Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 04/2010

Rede von Alois Glück im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.

Erneuerung oder Verdrängung?
Nicht resignieren, sondern engagieren!


Liebe Schwestern und Brüder,
meine Damen und Herren,

ich beschränke mich jetzt in diesem Bericht auf drei Schwerpunktthemen. Die vielen Einzelthemen sind erstens in der Aussprache möglich, aber vor allen Dingen, denke ich, haben wir ja dann heute Nachmittag eine gute Gelegenheit, im Zusammenhang mit Inhalten, mit Prägungen unserer Arbeit, mit notwendigen Schlussfolgerungen noch vieles zu besprechen. Ich habe für mich diesen Bericht einmal überschrieben "Erneuerung oder Verdrängung" und mit der Schlussfolgerung "Nicht resignieren, sondern engagieren". Wie reagieren wir auf die Zeichen der Zeit, die überall im Umbruch spürbar werden? Mit dem Willen und dem Mut zur Veränderung und Erneuerung oder mit dem Reflex der Verdrängung? Mit dieser Fragestellung sind wir gegenwärtig mit einer besonderen Wucht konfrontiert, sowohl als Bürgerinnen und Bürger als auch als Kirche.

Ich beginne mit dem gesellschaftlichen und politischen Bereich.

Die bitteren Erfahrungen der Finanz- und Weltwirtschaftskrise, die Dringlichkeit einer neuen Klimapolitik, wachsende Spannungen in der Welt hatten eine intensive Debatte ausgelöst mit dem Ziel, neue Ordnungen zu gestalten. Es gab viele Initiativen bei der Suche nach neuen Ordnungen für das Zusammenleben der Völker, für die Weltwirtschaft, für eine umweltverträgliche und gegenüber den Nachkommen zu verantwortende Lebensweise. Eine bedrückende Erfahrung der letzten Monate ist, dass die Kräfte für solche Veränderungen offensichtlich schon wieder immer mehr erlahmen.
Und daraus erwächst eine große Gefahr: die Entwicklung zu weiteren und noch größeren Krisen, die nicht mehr steuerbar sind. Dabei ist der Handlungsbedarf eigent-lich allen klar. Und auch hier zeigt sich: Die größte Gefahr für unsere Zukunft und auch für unsere Demokratie sind distanzierte und satte Wohlstandsbürger.

Die Signale für die Entwicklung in unseren Gesellschaften und Staaten stehen gegenwärtig nicht auf Aufbruch, Veränderung, Erneuerung, sondern mehr auf Verdrängung. Dabei nehmen die Spannungen in unseren Gesellschaften zu. Wir erleben ein Auseinanderdriften sowohl in den sozialen wie in den kulturellen Dimensionen.

In Deutschland ist die Lage politisch nach wie vor vergleichsweise stabil. Aber die Entwicklung in Nachbarländern mit Tendenzen zur Instrumentalisierung von Ängsten, wodurch radikale politische Kräfte immer mehr Zulauf bekommen, muss uns warnen. Dazu gehören vor allem die Kampagnen gegen Minderheiten, gegen Zuwanderer. Wir sind mit unserem Engagement gefordert. Es war auch ein Aspekt bei der Wahl der Thematik "Islam" auf der heutigen Tagesordnung.

Zu den Zeitzeichen zählt eine um sich greifende Angst vor Identitätsverlust mit entsprechenden Gegenreaktionen der Abgrenzung, der ängstlichen Überbetonung des Eigenen und der Pflege von Feindbildern.

Im Globalisierungsprozess werden wir immer mehr eine Schicksalsgemeinschaft, gleichzeitig wachsen eher die Entfremdungen.

Zu den schmerzlichen Entwicklungen der letzten Monate zählen die teilweise geradezu drastischen Veränderungen bei der Finanzsituation in unseren Kommunen und die damit verbundenen Folgen für den unmittelbaren Lebensraum der Bürgerinnen und Bürger. Und eine ähnliche Entwicklung werden wir schon in allernächster Zeit in den Haushalten der Länder und des Bundes erleben. Die Folgen werden drastisch sein. Je weniger wir uns damit auseinandersetzen, was die Ursachen, die tieferen Ursachen dieser Entwicklung sind, und je weniger wir darüber rechtzeitig eine öffentliche Debatte führen, umso mehr wächst die Gefahr, dass sich dann Menschen in die Irre geführt führen, als Opfer fühlen und dass sie damit eben auch anfälliger werden für politische Rattenfänger und für Volkstribune.

