Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 04/2005

Rede von Prof. Dr. Hans Joachim Meyer im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

UNKORRIGIERTES
REDEMANUSKRIPT
Es gilt das gesprochene Wort.


Der Wechsel im Papstamt

Zu Beginn dieses Berichts gebührt das erste Wort dem verstorbenen Heiligen Vater.

Der Tod von Johannes Paul II. hat uns alle tief bewegt. Sein Pontifikat ist ein bedeutsames Kapitel in der langen Geschichte der Kirche. Kern seines Wirkens als Bischof und Papst war das Zeugnis seines Lebens für den christlichen Glauben. In seinen Predigten, Ansprachen und Enzykliken und durch sein zeichenhaftes Handeln wollte er die Wahrheiten des Glaubens verkünden und sich den Menschen zuwenden. Es war die Authentizität des Zeugnisses, das Menschen ergriff und begeisterte. Diese Zeit, die Grenzen auflöst und Bindungen scheut, war gleichwohl von diesem Papst beeindruckt, weil sie in Karol Wojtyla einen Menschen von großer Kraft und unverwechselbarer Eigenart erkannte – eine radikale Alternative zur Zeitströmung der Beliebigkeit, des Vergnügens und der Selbstverwirklichung. Der neuen Bedeutung von Religion gab Johannes Paul II. eine Gestalt und eine Stimme, die innerlich berührte und anzog. Da war ein Mensch, der unbeirrbar für das eintrat, von dem er überzeugt war – die Notwendigkeit des Friedens und die Unverfügbarkeit der Menschenwürde, die unbedingte Achtung des menschlichen Lebens und der Wert der Freiheit. Er hat die Kirche geprägt, und er hat die Welt verändert. Seine Ermutigung zur Freiheit war ein Impuls zur Wende in Europa, die den Deutschen den Weg zur Einheit öffnete. Freiheit war für ihn kein Raum des ungezügelten Wettbewerbs, sondern ein Auftrag zum Streben nach Gerechtigkeit. Sein großes Anliegen – die Stärkung des christlichen Lebens in Europa, das weithin das Evangelium neu kennen lernen und neu annehmen muss - bleibt sein Vermächtnis an uns.

Am 19. April wurde Joseph Ratzinger zum neuen Papst gewählt und nahm den Namen Benedikt an. Mit Joseph Ratzinger übernimmt einer der bedeutendsten Theologen der Gegenwart und ein weltweit geachteter Intellektueller das höchste Amt der Kirche. Es ist das Petrusamt der Einheit und des Brückenbaus, in das er nun seine in vielen Jahrzehnten erwiesene geistige Kompetenz und seine umfangreichen Erfahrungen im Dienst an der Weltkirche einbringen wird. Wir wünschen ihm dafür Gottes Segen und eine gute Hand. Die Verbundenheit mit dem Nachfolger Petri ist für uns wie für alle Katholiken konstitutiv. Mit großer Zustimmung haben wir sein Bekenntnis zum großen Werk des II. Vatikanischen Konzils in seiner ersten Predigt als Papst gehört. Innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche wurden seine Worte über die große Bedeutung der Einheit der Christen als Ermutigung und Bestärkung in der ökumenischen Arbeit aufgenommen. In einer Welt des Unfriedens und der kriegerischen Konflikte ist seine Bereitschaft zum Gespräch mit den anderen Religionen und mit allen Menschen, die auf der Suche nach der Wahrheit sind, ein Grund zur Hoffnung. Naturgemäß freuen sich die deutschen Katholiken, dass der neue Papst aus Deutschland kommt. Mit den Katholiken anderer Länder sehen sie darin einen Ausweis des universalen Charakters der Kirche. Dankbar sind wir für die guten Wünsche, die das ZdK zu dieser Papstwahl von seinen ausländischen Partnern erhielt. Der Gottesdienst auf dem Petersplatz zur Einführung des Papstes, an dem ich – zusammen mit Dr. Vesper und Dr. Stäps - teilnehmen konnte, zeigte erneut den weltweiten Respekt vor dem Papstamt und die großen Erwartungen, die viele in den neuen Papst setzen. Besonders freuen wir uns, dass Benedikt XVI. das Weltjugendtreffen in Köln besuchen wird. Wir heißen ihn in seinem Heimatland herzlich willkommen. Zu seiner Wahl habe ich dem Heiligen Vater folgendes Glückwunschtelegramm gesandt:

