Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 11/2006

Rede von Prof. Dr. Hans Joachim Meyer im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

1. Kirchliches Leben

Das herausragende Ereignis im Leben der Kirche unseres Landes seit unserer letzten Vollversammlung beim Katholikentag in Saarbrücken war der Besuch des Heiligen Vaters in seiner bayerischen Heimat. Die großen Gottesdienste und Begegnungen dieser Tage waren für viele Menschen Quellen spiritueller Kraft. Selbstverständlich verschwinden hinter den bewegenden Bildern nicht unsere drückenden Sorgen um den Weiterbestand von Pfarrgemeinden und kirchlichen Institutionen. Aber die freudige Teilnahme hunderttausender katholischer Christen an den Ereignissen dieser Reise gehört nicht minder zur Wirklichkeit der Kirche in unserer Zeit. Vielmehr erweisen und verstärken solche Erfahrungen jene Glaubenstreue und jene Verbundenheit mit der Kirche, ohne die wir auf eine kraftvolle und anziehende Zukunft des kirchlichen Lebens in Deutschland nicht hoffen können.

Papst Benedikt hat in seinen Predigten und Ansprachen Themen behandelt, deren Bedeutung weit über seine bayerische Heimat und auch über Deutschland hinausgeht: der unlösbare Zusammenhang zwischen dem sozialen Engagement der Katholiken und ihrem Zeugnis für das Evangelium; der sich wechselseitig befruchtende Zusammenhang zwischen unserem Glauben an Gott und der Gemeinschaft mit unseren Mitmenschen; der notwendige Zusammenhang zwischen Vernunft und Glauben. Der Papst hat das große Anliegen seines Pontifikats weiter geführt, den Menschen das menschliche Antlitz Gottes zu zeigen, der ein Gott der Gerechtigkeit ist, dessen Rache, nach der Menschen in ihrer Not und Verzweiflung rufen, seine "heilende Güte" ist, der nicht ein Gott der Willkür und der Unberechenbarkeit ist und der nicht "vernunftwidrig" handelt. Sein Satz in München, dass das Soziale und das Evangelium einfach nicht zu trennen sind, führt das Thema seiner ersten Enzyklika weiter, dass Gottes Herrschaft Liebe und Gerechtigkeit ist. Es gibt also keine Gegenüberstellung von pastoralem und sozialem Engagement und darum auch keine Abwertung einer der beiden Aufgaben.

Muslimische Reaktionen auf die Regensburger Vorlesung Benedikt XVI. schienen bisherige Bemühungen um den christlich-muslimischen Dialog zu gefährden. Was als Beitrag zum akademischen Diskurs gedacht war, wurde in weiten Teilen der muslimischen Welt missverstanden. Ja, schlimmer noch: Den scheinbaren Vorwurf einer besonderen Gewaltnähe des Islam meinten einige durch Gewalt bis zum Mord hin widerlegen zu sollen. Der Papst hat sich nicht gescheut, wiederholt und eindringlich den Missverständnissen entgegenzutreten. Es ist ein Grund zur Freude, dass 38 führende Persönlichkeiten des Islam, darunter viele geistliche Führer, als Privatpersonen einen Brief an den, wie sie schreiben, "wichtigsten Führer der Christenheit" gerichtet haben. Dieser Brief ist ein bemerkenswerter und weiterführender Gesprächsbeitrag von muslimischer Seite. Selbstverständlich sind auch weiterhin geduldige Grundsatzfestigkeit und nüchterner Realismus geboten, um im christlich-muslimischen Dialog zu belastbaren Ergebnissen zu kommen.

Dankbar sind wir für die freundliche und vertrauensvolle Atmosphäre, in der die Ad-Limina- Besuche der deutschen Bischöfe in Rom verlaufen sind. Davon zeugen die beiden Ansprachen des Heiligen Vaters, die seine tiefe Verbundenheit mit der Kirche in Deutschland zeigten, wie auch die Äußerungen von Bischöfen über ihre Eindrücke und Erfahrungen in Rom. Für das katholische Leben in Deutschland ist dies eine große Ermutigung.