Aber gegenwärtig verdrängen wir weiter. Die gesellschaftlichen und politischen Kräfte halten sich weiter wechselseitig in Schach, und dies führt zu Lähmungen, zu schwerwiegendem Zeitverlust, zum Verlust von Handlungsspielräumen. Es ist zu einfach und zu vordergründig, in dieser Situation nur nach mehr politischer Führung zu rufen. Ja, das ist auch notwendig. Aber das ist keine Entschuldigung für alle anderen, die in Führungsverantwortung sind.

Außerdem: Wie will eine politische Führung notwendige Veränderungen durchsetzen, wenn es keine öffentliche Debatte über die Situation, ihre Ursachen und die notwendigen Konsequenzen gibt?

Reparaturmaßnahmen genügen ja nicht mehr. Ich habe schon im November gesagt: Unsere heutige Art zu leben ist nicht zukunftsfähig. Das spüren ja auch viele Menschen. Und wir sagen es eigentlich seit Jahren, auch im eigenen Bereich im Hinblick etwa auf die Fragen der Übernutzung der Erde. Und trotzdem haben wir diese Situation. Deswegen ist ein Schlüsselthema, eine zukunftsfähige Kultur zu entwickeln.

Zu den Hoffnungszeichen dieser Zeit zählt, dass gerade auch die Finanzkrise zu neuen Einsichten über die Bedeutung von Werten geführt hat. Ein Signal dieser Art ist, dass heuer erstmals zum Weltwirtschaftsforum in Davos 16 Vertreter von Religionsgemeinschaften eingeladen waren. Die Macher und die sich dafür halten erkennen, dass es ohne Werte und Grundorientierungen und ohne ausreichende Grundlage gemeinsamer Wertorientierungen in der Welt keine stabilen Ordnungen geben wird. Zu dieser neuen Debatte zählt auch eine neu aufflammende Debatte über den Unterschied von Lebensstandard und Lebensqualität. Dazu zählen neuere Ergebnisse aus der Sozialforschung, wonach für immer mehr Menschen nicht mehr ein ständig steigender materieller Wohlstand, sondern vor allem auch die Qualität menschlicher Beziehungen von Bedeutung ist. Die Bedeutung der Familie als Solidargemeinschaft wird gerade auch in der Zeit der wachsenden Brüchigkeit der organisierten Sozialsysteme und der neuen Herausforderungen durch die demographische Entwicklung wieder neu entdeckt.
Dies alles sind für uns eigentlich Anknüpfungspunkte.

Was ist unser Beitrag dazu?

Mich treibt die Frage um, wo unser Beitrag ist, der darüber hinausgeht, dass wir Entwicklungen beklagen, anknüpfend auch bei den Hoffnungszeichen, bei neuen Offenheiten aus der Erfahrung der Krise, der Verunsicherungen, die mit der Krise verbunden sind.

Wir haben etwa aus der Schatztruhe der Soziallehre und dem Fundament des christlichen Menschenbildes sehr viel beizutragen für eine humane und gute Zukunft.

Was ist in dieser Situation die Aufgabe des ZdK, unsere Aufgabe? – Aber das sollte uns, denke ich, am Nachmittag herausfordern.

Ein zweites Thema ist: der Platz der Religion in der pluralen, offenen Gesellschaft und im säkularen Staat.

Bei zunehmender Säkularisierung, Individualisierung und Ökonomisierung unserer Gesellschaften bewegen Fragen der Religions- und Glaubensfreiheit vermehrt die öffentliche Diskussion.

Sie haben alle die aktuellen, ganz unterschiedlichen Ereignisse in den vergangenen Monaten in den Medien verfolgt. Ich will sie nur kurz in Erinnerung rufen: das Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg, die Diskussion darüber, dass in nordrheinwestfälischen Gerichtssälen keine Kreuze mehr angebracht werden sollen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Ladenöffnungszeiten in Berlin, der Erfolg der Schweizer Volksinitiative gegen den Bau von Minaretten, die Debatten in mehreren europäischen Nachbarländern über ein Verbot des Tragens der Burka in der Öffentlichkeit.

Die christliche Prägung der europäischen Gesellschaften nimmt ab, gleichzeitig steigt das Unbehagen, diese bislang so vertraute Identität könnte durch die steigende Präsenz des Islam hinterfragt werden. Realität ist jedoch auch, dass die große Mehrzahl – ich wiederhole: die große Mehrzahl – der weltweit religiös Bedrängten und Verfolgten Christen sind.

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat in seinem Kruzifix-Urteil die Religionsfreiheit im Sinne von "frei von Religion" interpretiert. Der renommierte Staatsrechtler Martin Kriele stellte daraufhin in einem Beitrag in der FAZ die ironische Frage nach einem Menschenrecht auf Säkularisierung. Zu hoffen ist, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im anstehenden Berufungsverfahren an der Toleranz und wohlbegründeten Religionsfreundlichkeit des Grundgesetzes orientiert und sein Urteil revidiert. Derzeit klären wir als ZdK, inwieweit wir im Rahmen des Berufungsverfahrens mittels einer sog. Drittintervention uns in diesem Sinne mit einen Beitrag einbringen können.

Und lassen Sie mich eine Erfahrung hinzufügen aus einer Diskussion in Brüssel zu diesem Themenkreis. Eine starke Verbündete für die Präsenz der Religion im öffentlichen Raum und des Kreuzes, auch im Schulraum, war eine Vertreterin aus dem Islam. Eine moderne Frau mit, und da kollidiert es dann ganz schnell wieder mit unseren auch zum Teil ja fest geprägten Bildern, eine Frau mit Kopftuch, die ganz entschieden für die Anerkennung der Frauen kämpft und intelligent für die Rolle der Religion in der pluralen Gesellschaft plädiert hat.

Die schwierigsten Gegner sind die aggressiven Atheisten. Das sind diejenigen, die generell die Religion und natürlich auch die Prägung durch die christlichen Religionen in Europa ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung stellen.

Es wird mitentscheidend für den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften sein, wie wir mit Fragen der Gleich- bzw. Ungleichbehandlung von Religionen, mit historisch unterschiedlich gewachsenen Staat-Kirche-Verhältnissen umgehen, wie wir zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit abwägen. Momentan haben wir ja in der Tendenz eher ein Diktat der negativen Religionsfreiheit. Welchen Platz räumen wir religiösen Symbolen im öffentlichen Raum ein? Und ich denke, es ist wiederum auch ein wichtiges Thema für uns jedenfalls in der Überlegung, was wir leisten können, wo wir uns engagieren und engagieren müssen. In diesen ja aufbrechenden Grundfragen unseren Beitrag einzubringen, nicht nur im Sinne einer Forderung, sondern indem wir uns einmischen und einbringen in solche Debatten.

Nun zur Situation in der Kirche.

Beim Sortieren der Bücher, um wieder auch etwas zu finden, kam mir in die Hand ein Büchlein von Professor Heinrich Fries, geschrieben, veröffentlicht 1989 mit dem Titel "Leiden an der Kirche". Der Text ist geprägt von den Erfahrungen einer Rückwärtsentwicklung nach dem 2. Vatikanischen Konzil und auch der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit des Konzils. Und das ist ja auch etwas, was viele von uns beschwert. Für mich war eine wichtige Erfahrung aus vielen Gesprächen der letzten Monate, wie viel engagierte Laien ich im Gespräch erlebt habe, die gleichzeitig verletzt sind, auf dem Weg der Resignation sind. Und ich habe das auch immer wieder in meinen Gesprächen mit mehreren Bischöfen zum Ausdruck gebracht. Es sind Alarmzeichen. Und in dieser ohnehin labilen, von wachsenden Spannungen, auch Enttäuschungen, Entfremdungen geprägten inneren Situation kommt nun mit dieser Wucht diese bittere Erfahrung des Missbrauchs.

Die Tatsachen der Missbrauchsfälle, der Missbrauch des Vertrauens, die schweren seelischen Verletzungen haben nicht nur bei uns zu Entsetzen, Enttäuschung und auch Wut geführt. Und ich habe das in den letzten Wochen ja auch in vielen Presseäußerungen zum Ausdruck gebracht.

Die Schwere dieser Verbrechen an Kindern und Jugendlichen ist vielfach mit eindeutigen Worten gebrandmarkt worden. Papst Benedikt XVI. hat wiederholt in unmissverständlicher Weise die Verbrechen verurteilt und wieder klar und eindeutig in seinem Brief an die Kirche in Irland Stellung bezogen.

Und ich sage deshalb ausdrücklich: Ich sehe keinen begründeten Anlass, an seiner Haltung, an seiner Entschiedenheit in dieser Frage zu zweifeln.
Der Brief an die irische Kirche ist der Maßstab und die Orientierung auch für uns, für unsere Bischofskonferenz; wir haben in dieser Situation ein hohes Maß an Übereinstimmung.

