustellen.
Die staatliche Verantwortung für den Schutz des ungeborenen Lebens
Es bleibt ein Skandal, dass in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche bei zu erwartender Krankheit oder bei Behinderung des Kindes bis unmittelbar vor dem Zeitpunkt der Geburt erfolgen können. Wir begleiten deshalb entsprechende parlamentarische Initiativen zur Vermeidung sogenannter Spätabtreibungen und fordern die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf, die vorliegenden Anträge zu unterstützen. Dabei geht es insbesondere um eine verbesserte Beratung mit dem Ziel des Lebensschutzes vor pränataler Diagnostik sowie nach Diagnose einer nicht behebbaren Krankheit oder Entwicklungsstörung des nicht geborenen Kindes. Ferner erscheint uns eine rechtliche Klärung des Anwendungsbereiches der medizinischen Indikation (§ 218a, Absatz 2 StGB) dringend geboten. Denn es darf nicht erlaubt sein, einen Schwangerschaftsabbruch bei zu erwartender Krankheit oder Behinderung des Kindes stillschweigend unter die medizinische Indikation zu subsumieren und damit zu legalisieren. Erforderlich ist zudem eine Ausgestaltung des Arzthaftungsrechtes, damit Ärztinnen und Ärzte nicht davon abgehalten werden, Eltern zu ermutigen, sich auch in Zweifelsfällen für ein möglicherweise behindertes Kind zu entscheiden.
Zur Finanzierung der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen möchte ich in diesem Zusammenhang nochmals an das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 3. Juli 2003 erinnern. Das Urteil legt fest, dass die Bundesländer mindestens 80 % der notwendigen Personal- und Sachkosten für anerkannte Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen zur Verfügung stellen müssen. Dieses Urteil wird der Tatsache gerecht, dass der Staat für die Durchführung des Beratungskonzeptes nach § 218 und § 219 StGB angemessen in die Pflicht genommen ist. Das entspricht dem verfassungsgemäß gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens. Das Urteil löst damit eine wesentliche Forderung des einschlägigen Urteils des Bundesverfassungsgerichtes von 1993 ein, die den Staat dazu verpflichtet, das Beratungsangebot qualitativ und quantitativ so auszugestalten, dass dem Schutz des ungeborenen Lebens und der Hilfe für Frauen in Konfliktsituationen bestmöglich gedient wird. In meiner unmittelbaren Pressereaktion auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes habe ich beklagt, dass etliche Bundesländer nicht im erforderlichen Maß der durch das Urteil vorgegebenen Finanzierung entsprechen. Angesichts der jetzt anstehenden Sparrunden für die Haushalte 2004 droht überdies die Realisierung des Urteils in dem einen oder anderen Bundesland zu kurz zu kommen. Wir fordern deshalb die betreffenden Bundesländer auf, dass Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes unverzüglich und uneingeschränkt umzusetzen.
Antisemitismus und nationale Verantwortung
Ich hielt es für notwendig, die Ausführungen eines katholischen Bundestagsabgeordneten zur Rolle von Deutschen und Juden in der Geschichte und zur Definition eines Tätervolkes von Gottlosen als den eigentlich geschichtlich Schuldigen mit Entschiedenheit zurückzuweisen. Und ich danke Kardinal Lehmann für seine klaren Worte in dieser Sache. Der Versuch, die Umbrüche und Erschütterungen des 20. Jahrhunderts als maßgeblich jüdischen Sozialismus oder Bolschewismus zu charakterisieren oder darauf als Erstursache zurückzuführen, ist nicht nur geschichtlich unhaltbar, sondern erinnert überdies an die antisemitische Propaganda, die den Verbrechen am jüdischen Volk voranging und diese zu rechtfertigen suchte. Der Versuch, die Gottlosen als jene darzustellen, die für das Böse in der Geschichte verantwortlich sind, leugnet die christliche Einsicht und Erfahrung, dass alle Menschen, auch jene, die sich auf Christus berufen, in der Versuchung zum Bösen stehen und darum stets der Gnade Gottes bedürfen. Außerdem widerspricht eine solche These den bewegenden Schuldbekenntnissen des Heiligen Vaters und unserer Bischöfe für kirchliches Versagen und christliche Schuld in unserer Haltung zu den Juden. Ich bin dem jüdischen Repräsentanten in unserem Gesprächskreis Juden und Christen, Herrn Prof. Dr. Ernst Ludwig Ehrlich, sehr dankbar, dass er gerade in diesem Zusammenhang von dem in Jahrzehnten gewachsenen guten jüdisch-christlichen Verhältnis gesprochen hat, das durch diese Rede nicht beschädigt worden sei.