Leider muss ich Sie auch in diesem Bericht erneut über einen Fall höchst fragwürdigen Umgangs mit dem Recht im Bistum Regensburg informieren. Dem langjährigen Diözesanratsvorsitzenden Fritz Wallner wurde von seinem Ortspfarrer die Entscheidung des Generalvikars mitgeteilt, dass er nicht für die anstehende Wahl des örtlichen Kirchenverwaltungsrats kandidieren dürfe. Als Wallner anwaltlich gegen diese Entscheidung einschritt, die ohne präzise Begründung und vorherige Anhörung ergangen war, wurde diese zunächst ausgesetzt, inzwischen aber bestätigt, ohne dass es zu einer mündlichen Anhörung gekommen wäre. Bezeichnend sind die pauschalen Vorwürfe, die gegen Fritz Wallner erhoben werden. Zunächst hieß es: "offener Gegensatz zu den Grundsätzen der römisch-katholischen Kirche ... vor allem durch seine bis zuletzt andauernden Tätigkeiten gegen die rechtmäßig durchgeführte Laienräte-Reform in der Diözese Regensburg" und "verleumdendes Wirken gegen den Bischof in der Öffentlichkeit"; jetzt heißt es "schwer kirchenschädigendes Verhalten vor allem im Zusammenhang mit der Regensburger Rätereform". Mit anderen Worten: Wer Kritik an der bischöflichen Amtsführung übt, dem wird das jedem Kirchensteuerzahler zustehende passive Wahlrecht entzogen. Das widerspricht nicht nur den Grundsätzen der europäischen Rechtskultur und dem kirchenrechtlich garantierten Recht auf Meinungsfreiheit. Das berührt auch unsere freiheitliche Verfassungsordnung und eines ihrer ältesten Prinzipien, dass nämlich zu jeder Steuerpflicht das Recht zur Mitbestimmung über deren Verwendung gehört. Denn die rechtlichen Grundlagen für die Kirchensteuer wurden – vor der kirchenrechtlichen Regelung – durch das Verfassungsrecht und durch staatliche Gesetze geschaffen. Wer diese Grundlagen gefährdet, der verletzt die Interessen der katholischen Kirche in Deutschland.

Zum Abschluss dieses Abschnitts will ich eine Feststellung Papst Benedikt XVI. in seiner Rede bei der 4. Nationalen Versammlung der italienischen Kirche am 19. Oktober 2006 in Verona wiederholen. Nach einem Verweis auf seine Enzyklika "Deus caritas est" sagte er: "Die unmittelbare Aufgabe, im politischen Bereich zu handeln, um eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft aufzubauen, ist also nicht eine Aufgabe der Kirche als solcher, sondern der Laien, die als Bürger in eigener Verantwortung handeln." Dieser Satz im Geist des II. Vatikanums richtet unseren Blick auf wichtige Themen der deutschen, der europäischen und der internationalen Politik.

2. Zur Arbeit der Großen Koalition

Es entspricht unserem Selbstverständnis als politischem Forum der deutschen Katholiken, die Arbeit der Großen Koalition konstruktiv-kritisch zu begleiten. Ich betone beide Momente, weil die deutsche Öffentlichkeit im ersten Jahr dieser Regierung ein Wechselbad der Stimmungen erlebt hat. Auf übergroße Erwartungen folgte ein Übermaß an Kritik. Beides ist unrealistisch und überdies gefährlich. Denn ein Scheitern der Großen Koalition hätte zweifelsfrei ein Erstarken der politischen Extremisten und eine Schwächung der Demokratie insgesamt zur Folge. Daher gehört zur Bilanz des ersten Jahres der Großen Koalition, dass inzwischen zentrale Reformvorhaben auf den Weg gebracht wurden. Zu nennen ist hier insbesondere das Elterngeld, welches ab 1. Januar 2007 als Lohnersatzleistung gezahlt wird. Es ist vor allem familienpolitisch engagierten katholischen Organisationen zu verdanken, dass bei dieser Regelung ein Sockelbetrag festgelegt wurde und dieser 300 Euro monatlich beträgt. Dass dieser nicht auf andere Sozialleistungen angerechnet wird, wirkt einer sozialen Schieflage entgegen. Positiv zu würdigen sind auch der Geschwisterbonus sowie der Beschluss, die Höhe des Elterngeldes auch bei der Geburt des zweiten und dritten Kindes an der Höhe der letzten Erwerbseinkommens des betreuenden Elternteils zu orientieren.

Widersprüchlich bleiben in unserer Sicht die Maßnahmen zur Rentenversicherung. Einerseits machen längere Lebenszeiten und die demographische Situation eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters unumgänglich. Andererseits ist ein solcher Schritt nur verantwortbar, wenn ältere Arbeitnehmer auch tatsächlich einer Erwerbsarbeit nachgehen können. Positiv zu sehen ist, dass an der Beitragsbasierung der Rentenversicherung festgehalten wird und dass die Rahmenbedingungen lebenslangen Lernens verbessert werden sollen.

3. Reform des Gesundheitswesens

Schwierige Gerechtigkeitsfragen stellen sich bei der Reform des Gesundheitswesens:

Erstens muss das System zugleich effizienter und gerechter gestaltet werden. Das ist eine große Herausforderung, denn diese beiden Ziele sind keineswegs identisch. Überdies muss gesellschaftlich akzeptiert werden, was Gerechtigkeit bedeutet. Gerechtigkeit ist ein überindividueller Begriff, der sich hier überdies auf ein gemeinsames Gut bezieht. Dieses gemeinsame Gut ist die Sicherheit, die zu garantieren Aufgabe einer Solidargemeinschaft ist. Kriterium der Gerechtigkeit kann also nicht sein, dass der Einzelne das Gleiche oder gar mehr erhält, als er einzahlt. Wesentlich ist dagegen der Anspruch auf medizinische Versorgung unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Status. Allein der individuelle Behandlungsbedarf muss entscheidend sein.

Zweitens muss das Vertrauen der Beitragszahler in die Finanzierbarkeit und in die künftige Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens gestärkt werden. Bisher wurden die Beiträge durch die paritätisch besetzten Verwaltungsräte der Krankenkassen festgesetzt. Trotz deren demokratischer Legitimation war die öffentliche Transparenz eher gering. Wenn jetzt die Beitragsfestsetzung durch Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums erfolgen soll, wird dies wahrscheinlich stärker im öffentlichen Fokus stehen. Andererseits wächst eben deshalb die Gefahr sachfremder politischer Einflussnahme und kurzsichtiger wahlpolitischer Überlegungen.

Drittens muss die künftige Finanzierung des Gesundheitswesens langfristig und belastbar gesichert werden. Dazu ist als Voraussetzung wesentlich, dass dieses System nicht aus politischen Gründen mit Aufgaben belastet wird, für welche die sozialversicherungspflichtigen Beitragszahlungen nicht bestimmt sind. Aber auch wenn diese Lastenverschiebungen von den Steuerzahlern zu den Beitragszahlern rückgängig gemacht werden und künftig unterbleiben, lassen der Rückgang der Beitragszahler und das Ansteigen der Rentnerzahlen die Beitragsbasis weiter erodieren. Die Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen bleibt deutlich hinter dem Bruttoinlandsprodukt zurück, was zu steigenden Beitragssätzen führen muss. Darum plädiere ich dafür, weitere Einkunftsarten in die Beitragsbemessungsgrundlage einzubeziehen. Das wäre nicht nur gerechter, sondern würde auch der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung Rechnung tragen. Der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen beträgt nur noch etwa 65% und sinkt tendenziell. Dagegen steigen die Einkommen aus Mieten, Aktien und anderen zur Zeit nicht sozialversicherungspflichtigen Einnahmen. Mit der Verbreiterung der Einnahmebasis würde auch der geplante Gesundheitsfonds, der bisher nur der Verteilung dienen soll, breitere Akzeptanz erhalten.

Schließlich ist viertens die Einführung einer Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel und Behandlungsmethoden auf deren Innovationsqualität hin zu begrüßen. Ziel muss es sein, den Menschen wieder stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Deshalb muss ein Anreiz für Ärzte geschaffen werden, den Technikeinsatz besser zu steuern und der persönlichen Beratung ihrer Patienten wieder mehr Zeit zu geben. Sinnvoll ist vor allem die Erweiterung des Leistungskatalogs der GKV. Patienten haben künftig Anspruch auf eine spezialisierte Palliativversorgung. Somit wird die Hospizarbeit gestärkt und zugleich wird ein Sterben in der häuslichen Umgebung ermöglicht, was dem Wunsch vieler älterer Menschen entspricht.

Insgesamt ist zu hoffen, dass die noch verbliebene Zeit für eine ertragreiche Sacharbeit am Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform genutzt wird und dass die rein interessegeleiteten Beiträge zur öffentlichen Debatte bald an Lautstärke wieder abnehmen.