Bischöfe haben sich selbstkritisch zu Versäumnissen, Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen bekannt. Das schafft Respekt und ist ein guter Nährboden für das Wachsen neuen Vertrauens.

Das Offenkundigwerden dieser dramatischen Vorgänge in unserer Kirche ist eine schwere Belastung, aber auch eine Chance für Erneuerung. Pater Klaus Mertes, unserem Mitglied, ist für seinen Durchbruch durch die Schweigemauer besonders zu danken.

Ausgelöst durch diese Schockerfahrungen durchleben und durchleiden wir einen Lernprozess, der rasch zu einer entscheidenden Veränderung der Sichtweisen und der Priorität geführt hat:

Im Mittelpunkt stehen jetzt die Opfer, nicht mehr ein falsch verstandener Schutz der Kirche. Und das ist eine grundlegende Richtungsänderung. Damit ist auch beschrieben, wie und warum das Übel des Missbrauchs sich über so viele Jahre und in so großer Zahl entwickeln konnte. Wenn die erste Priorität nach schweren Verfehlungen in der Kirche der Schutz der Kirche ist, fördert dies das Wegschauen, das Nichtwahrhabenwollen und falsche Solidaritäten.

Die Folge war eine Fortsetzungsgeschichte immer neuer Gefährdungen von Menschen und neuer Opfer. Ebenso schadet es der Kirche, weil sich im Inneren ein Krankheitsherd ausbreitet, die Botschaft Jesu dabei verraten wird, die Kirche in ihrer Substanz von innen her bedroht wird.

Jetzt stehen die Opfer an erster Stelle der Prioritätenliste und im Mittelpunkt. Sie brauchen Aufmerksamkeit, Zuwendung und die jeweils richtige Begleitung und Unterstützung. Was in Opfern vorgeht, welch bittere Erfahrungen sie mit dem Missbrauch und auch sehr häufig mit Reaktionen in ihren Umfeld machen mussten, wie sehr es ein ganzes Leben belasten kann, beginnt man wohl erst zu begreifen, wenn man Gespräche mit Betroffenen geführt hat.

Zu den alarmierenden und deprimierenden Erfahrungen dieser Tage zählt, dass nach Umfragen trotz aller Anstrengungen und eindeutigen Aussagen unserer Bischöfe und anderer die überwältigende Mehrheit der Deutschen nicht glaubt, dass die katholische Kirche wirklich Aufklärung will. Hier zeigt sich, wie tief der Vertrauensverlust ist, wie groß die Fallhöhe, um eine Formulierung des Hamburger Erzbischofs aufzunehmen, für die Kirche ist. Natürlich, wenn man sich selbst gegenüber der Öffentlichkeit perfekt darstellt, dann ist natürlich die Erschütterung umso größer. Deshalb ist es aufgrund dieses Vertrauensverlustes und damit wir Vertrauen zurückgewinnen so wichtig, dass wir ungeachtet dessen, dass es natürlich nicht nur in der katholischen Kirche Missbrauch gegeben hat, dann nicht durch Hinweis auf die Schuld anderer den Eindruck erwecken, dass wir unser eigenes Versagen relativieren möchten.

Darum danke ich auch Bischof Dr. Stephan Ackermann, dem Beauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, für sein couragiertes Angehen der Sache, für die schnelle Einrichtung der Hotline, für seinen ganzen Einsatz zur Aufklärung und für die Wiedergewinnung der Glaubwürdigkeit unserer Kirche!

Die wichtigste Aufgabe ist jetzt, die Grundlagen für neues Vertrauen zu schaffen.

Dazu gehören Transparenz, dazu gehören beispielsweise eindeutige Regelungen für die Zusammenarbeit mit dem Staat. Die jüngste Verlautbarung aus dem Vatikan dieser Tage ist dazu ist eine wichtige Klarstellung und hilfreich. Leider muss ich auch hinzufügen, dass andere Äußerungen aus dem Bereich der Kurie dann wieder zu neuen Irritationen führen. Besonders wichtig ist gerade im Hinblick auf Vertrauen, dass die entsprechenden Regelungen in ganz Deutschland einheitlich gelten und gehandhabt werden, unabhängig von den unterschiedlichen kirchenrechtlichen Zuständigkeiten in Diözesen und Ordensgemeinschaften. Das ist auch die allgemeine Erwartung an unsere Bischofskonferenz, die zum Ende dieses Monats tagt. Wenn es hier im Endergebnis zu unterschiedlichen Positionen, Akzentuierungen oder im Vollzug zu entsprechenden Unterschieden kommt, wäre das eine neue Belastung und es würde die Ernsthaftigkeit bei allen, auch bei denen, die mit letzter Konsequenz die Dinge betreiben, dann öffentlich immer wieder in Zweifel gezogen.