Nun stand diese Rede unter dem Thema „Gerechtigkeit für Deutschland“. Eine der negativen Folgen der dazu vorgebrachten abwegigen Argumentation scheint mir darin zu bestehen, dass das notwendige Nachdenken der Deutschen über ihr Verhältnis zur Nation und zur nationalen Geschichte dadurch einen Rückschlag erlitten hat. Denn jetzt melden sich auch jene wieder lauter zu Wort, die in jedem Erinnern an deutsches Leid eine Relativierung von Unrecht sehen und die den Deutschen jeden Stolz auf ihre Geschichte absprechen wollen. Das heutige Deutschland gründet in einer langen deutschen Tradition von Freiheit und Humanität. Darum konnte ja auch die Gründung der Bundesrepublik eine erfolgreiche Antwort auf die Feinde der Demokratie in der deutschen Geschichte werden. Und die Deutschen sind kein Tätervolk, weder die von 1945, noch die von 2003. Schuld haben immer nur Menschen und nicht Völker. Es ist wahr, dass unter den Deutschen von 1945, den Tätern wie den Opfern, viele persönlich Schuldige waren. Unter den Deutschen von 2003 können nur noch ganz wenige sein, die persönlich für die Verbrechen von 1933 bis 1945 und für das, was diese möglich gemacht hat, Schuld tragen. Was wir, die Deutschen von 2003 mit den Deutschen von 1945 gemeinsam haben, ist die geschichtliche Verantwortung für den Weg unseres Volkes. Diese Verantwortung können jedoch nur jene wirklich praktizieren, die sich zur deutschen Nation und ihrer Geschichte bekennen. Ohne diesen Bezug dient Reden über Geschichte nur individuellen Zwecken.
Zur Reform des Sozialstaates
Deutschland steht mitten in einem überfälligen und darum um so dringenderen Erneuerungsprozess. Das ZdK und die in ihm vertretenen Verbände haben seit langem auf wichtige Aspekte dieser unabweisbaren Erneuerung hingewiesen. Das gilt insbesondere für die Familie, ihren gesellschaftlichen Wert, ihr rechtliches Bedingungsgefüge und ihre finanzielle Ausstattung. Erst unlängst hat sich das ZdK in seinem Beschluss zur Gerechtigkeit auf den internationalen Finanzmärkten mit einer wesentlichen Dimension der Globalisierung auseinandergesetzt. Von großer Bedeutung scheint mir die Umwandlung der KAB in einen einheitlichen bundesweiten Verband, um die Stimme des sozialen Katholizismus zu stärken. Erwähnt sei auch die Gemeinsame Initiative von Bischofskonferenz, ZdK und zahlreicher katholischer Verbände in Fortführung der großen öffentlichen Debatte über die Zukunft unseres Sozialstaates im Anschluss an das gemeinsame Wirtschafts- und Sozialwort der beiden christlichen Kirchen. Damit nenne ich nur die wichtigsten Initiativen und Aktionen, mit denen wir zur sich immer mehr verstärkenden Bereitschaft zur Erneuerung der deutschen Gesellschaft beigetragen haben. Heute werden wir unter dem zweiten Tagesordnungspunkt zu Aspekten eines der wichtigsten Bereiche des Sozialstaates, dem Gesundheitswesen und der Pflege, Stellung nehmen.
Die Frage, die hinter all diesen Bemühungen steht, lautet: Welche Kräfte bestimmen diese Entwicklung und was sind die Schwerpunkte und Inhalte der notwendigen Reformen? Geht es um eine Vitalisierung und Flexibilisierung einer zu stark verrechtlichten und strukturell verkrusteten Ordnung, die aber auch weiterhin dem Leitbild des im Grundgesetz verankerten Sozialstaates verpflichtet bleibt oder geht es um den Rückzug des Staates auf wenige hoheitliche Funktionen und die Freigabe eines möglichst ungehemmten Wettbewerbs als Regulator menschlichen Erfolgs und menschlicher Beziehungen? Das ZdK als Repräsentation und dialogisches Forum des deutschen Laienkatholizismus muss sich in den Auseinandersetzungen um diese Fragen engagieren. Als eine Form unseres Engagements haben wir uns dazu entschlossen, bei der heutigen Vollversammlung dazu eine Debatte durchzuführen, die von zwei Mitgliedern des ZdK eingeleitet wird, die maßgebliche politische Verantwortung tragen.
Ich will dieser Debatte nicht vorgreifen, aber doch eine Hoffnung äußern. In den letzten Tagen habe ich verstärkt den Vorwurf gehört, es ginge um die Bestrafung von Kinderlosen. Bisher kannte ich diese Behauptung nur als Abwehr von Forderungen zur Verbesserung der Lage von Familien. Dass Menschen, die sich im Ziel einer besseren Förderung von Familien einig sind, sich diesen Vorwurf um die Ohren hauen, ist mir neu. Und es ist mir zutiefst unverständlich. Denn dass eine bessere Förderung der Familien nur möglich ist, wenn diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – keine Kinder haben, jene mehr unterstützen als bisher, die Kinder haben, ist doch wohl eine Sache der schlichten Logik. Lassen Sie uns also bitte eine Sachdebatte, wie man das am zweckmäßigsten tun kann, nicht in einer Weise führen, die den wachsenden gesellschaftlichen Konsens für die Familien gefährdet. Ich hoffe also auf eine konstruktive Debatte.
Das Präsidium, der Hauptausschuss und unsere Sprecherinnen und Sprecher und unsere Ständigen Arbeitskreise werden diese Debatte fortführen und im Austausch mit Ihnen, nicht zuletzt auf dieser Vollversammlung, zu Positionsbestimmungen kommen und weitere gesellschafts- und familienpolitische Vorschläge erarbeiten. Damit stehen wir in der Tradition des deutschen Katholizismus, der sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder seiner sozialen und politischen Verantwortung gestellt hat. Zugleich erweist sich damit die lebendige Gestaltungskraft, die vom Christentum in die Gesellschaft ausstrahlt und die sich beim kommenden Katholikentag 2004 in Ulm erneut erweisen wird.
Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken