Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 11/2012
Rede von Alois Glück im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde!
Die Bilder vom Katholikentag erinnern uns an eindrucksvolle Tage. Dieser Katholikentag hat eine lebendige, glaubensstarke und vitale Kirche gezeigt – und wir alle konnten uns dieser Lebendigkeit vergewissern und Kraft und Selbstbewusstsein für unsere Aufgaben in Kirche und Gesellschaft schöpfen.
Katholikentag Mannheim 2012
Stellvertretend will ich drei Stimmen zitieren:
- "Ich freue mich darauf, von den Erlebnissen auf dem Katholikentag zu berichten, es waren Tage in
Fülle."
- "In vielen Gesprächen ist erfahrbar: Das Treffen war die Möglichkeit, frei in die Zukunft der Kirche zu denken, nicht beengt durch Zwänge, Kontrolle, Denk-Grenzen."
- "Für mich war dieser Katholikentag eine 'Zündung' in zweierlei Hinsicht: Zurück – ich verstehe dadurch den 'Aufbruch', den Konzil und Synode gebracht haben, besser. Ich bin dafür ein paar Jahre zu jung, um das vorher intus gehabt zu haben. Und nach vorne: Nicht das Bisherige verlängern, sondern neues Denken und Chancen sehen und erhoffen, das ist für mich eine Botschaft von Mannheim."
Das Erlebnis Katholikentag war aber nicht nur eine Ermutigung für den persönlichen Lebensweg und den Einsatz in der und für unsere Kirche, sondern auch für unsere gesellschaftspolitischen Aufgaben. Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel haben dazu aufgerufen, mit Gottvertrauen und Tatkraft unseren Beitrag zu den gesellschaftlichen und politischen Aufgaben unserer Zeit weiter einzubringen. Die Gesellschaft, das Gemeinwesen, braucht den Beitrag der Religion und braucht das Engagement der Christinnen und Christen. Dies müssen wir uns immer wieder in Erinnerung bringen.
Katholikentage sind immer auch Zeitansage.
Dieser Katholikentag war in einer Zeit – und der nächste wird sicher in einer ähnlichen Situation sein –, in der sich langjährige Entwicklungen sowohl in der Kirche wie in unserer Gesellschaft zu Krisen verdichten.
Wir leben in einer Zeit notwendiger Entscheidungen. Das gilt für die Kirche und für die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen.
Alles deutet darauf hin, dass in diesen Jahren prägende Weichenstellungen für Jahrzehnte erfolgen. Durch richtige oder falsche Entscheidungen, durch Handeln oder Nichtstun. In jedem Fall wird es prägende Wirkungen für die weitere Entwicklung in beiden Bereichen haben:
Für die Kirche: Gelingt der Wandel zu einer neuen Vitalität?
Für unsere Zivilisation: Gelingt in dieser Krise der Wachstumsländer das Umsteuern zu einer nachhaltigen und damit zukunftsfähigen Lebenskultur?
Katholikentag Regensburg 2014
Der Katholikentag in Mannheim war eine wichtige Station im Dialogprozess in der katholischen Kirche in Deutschland. Das wird auch für den 99. Deutschen Katholikentag 2014 in Regensburg gelten. Auf Vorschlag der Katholikentagsleitung hat der Hauptausschuss das Leitwort "Mit Christus Brücken bauen" beschlossen. Die Vorbereitungen sind auf einem guten Weg.
Alle hier von mir behandelten Fragen und Themen müssen auch auf dem Katholikentag zur Sprache kommen. Er wird ein weiterer Schritt im Dialogprozess sein.
Zum Dialogprozess
Wo stehen wir im Dialogprozess, welche Erfahrungen und Perspektiven zeichnen sich ab? Ich will eine Standortbestimmung versuchen, die naturgemäß subjektiv ist und nicht den Anspruch der allein richtigen Deutung hat.
In der Vollversammlung vor dem Katholikentag haben wir den Mannheimer Aufruf "Auf Gott vertrauen und mutig aufbrechen" verabschiedet. In den Mittelpunkt haben wir das Leitbild einer den Menschen dienenden Kirche gestellt. Nur wenn die Menschen die Erfahrung einer dienenden und damit auch zuhörenden, demütigen und im rechten Sinne gleichwohl selbstbewussten Kirche machen können, kann es gelingen, dem dramatischen Vertrauensverlust zu begegnen und das verlorene Vertrauen allmählich wiederzugewinnen. Ich wage keine Prognose, ob es schon gelungen ist, etwas vom Vertrauensverlust des Jahres 2010 abzubauen.