Für die Aufarbeitung haben wir gewissermaßen zwei Zeitachsen:

Zunächst sind die Maßnahmen im Hinblick auf die Missbrauchsfälle und die notwendigen Regelungen mit Blick auf die Zukunft dringlich. Und man kann bekanntlich nicht alles gleichzeitig in gleicher Intensität tun.

Dann – aber nicht irgendwann – sind offene, ehrliche und tabufreie Beratungen darüber notwendig, welche weiteren Schlussfolgerungen zu ziehen sind.

Es gibt da keine Patentrezepte. Und wir sehen ja diese Entwicklung in der ganzen Vielfalt in unserer Kirche. Also es ist nicht einfach einer Denkrichtung zuzuordnen. Aber ich will nur beispielhaft die Konsequenzen nennen bei der Auswahl für geistliche Berufe, für Aus- und Fortbildung, für Strukturen. Wir müssen uns neben all den gesellschaftlichen Bedingungen, die auch in die Kirche hineinwirken, natürlich auch der Frage stellen: Gibt es kirchenspezifische Bedingungen? Und hier kommen wir möglicherweise an eine Art Wegkreuzung.

Ist die große Krise, die tiefe Erschütterung Ausgangspunkt und Quelle einer zukunftsweisenden Erneuerung, wie es in der Kirchengeschichte ja immer wieder zu sehen ist, oder von Rückzug und von dauerhaftem Bedeutungsverlust?

Dies ist bezogen auf die Missbrauchsfälle in unserer Kirche, die damit ausgelöste Erschütterung zum gegenwärtigen Zeitpunkt natürlich offen. Es wird davon abhängen, wie wir diese bitteren Erfahrungen verarbeiten und welche Schlussfolgerungen wir dann daraus ziehen.
Eine Fixierung auf das Versagen Einzelner reicht nicht aus.

Vom Papst, von Bischöfen, von Laien wird als Konsequenz eine "Erneuerung" unserer Kirche gefordert.

Was ist dafür Voraussetzung? Was ist damit verbunden? Darüber muss ehrlich und gründlich miteinander gesprochen und auch gerungen werden, und es betrifft die ganze Kirche im Sinne des Volkes Gottes, das miteinander unterwegs ist.

Wir brauchen keine Angst zu haben, dass durch Transparenz auch die Unvollkommenheit unserer Kirche, ihr ständiger Reformbedarf sichtbar wird. Solche Unvollkommenheit schreckt nicht ab. Abschreckend – weil unglaubwürdig – wirkt, wenn hinter einer Wand oder einer Fassade scheinbarer Vollkommenheit und einem entsprechenden Anspruch nach außen dann die entsprechenden Fehler oder Skandale sichtbar werden.

Wie kann unsere Kirche, wie können wir als Gemeinschaft der Gläubigen Vertrauen und inhaltliche Autorität zurückgewinnen?

Nicht durch Ansprüche an die Gesellschaft und den Staat.
Nicht durch eine gewissermaßen überhöhte Selbstdarstellung "als Haus voll Glorie".
Noch weniger, indem sie sich gekränkt oder beleidigt gibt.
Vertrauen und Strahlkraft gewinnt unsere Kirche nur zurück durch

- einen überzeugenden Dienst für die Menschen

- Wahrhaftigkeit mit Blick auf die Schwächen und die Stärken unserer Kirche

- und eine starke spirituelle Ausstrahlung.

Zu dieser Glaubwürdigkeit beizutragen ist unsere gemeinsame Aufgabe.

Auch hier gilt: Wenn wir von Kirche sprechen, meinen wir nicht nur das Amt, wir müssen uns selbst mit einbeziehen. Wir wollen uns auch einbringen, das ist Selbstverpflichtung, es ist aber auch Anspruch auf Gehör.

Zu den positiven Erfahrungen dieser Wochen zählt, dass viele Menschen, Gläubige mit starker Kirchenbindung und Fernstehende, Sorge um die Situation und Zukunft unserer Kirche haben, weil sie trotz alledem die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden und als die sinnstiftende und Maßstäbe setzende Institution auch in dieser modernen Welt für wichtig halten.

Das darf uns Ermutigung sein.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Alois Glück Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

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