4. Die Debatte über die Zukunft unserer Gesellschaft

Die Reformen der Familienpolitik und des Gesundheitswesens sind Teil der großen Frage, welche Ideale und Wertvorstellungen unsere Gesellschaft prägen und was nach unserer Einsicht und Überzeugung die Perspektive unserer Gesellschaft sein wird. Wir müssen mit Entschiedenheit darauf bestehen, dass Antworten auf diese Frage in einer gesellschaftlichen Debatte gesucht werden. Die Entwicklung der Gesellschaft dürfen nicht die unbegrenzte Herrschaft des Marktes und der Kampf jedes gegen jeden bestimmen. Lassen Sie uns gemeinsam jenen entgegentreten, für welche die Gesellschaft nichts anderes ist als eine Ansammlung autonomer Individuen, denen nur das Interesse an einigen formal für alle geltenden Individualrechten gemeinsam ist, aber keine darüber hinausweisenden ethischen Normen und keine kulturellen Ideale. Zwar wird behauptet, dass dies die notwendige Konsequenz des individualistischen Westens sei. Tatsächlich wäre es aber das Ende der Geschichte von Freiheit und Humanität. Für Christen ist eine solche Sicht der Gesellschaft völlig unannehmbar.
Kritisch sehen wir daher die zunehmende Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Wir bejahen die soziale Marktwirtschaft, aber wir wollen keine Marktgesellschaft. Gewinnmaximierung kann und darf nicht das allein herrschende Prinzip der Wirtschaft sein. Die zunehmende Tendenz großer Unternehmen, zeitgleich Tausende von Mitarbeitern zu entlassen und die Managergehälter um zweistellige Prozentzahlen zu erhöhen, hat das Ansehen der Wirtschaftselite schwer beschädigt und das Vertrauen in ihre Führungskompetenz untergraben. Die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft beruht ganz wesentlich auf der Erwartung der Arbeitnehmer, dass der wesentliche Zusammenhang zwischen ihrer persönlichen Leistung und dem Erfolg des Unternehmens anerkannt wird. Wird dieser Zusammenhang nicht mehr durch ständige eigene Erfahrung bestätigt, so wird dies für die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Einzelnen nicht ohne Folgen bleiben.

Trotz der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung und einem gewissen Rückgang der Arbeitslosenzahlen gibt es eine erschreckend hohe Zahl von Menschen, die arbeitswillig und arbeitsfähig sind, aber für die es dennoch keine Arbeitsplätze gibt. Auch das an sich richtige Wort vom Fördern und Fordern schafft ihnen keine Arbeitsplätze. Diese Krise des Arbeitsmarktes hat innere und äußere Ursachen. Die inneren Ursachen sind in mehr als zwei Jahrzehnten gewachsen und ergeben sich in hohem Maße aus politischen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen sowie aus wirtschaftlicher Inkompetenz und Managementversagen. Sie können daher auch nur durch politisches und wirtschaftliches Handeln korrigiert werden. Die notwendige gesellschaftliche Gesamtstrategie wird also nur zu Stande kommen, wenn der Wille zur Zusammenarbeit besteht und nicht ständig neue Forderungen zu Lasten der Allgemeinheit erhoben werden.

Ein neues Thema der gesellschaftlichen Debatte ist das Vorhandensein einer sozialen Unterschicht in Deutschland, bei der Armut und soziale Ausgrenzung zusammenkommen. Das ist mehr als Arbeitslosigkeit, obwohl Arbeitslosigkeit dazu führen kann. Eine kleine, aber leider wachsende Zahl von Menschen verfügt auch dann, wenn Arbeitskräfte gesucht würden, weder über berufliche Fähigkeiten noch über die nötigen kulturellen und persönlichen Voraussetzungen, um den Anforderungen der heutigen Arbeitswelt gewachsen zu sein. Bei nicht wenigen von ihnen fehlt dazu offenbar auch der Wille. Diese traurige Tatsache kann nur durch eine beharrliche und gemeinsame Strategie der Sozial-, der Familien- und der Bildungspolitik überwunden werden. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass ein Sozialstaat ohne kulturelle Standards und ohne Leistungsansprüche an die zu Fördernden in der Gefahr steht, Verwahrlosung zu finanzieren. Eine Ursache dieses sozialen Problems ist die jahrzehntelang ganz bewusst betriebene Auflösung kultureller Gemeinsamkeiten und der Angriff auf kulturelle Leitideen, die eine freiheitliche Gesellschaft überhaupt erst lebensfähig machen. Das ZdK hat auf den Zusammenhang von Bildungs- und Sozialpolitik wiederholt hingewiesen, insbesondere durch seinen Beschluss zur Förderung bildungsferner Jugendlicher.

Ein interessanter Diskussionsbeitrag ist der Vorschlag unseres Mitgliedes, des Thüringer Ministerpräsidenten Dieter Althaus, ein "Solidarisches Bürgergeld" einzuführen. Das wäre ein einheitlicher Betrag für alle Bürger, der mit der anfallenden Steuerschuld verrechnet werden soll. Das Bürgergeld soll alle bisherigen Sozialleistungen ersetzen und an keinerlei Vorbedingung geknüpft werden. Ein ins Auge springender Vorzug ist, dass dies an die Stelle von 155 Sozialleistungen träte, die derzeit von 37 unterschiedlichen Verwaltungsstellen ausgegeben werden. Wichtig wäre, ob und wie ein solcher Schritt die Bereitschaft zur Arbeitssuche fördert und die Möglichkeit zur Schwarzarbeit eindämmt. Vor allem ist, wie bei allen Wechseln im Sozialsystem, der längerfristige Zusammenhang mit der Steuerlast und dem Steueraufkommen von wesentlicher Bedeutung. In jedem Fall verdient dieser Vorschlag eine ernsthafte Prüfung.

Die große gesellschaftliche Herausforderung unserer Zeit besteht darin, in einer sich weltweit wandelnden Wirklichkeit Freiheit und Gerechtigkeit als die beiden gleich notwendigen Konsequenzen der Menschenwürde in ein dieser angemessenes Verhältnis zu bringen. Dieses Ziel wird mit Sicherheit nicht dadurch erreicht, dass man die Freiheit auf die Gerechtigkeit oder die Gerechtigkeit auf die Freiheit zurückführt. Mit großer Aufmerksamkeit wenden wir uns daher der Absicht vom SPD, CDU und CSU zu, ihre Grundsatzprogramme neu zu erarbeiten. Für die Festigung der geistig-kulturellen Grundlagen unserer Demokratie scheint uns dies von großer Bedeutung. Unter dem Tagesordnungspunkt "Politische Reformen bedürfen solider Werteorientierung" wollen wir uns dieser Aufgabe in Podiumsgesprächen und nachfolgenden Arbeitsgruppen zuwenden. Die Ergebnisse werden durch unseren Sachbereich 2 "Politische Grundfragen" aufgegriffen und in der Thematik kommender Vollversammlungen weitergeführt.

5. Kunstfreiheit und kulturelle Debatte

Ein Aspekt, den ich im Zusammenhang mit den gesellschaftspolitischen Herausforderungen noch besonders unterstreichen will, ist der vitale Zusammenhang von Kultur und Freiheit. Kultur prägt den Inhalt von Freiheit, aber gerade darum sind kulturelle Themen auch stets Gegenstand des Dialogs und der geistigen Auseinandersetzung. Die Berliner Inszenierung der Mozart-Oper Idomeneo, die auf Grund eines mysteriösen Anrufs abgesetzt wurde, hat wieder einmal eine Debatte über die Kunstfreiheit ausgelöst. Dazu scheinen mir einige grundsätzliche Feststellungen notwendig. Erstens: Die Freiheit der Kunst ist aus gutem Grund vom Grundgesetz garantiert. Sie ist ein notwendiger Bestandteil der geistigen Freiheit, von der unsere Gesellschaft lebt. Freilich scheint mir der Satz "Die Kunst darf alles" nicht sonderlich intelligent. Denn wenn die Kunst alles darf, dann braucht sie nichts zu können. Zweitens: Die Freiheit der Kunst hebt die Meinungsfreiheit nicht auf. Selbstverständlich hat jeder das Recht, sich öffentlich darüber zu äußern, was er von bestimmten Kunstwerken und Kunstprodukten hält. Ich habe aus Anlass der Idomeneo-Debatte gesagt, dass ich gegen jede Einschränkung der Kunstfreiheit bin, aber dass ich diese Inszenierung von Hans Neuenfels für überaus einfältig halte. Denn sie soll doch offenbar ausdrücken, dass die Abschaffung von Religion zu einer besseren Welt führe. Drittens: Die Freiheit der Kunst schützt gegen Zensur und politische Eingriffe, aber sie begründet keinen Anspruch auf öffentliche Förderung alles dessen, was als Kunst bezeichnet wird. Zwar liegt auch hier ein weiter Rahmen im ureigenen Interesse der freiheitlichen Gesellschaft. Aber das Recht der Wahlbürger und Steuerzahler, ihrer Repräsentanten und der von diesen ernannten Leiter künstlerischer Einrichtungen darüber zu entscheiden, was mit öffentlichem Geld finanziert wird, wird dadurch nicht aufgehoben. Die Auffassungen über Kunst bleiben Thema der öffentlichen Debatte und die Art ihrer Förderung ist eine Sache der demokratisch legitimierten Entscheidung.