Zum Dialogprozess ist die zunächst vielleicht wichtigste Beobachtung, dass er nicht auf die Ebene der Jahresveranstaltung auf der Bundesebene begrenzt ist, sondern in einer positiven Eigendynamik in den Gemeinschaften unserer Kirche und in den allermeisten Diözesen spürbar ist. Ich verweise dazu nur auf unsere Webseite www.einen-neuen-aufbruch-wagen.de, die den Dialogprozess in der katholischen Kirche in Deutschland dokumentiert und zahlreiche Anregungen für weitere Aktivitäten bietet. Dort kann bislang auf rund 260 Meldungen aus 26 Diözesen und auf rund 100 Meldungen aus 20 Verbänden zugegriffen werden. Allein für den November 2012 sind rund 20 Veranstaltungen gemeldet, die zum Dialogprozess in Deutschland stattfinden. Neben unserer Webseite haben auch Bistümer und Verbände in den letzten beiden Jahren rund 15 eigene Dialogplattformen und -seiten ins Leben gerufen.
Spürbar wird die Dynamik des Dialogprozesses auch in der Weise, dass offensichtlich zunehmend Wirklichkeit wird, was wir am Anfang oft mit dem Ruf nach einer angstfreien Gesprächs- und Diskussionskultur in den Mittelpunkt gestellt haben. Gemessen an der Situation vor 2010 wird, so jedenfalls meine Beobachtung, weithin wieder offener und ehrlicher miteinander geredet. Das ist eine Grundvoraussetzung, vor allen Sachfragen, damit unsere Kirche eine neue innere Lebendigkeit, ein gutes Miteinander und neue Ausstrahlung und Anziehungskraft entwickelt. Es erinnert mich an den Ruf von Papst Johannes XXIII. zum Konzil, "die Fenster zu öffnen".
Beim Konzil gab es dann eine Eigendynamik des Geistes, des Heiligen Geistes. Dafür braucht es entsprechende Voraussetzungen im Inneren, damit der Geist wehen kann, wo er will. Dafür sehe ich hoffnungsvolle Ansätze in unserer Kirche, aber es muss noch viel wachsen, vor allem muss noch viel Angst überwunden werden. Die Zurückhaltung und Vorsicht, ja manchmal auch Angst bei vielen in unserer Kirche, die in Führungsverantwortung sind, ist oft lähmend. Der beste Weg, dies zu überwinden, ist, untereinander Vertrauen aufzubauen, und Gottvertrauen.
Fruchtbar und vertrauensvoll hat sich die Zusammenarbeit zwischen Zentralkomitee und Deutscher Bischofskonferenz im Rahmen der "Gemeinsamen Konferenz" – eine Frucht der Würzburger Synode – entwickelt. Ein Zwischenergebnis dieser gemeinsamen Arbeit ist das Dokument "Zusammenwirken von Charismen und Diensten im priesterlichen, prophetischen und königlichen Volk Gottes", das Ihnen allen zugegangen ist. Es beschreibt zukunftsweisend die theologischen und spirituellen Grundlagen für das Mit- und Zueinander von Priestern und Laien in unserer Kirche. Damit wurden auch wichtige Impulse aus unserer Arbeit aufgenommen.
Von diesem Geist geprägt ist auch der Brief der deutschen Bischöfe an die Priester in Deutschland. In diesem bemerkenswerten Dokument, es liegt noch einmal in Ihren Unterlagen, wird die gemeinsame Verantwortung aller Getauften hervorgehoben. Zu den wichtigsten Aufgaben der Priester zählt demnach die Förderung und Entfaltung der Charismen der Laien.
Ich verstehe diesen Brief auch als eine Absage an den von einem Teil der jüngeren Priester gepflegten Klerikalismus mit Selbsterhöhung gegenüber den Laien, insbesondere Frauen, und entsprechendem Herrschaftsanspruch.
Diese beiden Dokumente können wegweisend und prägend werden für eine der wichtigsten Weichenstellungen für die katholische Kirche in Deutschland in diesen Jahren – die künftige Seelsorgestruktur in den Pfarreien.
Nun ist es allerdings nicht damit getan, dass wir unseren Bischöfen für diese Papiere danken.
Nun sind wir selbst gefordert! Jetzt liegt es an uns, mit diesen Papieren, mit diesem Denken und mit der Autorität der Autorenschaft den weiteren Weg in unseren Diözesen zu gestalten. Wenn wir mit unseren Erwartungen an die Bischöfe glaubwürdig bleiben wollen, müssen wir das Unsere zur Umsetzung tun!
Mit großer Sorge sehe ich, dass die Neustrukturierung der Pfarrseelsorge weithin primär als eine organisatorische Maßnahme auf der Basis von Mangelverwaltung umgesetzt wird.
Ohne das Fundament der Theologie des Volkes Gottes, der Kirche als Communio und der geistlichen und theologischen Begründung einer neuen Qualität der Zusammenarbeit von Priestern und Laien, kann es nicht gelingen, zu lebendigen Gemeinden zu wachsen, in denen tatsächlich allen Katholikinnen und Katholiken klar ist: "Wir sind Kirche".
Für die allermeisten Gläubigen ist aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Kirche und dem kirchlichen Leben Kirche immer noch nur dort, wo der Pfarrer ist. Hier ist ein tiefgreifender Kulturwandel notwendig!
Kardinal Walter Kasper formulierte in seiner Grundsatzrede am 21.November 2011 in der Katholischen Akademie in München:
"Wenn wir in diesem Sinne die sakramental begründete Communio-Wirklichkeit der Kirche in die konkrete Realität umsetzen wollen, dann gehört dazu Kommunikation und d. h. die Neubelebung und Stärkung synodaler Institutionen in der Kirche, auf der ortskirchlichen wie auf der universalkirchlichen Ebene. Diese Erneuerung ist keine Neuerung. Sie hat nichts mit einer gelegentlich kritisch beschworenen Rätekirche zu tun." Sie entspreche, so der Kardinal, vielmehr ältester Tradition, die es unter den heutigen Gegebenheiten aufzugreifen gelte, um aus dem Geist der Communio einen aus überholten gesellschaftlichen Mustern stammenden "einseitigen autoritativ-hierarchischen Stil zu überwinden und um der Kirche ein junges frisches Gesicht und eine erneuerte Gestalt zu geben."
In diesem Sinne brauchen wir nicht einfach nur eine Organisationsentwicklung für die künftigen Gemeinden, sondern eine, wie es ein Bischof im Gespräch formuliert hat, "situationsbezogene Gemeindeentwicklung". Ja, das ist wegweisend.
Dafür müssen wir uns engagieren, nicht nur mit Forderungen und Erwartungen, sondern mit unserem Beitrag. Das ist auch ein Glaubwürdigkeitstest!
Das Gesprächsforum am 14./15. September 2012 in Hannover
Eine ganz wichtige Station im Dialogprozess war das Treffen am 14./15. September dieses Jahres in Hannover.
Hier wurden mit der Themenwahl durch die veranstaltende Bischofskonferenz und durch die Ergebnisse drei wichtige "Richtungsbestimmungen" vorgenommen:
- Ja zur Vielfalt in unserer Kirche! Vielfalt ist Reichtum und nicht Bedrohung. Wir sind "eine" große Kirche, aber keine Einheitskirche.
- Die Diakonie in ihrer ganzen Vielfalt gehört zentral zum Wesen der Kirche. Auch bei den absehbaren Veränderungen, die notwendig sind, darf es keinen Rückzug aus diesen Aufgaben geben. Die Diakonie muss dabei in das Leben der Gemeinden und Gemeinschaften besser integriert werden, es ist nicht nur ein Spezialauftrag an die organisierte Diakonie der Caritas.
- Wir engagieren uns gemeinsam als Kirche im Sinne der christlichen Soziallehre und der besonderen Tradition der katholischen Kirche in Deutschland in den gesellschaftlichen und politischen Aufgaben unserer Zeit.
Das wichtigste Ergebnis in Hannover sind die Selbstverpflichtungen der einzelnen Gruppen.
Das gilt für die Bischofskonferenz, das gilt für die Laienverbände und all die anderen Gruppierungen.
Es würde jetzt den zeitlichen Rahmen sprengen, die damit verbundenen Themen etwa im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven der Religion in Gesellschaft und Staat, für das Verhältnis von Kirche und Staat zu beschreiben. Wir werden in der Trägerschaft der Gemeinsamen Konferenz auch eine gemeinsame Studientagung als Bestandsaufnahme und Grundlage für ein Arbeitsprogramm gestalten.
In Hannover konnten auch nicht die vielen gesellschaftspolitischen und sozialethischen Fragestellungen ausführlich beraten werden. Auch dazu muss nachgearbeitet werden, müssen vor allem wir uns damit auseinandersetzen, welche Themen wir gestaltend aufgreifen.
Politisches Engagement ist unverzichtbar
Eine Schlüsselrolle hat dabei auch in Zukunft, ob Menschen aus dem kirchlichen Raum sich im öffentlichen Leben engagieren und sich in der Politik entsprechend exponieren. Es ist bereits jetzt abzusehen, dass wir nach der nächsten Bundestagswahl deutlich weniger Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die aus dem kirchlichen Raum kommen, als Ansprechpartner haben werden.
Das ist auch eine Anfrage an uns selbst. Wie ermutigen wir möglichst viele zu einem solchen Engagement, wie unterstützen wir es? Oder schwimmen auch wir im schicken Strom der Politikverdrossenheit und suchen darin eine Entschuldigung für Abstinenz?
Zu dieser Aufgabenstellung gehört auch kluges Handeln.
Ein Indiz für die Wahrnehmung gesellschaftlicher und politischer Verantwortung durch uns ist im Übrigen auch die Zusammensetzung des Zentralkomitees selbst. Wenn wir den "politischen Katholizismus" stärken wollen, muss er hier bei uns personell verankert sein. Gerade unter schwieriger werdenden Rahmenbedingungen sind wir als Zentralkomitee auf politische Repräsentanten in unseren Reihen angewiesen, die unsere Sprache verstehen und sprechen und die unsere Anliegen in den politischen Prozess übersetzen können.
Epochale Veränderung
Die Zukunft der Kirche ist nicht einfach planbar und machbar.
Noch vor wenigen Jahren wurde die Säkularisierung mit dem Bedeutungsverlust der Religionen bis hin zur Bedeutungslosigkeit als eine geradezu zwangsläufige und unaufhaltsame Entwicklung gesehen. Niemand weiß, wie die Situation in zehn oder zwanzig Jahren sein wird. Damit wir unsere Einzelanliegen und unser Engagement in eine richtige Beziehung und Einordnung zur Gesamtsituation der Kirche und der Gesellschaft bringen, muss uns bewusst sein, dass wir uns in einer epochalen Veränderung befinden. Kardinal Walter Kasper hat dies bei seiner Grundsatzrede so beschrieben:
"Was wir gegenwärtig erleben, ist das Zu-Ende-Gehen einer Epoche in der Kirchengeschichte." Er beschreibt dann die Veränderung durch die Säkularisierung und das Ende der feudalen Reichskirche.
"Es war der Zusammenbruch des gesamten damaligen Kirchensystems, der Verlust politischer und wirtschaftlicher Macht, was in manchen Gebieten zu einer materiellen wie kulturellen Verarmung führte. Es war ein schmerzlicher Umbruch, der aber zu einem neuen Anfang und zu einem Aufbruch, zu einer neuen Gestalt der Kirche wurde, nämlich zu der Volkskirche, wie die Älteren von uns sie bis 1933 und dann in einer kurzen Phase nach dem Zweiten Weltkrieg kannten. Die Kirche hatte ihre politische und wirtschaftliche Macht verloren, sie hatte dafür aber moralische Autorität gewonnen. Dies war dadurch möglich, dass sie sich auf ein konsistentes katholisches Milieu und auf bedeutende Laienverbände stützen konnte; aus der feudalen Reichskirche war eine milieugestützte Volkskirche geworden."
Nun erleben wir in unserer Lebenszeit auch eine epochale Veränderung, die Veränderung von der milieugestützten Volkskirche, der Kirche, die das Milieu prägte und vom Milieu getragen wurde, zu einer kirchlichen Situation und einer Situation der Religion, in der in einer säkularen und religiös zunehmend pluralen Gesellschaft die bewusste Glaubensentscheidung notwendig ist. Eine Kirche in einer Gesellschaft, in der Religion ganz allgemein und pauschal wieder einen weit größeren Stellenwert hat als vor zehn Jahren, gleichzeitig Religion aber nicht mehr gewissermaßen automatisch mit Christentum und christlichen Kirchen gleichgesetzt wird. In einer Gesellschaft mit einer oft sehr widersprüchlichen und zwiespältigen Haltung zur Religion.
Die Zukunft der Kirche wird wesentlich von ihrer geistlichen Strahlkraft abhängen. In dieser Situation erinnere ich mich immer wieder eines Meditationstextes von Oscar Arnulfo Romero, der anlässlich des Wechsels in der Leitung des Hilfswerkes Misereor in diesem März am Ende des Gottesdienstes vorgetragen wurde. Ich zitiere daraus eine kurze Passage:
"Es hilft, dann und wann zurückzutreten und die Dinge aus der Entfernung zu betrachten. Das Reich Gottes ist nicht nur jenseits unserer Bemühungen. Es ist auch jenseits unseres Sehvermögens. [...] Nichts, was wir tun, ist vollkommen. Dies ist eine andere Weise zu sagen, dass das Reich Gottes je über uns hinausgeht. Kein Programm führt die Sendung der Kirche zu Ende. Keine Zielsetzung beinhaltet alles wie jedes. [...]