„Im Namen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken beglückwünsche ich Sie von Herzen zu Ihrer überraschend schnellen und einmütigen Wahl zum höchsten verantwortlichen Amt in der Kirche. Wir freuen uns, dass mit Ihnen ein ausgewiesener Theologe zum Nachfolger Petri gewählt wurde. Wir verbinden mit Ihrem Pontifikat die Hoffnung, dass die Kirche ihren Weg durch die Zeit im Geist des II. Vatikanischen Konzils geht, das sie als junger Theologe mitprägen durften. Sie dürfen auf das Gebet und die tatkräftige Unterstützung von uns deutschen Katholiken bauen.“

Der Wechsel im Pontifikat erinnert uns daran, dass die Kirche das Zeichen Gottes unter den Menschen ist und das Volk Gottes auf dem Weg durch die Geschichte. Jeder Schritt auf diesem Weg bedarf der Weiterführung, und jeder Schritt ist zugleich ein neuer Anfang. Die Impulse des II. Vatikanischen Konzils haben ihre geistige Kraft noch nicht verloren. Die Aufgaben, die das Konzil stellte, sind erst zum Teil erfüllt. Das Bild vom Volk Gottes, das zugleich biblisch ist und den Nerv der Zeit traf, muss weiterhin unsere Perspektive sein und erfahrbar immer stärker die Wirklichkeit des kirchlichen Lebens prägen. Vor jeder Unterscheidung in Bischöfe, Priester und Laien setzte das Konzil in Lumen Gentium die Gemeinsamkeit des Gottesvolkes und die gleiche Würde aller Getauften. Daraus folgt das geschwisterliche Miteinander aller Christgläubigen und aller Dienstämter in der Kirche. Petrusamt und Bischofskollegium gehören notwendig zusammen, und die universale Kirche lebt in der Communio der Ortskirchen so wie die Ortskirche aus der Communio von Bischof, Priestern und Laien lebt. Dem entspricht die synodale Dimension, deren neue Vitalität wir insbesondere im ersten Jahrzehnt nach dem II. Vatikanum erleben konnten. Sie ist ein Beweis der Lebenskraft der Kirche und ein zeitgemäßer Ausdruck des Zusammenwirkens von geistlichem Amt und Laien, wie dies die beiden deutschen Synoden – die Gemeinsame Synode in Würzburg und die Pastoralsynode in Dresden – eindrucksvoll gezeigt haben. Bei den Anregungen und Vorschlägen der Würzburger Synode denke ich vor allem an die Beteiligung der Laien an der Verkündigung, an ihre Mitwirkung an kirchlichen Entscheidungen, an den Rang der eigenen Gewissensentscheidung im gemeinsamen Leben christlicher Eheleute, an die Not der wiederverheirateten Geschiedenen, an die pastoralen Dienste in der Gemeinde und deren geschichtlich angemessene Weiterentwicklung und insbesondere an die Rolle der Frauen im kirchlichen Leben. Nichts davon hat inzwischen an Aktualität und Dringlichkeit nachgelassen, im Gegenteil. Im Spannungsfeld vom Glauben und Geschichte stellen sich Fragen, die nicht von Personen und ihren Entscheidungen abhängig sind. Es ist die sich wandelnde Wirklichkeit, die sie aufwirft. Je eher solche Fragen eine Antwort finden, die nicht einfach Zeitbedingtes der Vergangenheit bewahrt, sondern die Kirche – im Sinne Johannes XXIII. - gegenwärtig macht, um so besser ist es für die Geschichtsmächtigkeit des Christentums in unserer Zeit.

60 Jahre nach Kriegsende

In diesen Tagen ist es 60 Jahre her, dass einer der schlimmsten Kriege in der Geschichte der Menschheit sein Ende fand. Dieser Krieg war von Deutschland ausgegangen, er hatte Leid über fast ganz Europa und weit darüber hinaus gebracht. Mit all seinem Leid und all seinem Schrecken kehrte er nach Deutschland zurück. Der Weg zum Krieg hatte begonnen, als es den Feinden der Demokratie im Jahre 1933 gelang, in Deutschland eine freiheitsfeindliche, nationalistische und rassistische Diktatur mit totalitärem Herrschaftsanspruch zu errichten. Der Sieg über diese verbrecherische Diktatur bedeutete zugleich die Befreiung Europas, obwohl bald danach im östlichen Teil Europas neue Diktaturen entstanden. Auch Deutschland war befreit, obwohl diese Zeit vielen Leid und Demütigung brachte, viele Deutsche ihre Heimat verloren und das Land bald für vier Jahrzehnte gespalten und zum Brennpunkt des Kalten Krieges werden sollte. Heute ist Deutschland wieder geeint und eine erfolgreiche Demokratie, die mit allen europäischen Nachbarn im Frieden lebt und teil hat am europäischen Zusammenschluss. Ohne die Zerschlagung des nationalsozialistischen Regimes, das die Deutschen selbst nicht zu stürzen vermochten, wäre Deutschland heute kein Land des Friedens und der Freiheit.

Umso entschiedener müssen wir deshalb allen jenen entgegentreten, welche die freiheitliche Demokratie in Deutschland gefährden. Das gilt heute insbesondere für die Rechtsextremisten und ihre Versuche, durch Demagogie und Terror Einfluss auf das öffentliche Leben zu gewinnen. Es gilt auch für die Linksextremisten und ihre Feindschaft gegenüber der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Ob jemand die ausländerfeindliche Parole brüllt „Deutschland den Deutschen“ oder ob jemand auf Wände schmiert „Deutschland muss sterben“, kann für Demokraten keinen Unterschied machen. Demokraten dürfen sich weder mit Rechts- noch mit Linksextremisten verbünden.

Die Grundlage der Demokratie ist die Achtung vor der Würde jedes Menschen. Daher dürfen wir es nicht dulden, wenn es trotz der furchtbaren Erfahrung des millionenfachen Mordes an jüdischen Menschen immer noch und schon wieder neu Erscheinungen von Antisemitismus gibt. Hier haben wir eine besondere Verantwortung. Ich rufe alle katholischen Organisationen und Gemeinden auf, wachsam zu sein und jede Form von Antisemitismus zurückzuweisen. Unsere jüdischen Mitbürger haben Anspruch auf unsere Solidarität.

Mit Recht wird die Frage gestellt, wie wir erreichen können, dass sich auch die nachwachsenden Generationen der geschichtlichen Verantwortung der Deutschen bewusst bleiben. Manche meinen, die heutige deutsche Demokratie allein auf die Erinnerung an die Schande von Auschwitz gründen zu müssen und ganz generell zur deutschen Geschichte auf kritische Distanz gehen zu sollen. Für die deutsche Schulddebatte bilden jedoch die generelle Absage an die deutsche Geschichte, der Bruch mit unseren kulturellen Traditionen und der Abschied von der deutschen Sprache einen durchaus nicht ungefährlichen Kontext. Zweifellos gehört die Erinnerung an deutsche Schuld und deutsches Versagen zur geschichtlichen Erinnerung der Deutschen notwendig hinzu. Deren mahnende Wirkung wird aber nur dann zu einer gesellschaftlich produktiven Kraft, wenn sie verbunden ist mit dem Bekenntnis zur Freiheits- und Humanitätstradition der deutschen Geschichte. Denn diese ist ein wesentlicher Teil der europäischen Freiheits- und Humanitätsgeschichte. Dieses Bekenntnis muss die deutschen Demokraten einen und sie gemeinsam von den Feinden der Demokratie unterscheiden. Eine solche, der Freiheit und der Menschlichkeit verpflichtete Sicht der deutschen Geschichte muss ihre Entschlossenheit stärken, nie wieder ein Scheitern der Demokratie in Deutschland zuzulassen. In einem solchen Zusammenhang und in einer solchen Perspektive erhält die Erinnerung an die deutsche Schuld auch für die Nachgeborenen und für die Dazukommenden einen zukunftsweisenden Sinn.

Der Konflikt um die Werteerziehung

Welche aktuelle Bedeutung der Debatte über die Wertegrundlagen der freiheitlichen Gesellschaft in Deutschland zukommt, das zeigt uns in aller Schärfe der Plan der Berliner Senatskoalition, staatlichen Werteunterricht als obligatorisches Pflichtfach einzuführen. Das ist die Alternative zu der von den christlichen Kirchen und von der Jüdischen Gemeinde in Berlin schon lange geforderten Einführung einer Fächergruppe Ethik/Philosophie und Religionsunterricht, welche die von der Verfassung garantierte Bekenntnis- und Überzeugungsfreiheit respektieren würde. Es ist also nicht so, dass die Kirchen, wie der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit in einem Interview mit dem Tagesspiegel vom 16. April behauptet hat, ein Monopol für sich fordern, sondern es sind die Berliner Senatsparteien, die in der Werteerziehung ein solches Monopol in der Schule für den Staat beanspruchen. Ja, mehr noch: Wie aus Äußerungen führender Repräsentanten der Berliner Senatsparteien deutlich wurde, erhofft man sich dadurch eine Relativierung des religiösen Hintergrundes der Schülerinnen und Schüler. Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hat in der gleichen Zeitung der frühere Staatsminister für Kultur der Bundesregierung, Prof. Julian Nida-Rümelin, einen solchen staatlichen Ethikunterricht als Kern der Demokratie im multikulturellen Deutschland bezeichnet. Damit kehrt er das bekannte Wort Ernst-Wolfgang Böckenfördes, dass der freiheitliche Staat auf Wertegrundlagen angewiesen ist, die er selbst nicht schaffen kann, in sein Gegenteil um und proklamiert als Ziel einen Staat mit einem von ihm selbst zu setzenden Werteverständnis jenseits aller Religionen. Wörtlich heißt es bei Nida-Rümelin:

„Es ist die Botschaft der europäischen Aufklärung, dass die normativen Fundamente des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht abhängig von konfessioneller Bindung sind, sondern diese transzendieren.“

Es kann dem Philosophieprofessor Nida-Rümelin nicht entgangen sein, das er hier den Begriff der Transzendenz umdeutet. Für ihn und seine Freunde wird Ethik offenbar allein von einer Aufklärung bestimmt, die meint, die Religion überwunden und hinter sich gelassen zu haben. Religion ist in einer solchen Sicht nur noch ein geschichtlicher Restbestand, der in der Öffentlichkeit nichts zu suchen hat. Genau das scheint auch der Kern der Berliner Senatspläne zu sein. Eine solche Absicht kann sich aber nun wirklich nicht mehr auf die sogenannte Bremer Klausel, d. h. auf die Freistellung von der Pflicht zum Religionsunterricht als öffentlichem Schulfach nach Grundgesetz, Art. 7. Absatz 3, Satz 1 berufen. Was diese Leute wollen, ist eine andere, ist eine laizistische Republik.

Dass dieser Konflikt ausgerechnet in Berlin in Konfrontation mit den Kirchen vom Zaun gebrochen wird, ist eine Belastung für das Verhältnis der Hauptstadt zum übrigen Deutschland. Denn natürlich werden Anhänger wie Gegner eines staatlichen Monopols auf Ethikunterricht im Sinne einer die Religionen „transzendierenden“ Aufklärung diese Pläne als ein Signal für ganz Deutschland betrachten. Die Stellung der deutschen Hauptstadt im Land ist bekanntlich alles andere als gut, was ich ausdrücklich bedaure. Daran hat die Berliner Senatskoalition in gravierendem Maße Mitschuld. Freilich muss man hinzuzufügen, dass dazu auch nicht wenige ringsum in Deutschland maßgeblich beigetragen haben. Hier denke ich an jene, deren ideologisch verquastes Verhältnis zur deutschen Nation oder deren Rheinbundmentalität sich nicht mit einer großen und attraktiven Hauptstadt verträgt. Und es gibt in den Ländern eine einflussreiche Tendenz zur Nichtachtung der Hauptstadt und ihrer großen kulturellen und wissenschaftlichen Werte. Nicht nur in Berlin findet man Provinz. Wer Bildung, Wissenschaft und Kultur nur partikular denken kann, behindert sich selbst in der Debatte über das geistige Leben der Nation. Denn unangeachtet jeder Art von rechtlicher Sortierung zwischen Bund und Ländern müssen Bildung, Wissenschaft und Kultur Themen der nationalen Agenda bleiben, wenn Deutschland eine Zukunft haben soll.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Konflikts um die Werteerziehung habe ich mich schon am 22. März in einem Brief an den Regierenden Bürgermeister von Berlin gewandt. Und ich habe zusammen mit einer Reihe von Persönlichkeiten aus Berlin und ganz Deutschland den gemeinsamen Aufruf der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, der Jüdischen Gemeinde von Berlin und des Erzbistums Berlin unterzeichnet. Es ist mir in diesem Zusammenhang ein Bedürfnis, Johannes Rau, Wolfgang Thierse und Richard Schröder für ihre klaren Worte gegen die Berliner Senatspläne zu danken. Wir bedauern, dass eine Mehrheit der Berliner Sozialdemokraten gegen den Rat des von ihrer Partei gestellten Bildungssenators Böger solche Absichten verfolgt. Aber wir wissen, dass dies nicht die Position der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist. Wir freuen uns, dass auch die FDP solche Pläne ablehnt. Die CDU ist im Bund und in Berlin eine zuverlässige Befürworterin des Religionsunterrichts. Die Berliner Pläne sind auch bei grünen Politikern auf Kritik gestoßen. Besonderen Dank möchte ich den beiden Mitgliedern des ZdK, dem CDU-Bundesabgeordneten Dr. Hermann Kues und der Bundesabgeordneten Christa Nickels von Bündnis 90 / die Grünen, sagen, die im Bundestag den Wert des Religionsunterrichts eindrucksvoll verteidigt haben.

Trotz der vielfältigen öffentlichen Ablehnung der Berliner Pläne in der Politik und in den Medien dürfen wir uns über die Stellung des Religionsunterrichts in Deutschland keine Illusionen machen: 56 Prozent aller Deutschen befürwortet laut ZDF-Politbarometer die Einführung eines Pflichtfaches Werteunterricht anstelle des Religionsunterrichts. Diese erschreckende Zahl ist nur zum Teil durch die im Osten Deutschlands weitverbreitete Glaubenslosigkeit bedingt. Sie ist auch das Ergebnis der Selbstsäkularisierung der Christen in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik. Zum christlichen Glauben auf kritische Distanz zu gehen oder sich gar nicht erst als Christ zu bekennen, galt und gilt vielen als ein Gott wohlgefällig’ Werk. Mit Recht hat Joseph Ratzinger in seiner Predigt vor dem Konklave vor der Herrschaft des Relativismus gewarnt. Eine wahrhaft verhängnisvolle Rolle spielt die Umdeutung des Begriffs Toleranz. Toleranz heißt heute weithin nicht mehr Respekt vor der Überzeugung anderer, sondern konformistischer Verzicht auf eigene Überzeugungen und dafür die Akzeptanz eines Gebräus von Durchschnittsmeinungen, deren wesentliches Merkmal darin besteht, jede Art von Bindung und Tradition abzuwerten und die Frage nach der Wahrheit aggressiv zu leugnen. Das ist offenbar auch das inhaltliche Programm des in Berlin geplanten staatlichen Werteunterrichts. Was dabei herauskommen wird, kann man bei den leider massenhaften und ethisch substanzlosen Jugendweihefeiern im Osten Deutschlands besichtigen. Gegen diese Art geistiger Beliebigkeit und ihre Folgen hilft keine religionslose Aufklärung, sondern nur aufgeklärte Religion. Es ist höchste Zeit, dass sich die Christen in Deutschland auf die geistige Kraft ihres Glaubens besinnen und auf ihre Verantwortung für dieses Land.

Unser Eintreten für den Sozialstaat

Das ZdK steht in der Tradition des sozialen Katholizismus und der katholischen Soziallehre. Diese Tradition hat den deutschen Sozialstaat und die europäische Sozialstaatsidee entscheidend mitgeprägt. Der Erfolg des Sozialstaats war wesentlich für den Sieg der Freiheit im Wettbewerb der Systeme. Denn die Freiheit garantiert nur dann eine menschenwürdige Gesellschaft, wenn sie in einer festen Beziehung steht zum mitmenschlichen Ziel der Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeit lebt vor allem von den Idealen der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität. Die Freiheit ist eine Konsequenz der Menschenwürde. Im Grundgesetz steht denn auch die Menschenwürde vor der Freiheit. Damit wird nicht nur die Quelle der Freiheit benannt, sondern es werden auch ihr Sinn und ihre Grenzen bestimmt. Denn die Achtung der Menschenwürde fordert eine Zuwendung zum Mitmenschen und meint nicht einen Freibrief des Individuums. Freiheit ist die gemeinschaftliche Ordnung freier Bürgerinnen und Bürger, die eigenverantwortlich handeln und dem Streben nach Gerechtigkeit verpflichtet sind.

Heute ist der deutsche Sozialstaat in der Krise. Die Gründe liegen einerseits in der Globalisierung und in der europäischen Integration, andererseits in seiner Überforderung durch ein rein individualistisches Rechtstiteldenken und die Vernachlässigung der Zukunftsperspektive durch die Schwächung der Familie und die damit verbundene demographische Bedrohung. Die Erneuerung des Sozialstaates erfordert daher neben der Förderung der wirtschaftlichen Leistung vor allem (1) ein realistisches Konzept, das die Abfolge der Generationen sichert und in diesem Sinne Generationengerechtigkeit garantiert. Und (2) die Wahrung und Entwicklung der europäischen Sozialstaatsidee im Prozess der europäischen Integration. Wer meint, die Europäische Union sei eine gute Möglichkeit, den Sozialstaat in den Mitgliedsländern zu entsorgen, ruiniert Europa und die Voraussetzungen erfolgreichen wirtschaftlichen Handelns. Was wir allerdings sehr viel stärker beachten müssen, sind die kulturellen Standards und Anforderungen des Sozialstaates und seinen Zusammenhang mit einer leistungsfördernden und leistungsfordernden Bildung.



Ob die Erneuerung des Sozialstaates gelingt, hängt entscheidend von den politischen und gesellschaftlichen Kräften ab, von ihren Argumenten, ihrem Agieren und ihren Entscheidungen. Mit Sorge sehen wir, dass die gegenwärtige Debatte viele Menschen eher ängstigt als motiviert und ermutigt. Dazu trägt wesentlich der ständige Verweis auf einen Wettbewerb bei, ohne dass dieser dabei in eine gerechte Ordnung eingebettet wird, sowie das Operieren mit inhaltslosen Begriffen wie „modern“. In der öffentlichen Debatte über die Zukunft stehen sich zu oft eine pauschale Abwertung des Sozialstaates und dessen pauschale Verteidigung gegenüber. Es führt ebenfalls nicht weiter, den Kapitalismus pauschal zu verurteilen oder ihn - glorifizierend oder hysterisch - gegen jede Kritik pauschal zu verteidigen. Was wir brauchen, ist eine klare und handlungsorientierte Vorstellung, wie Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit und Beteiligungsgerechtigkeit zusammen hängen und sich wechselseitig bedingen. Leistungsgerechtigkeit ist dabei die selbstverständliche Grundlage, weil nur durch Arbeit neue Wertschöpfung erfolgt; Verteilungsgerechtigkeit mindert die sozialen Härten für jene, die an solchen Leistungen gehindert sind; Beteiligungsgerechtigkeit sorgt für faire Chancen und fordert dafür eigenes Engagement.

Eine besondere Verantwortung für den Aufschwung trägt die Wirtschaft. Sie hat Anspruch auf fördernde Bedingungen, aber ein wesentliches Element für ein friedliches und leistungsfähiges Land, in dem die Wirtschaft gedeiht, ist neben einer stabilen Demokratie und einem verlässlichen Rechtsstaat nicht zuletzt ein funktionierender Sozialstaat. Das Kriterium, an dem Gesellschaft die Leistungen der Wirtschaft misst, ist nicht die Höhe des Profits oder gar der Unternehmer- und Managereinkommen, sondern es ist neben der Qualität der Produkte und Dienstleistungen die Zahl der Arbeitsplätze. So verstehe ich jedenfalls den Satz: Sozial ist, was Arbeit schafft.

Selbstverständlich beteiligen wir uns weiterhin mit konkreten Forderungen und mit konkreter Kritik an den Entwicklungen der Sozialpolitik und der Familienpolitik. Dem Familienthema ist wiederum ein eigener Tagesordnungspunkt gewidmet. In der Sozialpolitik beobachten wir insbesondere die durch Hartz IV geschaffene Situation. Wir begrüßen die geplante Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten. Mit Sorge verfolgen wir jedoch weiterhin, welche Konsequenzen es hat, dass Hartz IV in seinen Regelungen von der Bedarfsgemeinschaft ausgeht. Die Anrechnung des Partnereinkommens ist faktisch gegen die Familie wie aber auch gegen jede stabile Partnerbeziehung gerichtet und bevorzugt statt dessen das Modell der Alleinerzieherin bzw. des Alleinerziehers. Was dabei herauskommt, sagt uns praktische Lebenserfahrung. Zusammenlebende Paare werden dazu ermuntert, sich zu trennen oder doch jedenfalls ihre Gemeinsamkeit zu verbergen. Beides diskreditiert den Sozialstaat moralisch. Vor allem aber wird der Sinn von Hartz IV nur erfüllt, wenn mehr Arbeitsplätze entstehen. Es nützt nichts, Menschen zur Arbeitsplatzsuche nachdrücklich zu ermutigen, wenn keine Arbeitsplätze vorhanden sind.

Patientenverfügung / Europäisches Forschungsrahmenprogramm

Ein ständiges Thema meiner Berichte sind ethische Herausforderungen der Gegenwart. Die vergangene Vollversammlung hatte das Präsidium beauftragt, unsere Bedenken gegen den Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium zur Form und Wirkung von Patientenverfügungen der Bundesregierung vorzutragen und eine ad-hoc-Arbeitsgruppe zu diesem Thema einzurichten. Durch Schreiben an die Bundesjustizministerin und an die Fraktionsvorsitzenden haben wir Anteil daran, dass der Referentenentwurf des Ministeriums zurückgezogen wurde. Damit ist jedoch das Thema nicht erledigt. Am 4. März hat sich unsere ad-hoc-Arbeitsgruppe konstituiert und die Arbeit an einer Erklärung zum Themenfeld „Patientenverfügung und würdevolles Sterben“ / „Sterbebegleitung statt Sterbehilfe“ begonnen. Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe, Prof. Lob-Hüdepohl hat am 18. März vor dem Hauptausschuss drei für uns unverzichtbare Forderungen formuliert:

1. Die Reichweite einer Patientenverfügung muss strikt auf jene Phase begrenzt sein, in der das Grundleiden trotz weiterer medizinischer Maßnahmen zum nahen Tod führt. Auszuschließen ist der Versuch, die Reichweite der Verfügung auf Situationen schwerer Erkrankung wie Demenz oder Wachkoma auszudehnen.
2. Eine Patientenverfügung darf erst dann Wirksamkeit entfalten, wenn sie nach einer ausführlichen Fachberatung schriftlich verfasst wurde.
3. Eine Patientenverfügung muss ernst genommen und bei der Ermittlung des Patientenwillens berücksichtigt werden. Es darf ihr aber kein Grad an Verbindlichkeit zukommen, der Angehörige, den gesetzlich bestellten Betreuer oder das medizinisch-pflegerische Personal faktisch zur unbesehenen Durchsetzung verpflichtet.

Auf dieser Grundlage werden wir das weitere Gesetzgebungsverfahren kritisch begleiten. Es erscheint uns angemessen, bei Abstimmungen zu dieser Materie im Bundestag den Fraktionszwang aufzuheben.

Ein weiterer Punkt unserer ständigen ethischen Wachsamkeit ist der wiederkehrende Wunsch nach verbrauchender Embryonenforschung. Die Europäische Kommission hat am 6. April dem Ministerrat für das 7. Forschungsrahmenprogramm einerseits eine Verdoppelung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung vorgeschlagen, was wir begrüßen; zugleich enthält der Kommissionsvorschlag jedoch keine klare Regelung bezüglich der Forschung mit und an Embryonen. Die Forderung des Europäischen Parlaments vom 10. März 2005, die Forschung mit menschlichen Embryonen und embryonalen Stammzellen von der europäischen Forschungsförderung auszunehmen, ist also nicht aufgenommen worden. Im europäischen Forschungsrahmenprogramm könnten mithin Projekte, die in Deutschland verboten sind, mit deutschen Steuergeldern mitfinanziert werden. Deshalb fordern wir eine eindeutige Regelung, die innerhalb des 7. Forschungsrahmenprogramms keine verbrauchende Embryonenforschung zulässt.

Auf dem Weg zum 2. Ökumenischen Kirchentag

Ein wichtiges Anliegen ist und bleibt uns die ökumenische Zusammenarbeit. Ein Höhepunkt dieser Zusammenarbeit war der großartige Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin. Dieses partnerschaftliche Projekt fortzusetzen, ist die gemeinsame Absicht des Deutschen Evangelischen Kirchentages und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Seit unserer letzten Vollversammlung sind die Beratungen der beiden Präsidiumsdelegationen fortgeführt worden, wann und wo wir gemeinsam zum 2. Ökumenischen Kirchentag einladen. Wie Sie unserer gemeinsamen Presseerklärung vom vergangenen Mittwoch entnehmen konnten, habe ich heute die große Freude, Ihnen einen von den beiden Präsidiumsdelegationen am 25. April einmütig empfohlenen Beschluss zur Entscheidung vorzuschlagen. Wir empfehlen Ihnen, Folgendes zu beschließen:

„Die Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT) erklären, den zweiten Ökumenischen Kirchentag im Jahr 2010 in München durchführen zu wollen. Sie gehen dabei davon aus, dass eine gemeinsame Einladung der Ortskirchen erfolgt und die finanziellen Rahmenbedingungen für eine entsprechende Großveranstaltung geschaffen werden können.“

Darüber hinaus vereinbarten die beiden Delegationen einen gemeinsam getragenen Prozess „Auf dem Weg zum zweiten Ökumenischen Kirchentag“. Er beginnt mit dem bevorstehenden evangelischen Kirchentag 2005 in Hannover und soll die beiden Laienbewegungen über den Katholikentag 2006, den evangelischen Kirchentag 2007, den Katholikentag 2008 und den evangelischen Kirchentag 2009 bis hin zum Ökumenischen Kirchentag 2010 begleiten. Der Prozess steht unter dem Leitthema „Christ sein in der Gesellschaft – Christ sein für die Gesellschaft“. Gemeinsames Anliegen ist dabei das Bemühen um eine glaubwürdige Verkündigung des Evangeliums in einer Welt, die zugleich charakterisiert ist von zunehmender Säkularisierung, von religiöser Pluralität und von der Wiederkehr der Religion im öffentlichen Bewusstsein. Neben zentralen Veranstaltungen auf den Katholikentagen und den evangelischen Kirchentagen wird im Rahmen der ständigen Zusammenarbeit auch ein gemeinsamer Kongress auf dem Wege zum 2. ÖKT geplant.

Ich bitte Sie, diese Empfehlung in die Aussprache zu meinem Bericht einzubeziehen. Wir werden Sie dann noch im Verlauf des Vormittags bitten, darüber zu beschließen. Zeitgleich berät das Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages über unseren Vorschlag.

Ich bin sehr froh, Ihnen heute diese gemeinsame Empfehlung zur Beschlussfassung vorlegen zu können. Es ist mir ein großes Bedürfnis, von ganzem Herzen allen zu danken, die zu diesem Vorschlag beigetragen haben. Ganz ausdrücklich danke ich dem Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Herrn Prof. Dr. Eckhard Nagel, und der Ko-Präsidentin des Ökumenischen Kirchentages 2003, Frau Dr. Elisabeth Raiser, für Ihren persönlichen Einsatz in dieser Sache. Nun eröffnet sich uns wieder eine Wegstrecke, die wir gemeinsam gehen können.

Rückblick und Ausblick

Sie wissen, dass der diesjährigen Frühjahrsvollversammlung eine besondere Bedeutung zukommt. Der Präsident, die Vizepräsidenten, die Sprecher und der gesamte Hauptausschuss sowie unsere Repräsentanten in der Gemeinsamen Konferenz von Bischofskonferenz und ZdK werden neu gewählt. Die Verbindung von Wahlversammlung und Arbeitstagung gibt dieser Vollversammlung des ZdK ihre charakteristische Atmosphäre. Darum möchte ich an den Schluss meines Berichtes unseren Dank stellen – den Dank des Hauptausschusses, des Präsidiums und meinen persönlichen Dank für die gute, vertrauensvolle und erfolgreiche Zusammenarbeit in den vergangenen vier Jahren. Hervorheben will ich den 1. Ökumenischen Kirchentag in Berlin und den 95. Deutschen Katholikentag in Ulm. Beides waren Ereignisse, die uns im Glauben stärkten und im geschwisterlichen Miteinander voranbrachten. Freilich: In der Geschichte der Katholikentage und des Zentralkomitees sind diese vier Jahre nur eine kurze Zeit, so wie auch die bald 160 Jahre Geschichte seit dem Beginn des deutschen Laienkatholizismus im Jahre 1848 nur eine ganze kleine Strecke sind auf dem langen Weg der Kirche und der Christenheit. Das gilt für uns wie für jeden in der Kirche. Der weite Blick macht unsere tägliche Mühe und die Sorge um das Heute und Morgen der Christenheit und unseres Landes in ihrer Bedeutung nicht geringer, aber er mag uns zuversichtlicher und gelassener werden lassen. In den Augen unseres Gottes ist nichts umsonst getan und auch das Vergebliche und scheinbar Verlorene hat seinen Sinn. Mit dieser Zuversicht lasst uns unsere Arbeit fortsetzen. Denn das, was wir tun, ist notwendig. Unser Einsatz wird gebraucht.

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

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