6. Ladenschluss und Sonntagsruhe

Soziales Anliegen und Kulturgut zugleich sind Ladenschluss und Sonntagsschutz. Wie im Ergebnis der Föderalismusreform zu befürchten war, ist beides zum Gegenstand eines ungezügelten Wettbewerbs zwischen den Ländern geworden, wer Wirtschaftsinteressen und Kaufwünschen am meisten nachkommt. Daher ist es dringend geboten, die Landesgesetzgeber mit allem Nachdruck an zwei Grenzen in diesem Wettbewerb zu erinnern: Erstens stehen Sonntage und religiöse Feiertage unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Und sie dienen, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 9. Juni 2004 betont hat, der "Möglichkeit zur zeitlichen Verzahnung des sozialen Lebens der Bürger und insbesondere zur gemeinsamen Freizeit und gemeinsamen Gestaltung des Familienlebens". Kurz und bündig gesagt: Wer den besonderen Charakter des Sonntags zerstört, der nimmt unserer Gesellschaft eine der wenigen verbindenden Gemeinsamkeiten. Zweitens. Wer sich zur Rechtfertigung seines Tuns auf die Individualinteressen einer unbekannten Zahl von Käufern beruft, muss sich darüber im Klaren sein, dass er damit die Notwendigkeit begründet, den individuellen Interessen einer jedenfalls großen Anzahl von Verkäuferinnen und Verkäufern in Bezug auf den Gesundheitsschutz und die Familiengerechtigkeit ihrer Arbeitsbedingungen mit gesetzlichen Maßnahmen zu entsprechen.

7. Bleiberecht und Integration

Wiederholt haben wir uns für ein Bleiberecht für langjährig geduldete Ausländer eingesetzt. Es ist dies ein dringendes integrationspolitisches Erfordernis und darüber hinaus ein Gebot der Menschlichkeit. In der vergangenen Woche haben sich die Innenminister der Länder zu einem Kompromiss durchgerungen. Ausländer, die ein Kind unter 18 Jahren haben, das den Kindergarten oder die Schule besucht, und die seit mindestens sechs Jahren in Deutschland leben, können nun eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten – alle Anderen, wenn sie seit acht Jahren im Lande sind. Voraussetzung ist, dass die Betreffenden spätestens am 30. September 2007 in einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis stehen und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Sie müssen außerdem über Deutschkenntnisse verfügen und dürfen keine gravierende Straftat begangen haben. Dieser Beschluss bringt für eine Gruppe von Geduldeten endlich die erhoffte Sicherheit; von einer dauerhaften Lösung des Problems der Kettenduldungen ist er weit entfernt. Wir hoffen noch auf Verbesserungen der beschlossenen Regelung im geplanten Bundesgesetz und werden uns beharrlich dafür einsetzen.


8. Embryonenschutz

Wie Sie wissen, hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefordert, die Stichtagsregelung für die Forschung mit embryonalen Stammzellen in Deutschland zu ändern. Dafür müssten jedoch überzeugende ethische Argumente vorgebracht werden; Regelungen in anderen Ländern und die Wettbewerbssituation liefern solche Argumente jedenfalls nicht. Die Forschung muss weiterhin dort ihre Grenzen finden, wo die Menschenwürde und das Recht auf Leben berührt sind. Unsere Sorge ist, dass der Vorschlag der DFG auf einen "nachlaufenden Stichtag" hinauslaufen und einen Anreiz dazu liefern könnte, Embryonen als Material für Forschungszwecke zu gewinnen. Wir werden daher diese Debatte mit großer Aufmerksamkeit verfolgen und darauf achten, dass jetzt nicht auf die Schnelle ein breiter gesellschaftlicher Konsens über den Schutz des menschlichen Lebens infrage gestellt wird.

9. Europapolitische Fragen

Im ersten Halbjahr 2007 hat die Bundesrepublik Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne. Es ist deshalb ein gut gewählter Zeitpunkt, wenn wir uns morgen im Rahmen des TOP 5. mit der Ausgestaltung der sozialen Dimension der Europäischen Union befassen. Wie notwendig die Besinnung auf die soziale Identität der Europäischen Union ist, hat uns nicht zuletzt das Scheitern der Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden gezeigt. Dort bewegte viele Wähler die Sorge, die europäische Integration könnte zur sozialpolitischen Nivellierung nach unten verwendet werden.

Die derzeitige Revision der EU-Fernsehrichtlinie belegt, dass die europäische Harmonisierung solche Risiken beinhaltet. Zweifellos ist das Interesse an einem einheitlichen Rechtsrahmen der Medienlandschaft im europäischen Binnenmarkt berechtigt. Dieses wirtschaftliche Interesse darf aber nicht dazu führen, dass zentrale Werte unserer Gesellschaft wie der Jugendschutz gegenüber den Marktchancen von Medienunternehmen ins Hintertreffen geraten. Wenn die Gewinner des Einigungsprozesses die Bürger sein sollen, dann brauchen wir im Geflecht unterschiedlicher Rechtstraditionen, nationaler Prioritäten und wirtschaftlicher Interessen gemeinsame Wertüberzeugungen, die Richtschnur unseres Handelns sind. Für die Revision der EU-Fernsehrichtlinie bedeutet dies konkret: Wenn Qualitätsstandards wie in Deutschland im Medienbereich für den Jugendschutz bestehen, muss es bei der Weiterentwicklung der Medienlandschaft darum gehen, diese Standards europaweit zu verankern und nicht den Jugendschutz in Europa auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren.

In die deutsche EU-Ratspräsidentschaft fällt auch der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 in Rom. Die Römischen Verträge waren der erste Schritt zur Gründung der heutigen Europäischen Union und damit zu einem Raum des Friedens und des Wohlstands innerhalb Europas, wie es ihn über eine solch lange Periode noch nicht gegeben hat. Die damals handelnden Politiker waren getragen von gemeinsamen Wertüberzeugungen und verfolgten das gemeinsame Ziel, auf Vergeltung zu verzichten und einen verlässlichen Raum des Friedens zu schaffen.

In einer Zeit, in der die Europäische Union zweifelsfrei einen kritischen Moment ihrer Geschichte durchlebt, ist es gut, sich die anfängliche Motivation und den Schwung des Beginns in Erinnerung zu rufen und ihn für das heutige Handeln fruchtbar zu machen. Im Rahmen unseres europäischen Freundeskreises, insbesondere in Zusammenarbeit mit den Semaines Sociales de France unter der Leitung von Michel Camdessus, versuchen wir seit einigen Jahren, das europäische Bewusstsein zu stärken. Wir sind deshalb sehr dankbar, dass die Semaines Sociales de France bei ihrer an diesem Wochenende stattfindenden Jahrestagung das Leitwort unseres Katholikentages "Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht" als Thema gewählt haben. Unsere Vizepräsidentin Magdalena Bogner wird morgen zu dieser Jahrestagung nach Paris fahren. Zudem werden wir die Einladung der COMECE, der Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen bei der EU, zu einem Kongress aus Anlass "50 Jahre Römische Verträge" vom 23. bis 25. März 2007 annehmen. Dieser Kongress will das Engagement der Christen für die europäische Einigung unter Beweis stellen. Unter dem Thema "Werte und Perspektiven für das Europa von morgen" soll er zum Ausdruck bringen, dass eine Rechtsgemeinschaft wie die Europäische Union auch eine Wertegemeinschaft sein muss. Die COMECE hat hierzu einen Rat der Weisen eingerichtet, der einen vorbereitenden Text erarbeitet, der als Botschaft des Kongresses an die Staats- und Regierungschefs übermittelt werden soll. Ich freue mich, dass unser Mitglied Ministerpräsident a. D. Erwin Teufel in diesem Rat der Weisen mitarbeitet und wir wünschen ihm dabei Erfolg.

10. Friedens- und Entwicklungspolitik

Mit großem Erschrecken nehmen wir die Geschehnisse in der Krisenregion Darfur im westlichen Sudan wahr. Es gibt bereits 200 000 Opfer, drei Millionen Menschen sind auf der Flucht. Eine humanitäre Katastrophe ist im Gange, so dass Kofi Annan mit Recht vor einem "neuen Ruanda" warnt. Immer noch scheitert die beschlossene Entsendung einer UN-geführten Blauhelmtruppe an der sudanesischen Regierung. Und China blockiert einen Sicherheitsratsbeschluss, auch ohne diese Zustimmung einzugreifen. Das widerspricht der von den Staats- und Regierungschefs beim UN-Gipfel 2005 beschlossenen "Verantwortung zu schützen" (responsibility to protect). Dieses Konzept definiert die kollektive Verantwortung der Weltgemeinschaft zum Schutz der Menschen vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber die Zeit drängt! Deshalb muss sich jetzt die Europäische Union aufraffen und alles ihr Mögliche tun, um den Völkermord in Darfur zu beenden. Nur entschlossenes Handeln kann den erforderlichen Druck auf das Regime im Sudan ausüben.

11. Friedenspreis für Muhammad Yunus

Ich schließe meinen Bericht mit einer Nachricht, über die wir uns alle freuen können. Am 10. Dezember erhalten Professor Muhammad Yunus und die von ihm gegründete Grameen Bank in Bangladesch den Friedensnobelpreis. "Trust in people and hard work" – "Zutrauen in Menschen und harte Arbeit", so lautet die Antwort von Muhammad Yunus auf die Frage nach dem Erfolgsrezept dieser "Dorfbank für die Armen". Denn sie erklärt die Armen für kreditwürdig. Mit Mikrokrediten bekommen die Armen eine Chance, auf dem Markt von Bangladesch zu bestehen, und sie sind nicht mehr den Wucherern hoffnungslos ausgeliefert. Inzwischen hat die Grameen Bank annähernd sechs Millionen Kreditnehmer, von denen über 90 Prozent Frauen sind. Sie ist damit mehr als ein Mikrokreditinstitut. Sie ist eine Bewegung, die den armen Frauen zeigt, wie sie unter den schwierigen Lebensbedingungen Bangladeschs ihre Lebenssituation verbessern können. Inzwischen hat diese Bewegung auch politische Bedeutung. Viele Bankkundinnen sind nicht nämlich gewählte Abgeordnete in kommunalen Parlamenten.

Einige von uns hier im ZdK kennen Muhammad Yunus und die Grameen Bank durch die Teilnahme an Exposure- und Dialogprogrammen in Bangladesch. Insgesamt sechsmal gab es solche Begegnungen im Zusammenhang mit der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Sie haben uns auch viele Anregungen für die Arbeit des ZdK gegeben. Ich denke hier insbesondere an unsere Erklärung zu den internationalen Finanzmärkten sowie an die verantwortliche Geldanlage in Mikrofinanzinstitutionen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle Muhammad Yunus und der Grameen Bank zur Verleihung des Friedensnobelpreises herzlich gratulieren. Danken möchte ich dem Nobelpreiskomitee für das damit verbundenen Zeichen: Entwicklung und Frieden gehören zusammen. Im Falle von Muhammad Yunus wie gewiss auch vieler Kundinnen und Kunden der Grameen Bank sind es praktizierende Muslime, welche eine Entwicklung voranbringen, die zum Frieden beiträgt.

Schluss

Mein Bericht berührte viele Probleme, die unsere Aufmerksamkeit erfordern, und doch konnte dies nur eine Auswahl sein. Nicht weniger bedeutsame Themen, die wir auf früheren Vollversammlungen behandelt haben oder die seit Saarbrücken Gegenstand von Beratungen des Hauptausschusses und unserer Arbeitskreise waren, kann ich hier nur nennen, so die Frage, wie aus den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn ein dauerhafter, weil von allen mitgetragener Friede werden kann, und unsere Verantwortung für die drohende Veränderung des Klimas und dessen Folgen. Die Aussprachen zum Bericht wie zu den thematischen Schwerpunkten der Tagesordnung geben Ihnen die Möglichkeit zur Positionsbestimmung und zum Gedankenaustausch. Dazu lade ich Sie herzlich ein.

Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Präsident des ZdK

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