Wir können nicht alles tun. Es ist ein befreiendes Gefühl, wenn uns dies zum Bewusstsein kommt. Es macht uns fähig, etwas zu tun und es sehr gut zu tun. Es mag unvollkommen sein, aber es ist ein Beginn, ein Schritt auf dem Weg, eine Gelegenheit für Gottes Gnade, ins Spiel zu kommen und den Rest zu tun."
Christen und Muslime als Partner in der pluralistischen Gesellschaft
Die veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung der Religion lässt sich an einigen Entwicklungen der letzten Monate festmachen. Denn wir erleben in verstärktem Ausmaß, dass das Zusammenleben unterschiedlicher Weltanschauungen und Religionen in pluralen Gesellschaften nicht immer friedlich und konfliktfrei verläuft. Ich nenne nur einige exemplarische Vorfälle.
Wir sind schockiert von antisemitischen Übergriffen in der Öffentlichkeit. In Berlin war davon auch ein ehemaliges Mitglied unseres Gesprächskreises "Juden und Christen", Rabbiner Daniel Alter, betroffen.
Die letzten Monate waren geprägt von der Debatte über das sogenannte Beschneidungsurteil des Kölner Landgerichts. Die völlig legitime Auseinandersetzung über den Konflikt zwischen unterschiedlichen Grundrechten, nämlich dem Recht auf Religionsfreiheit, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und dem Elternrecht auf Erziehung, war nur ein Teil der Diskussion. Gleichzeitig wurden respektlose und verunglimpfende antireligiöse Stimmen laut, und dies gegenüber dem Judentum, gegenüber dem Islam wie auch gegen die öffentliche Präsenz von Religionen insgesamt.
Die Verletzung religiöser Gefühle, unter anderem durch einen unsäglichen, den Religionsstifter Mohammed verunglimpfenden Film, aber auch durch ehrverletzende Darstellung des Papstes, provoziert viele Gläubige. In manchen Fällen wird diese Provokation für den Aufruf zur Gewalt instrumentalisiert. So kommt es, etwa im Fall von gewaltbereiten Salafisten, zu einer politischen Radikalisierung, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Zugleich entsteht auf diese Weise in der Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild des Islam, der als Bedrohung und nicht als gesellschaftliche Ressource wahrgenommen wird, obwohl in unserer Gesellschaft das friedliche Zusammenleben der Angehörigen unterschiedlicher Religionen die Regel ist.
Diese drei Beispiele unterstreichen die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs. Er braucht unseren beständigen Einsatz. Es gibt vieles, das uns als Christen, Juden und Muslime verbindet. Daher begrüße ich es außerordentlich, dass der Gesprächskreis "Christen und Muslime" beim ZdK heute im Anschluss an den Bericht zur Lage seine Grundsatzerklärung "Christen und Muslime – Partner in der pluralistischen Gesellschaft" vorstellt. Damit wird – in die aktuellen Debatten hinein – der beiden Religionen innewohnende Auftrag hervorgehoben, unsere Gesellschaft auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen mitzugestalten. Bereits an dieser Stelle möchte ich meinen ausdrücklichen Dank an die Mitglieder des Gesprächskreises zum Ausdruck bringen für die Arbeit und das Signal, das sie mit ihrer gemeinsamen Erklärung aussenden.
Asyl- und Flüchtlingspolitik
Auch an anderer Stelle ragen internationale Konflikte in unsere Gesellschaft hinein. Seit März 2011 hält in Syrien ein blutiger Konflikt an und hat zu einer humanitären Katastrophe geführt. In Folge des Bürgerkriegs sind 2,5 Millionen Syrer auf Hilfe angewiesen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR rechnet bis Ende dieses Jahres mit über 700.000 Flüchtlingen in den Anrainerstaaten.
Syrien ist nur ein Beispiel für aktuelle Flüchtlingskatastrophen. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die aktuelle deutsche Asyldebatte aufgrund des Anstiegs an Asylbewerbern vor allem aus Serbien und Mazedonien benötigen wir dringend Fortschritte in der Gestaltung der europäischen Gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie in der Weiterentwicklung des deutschen Zuwanderungs- und Asylrechts. Der Zustrom von Roma aus Serbien, Mazedonien, aber auch aus EU-Ländern wie Rumänien und Bulgarien erfordert gemeinsame Anstrengungen, um die bestehende Diskriminierung und soziale Ausgrenzung von Roma in ihren Herkunftsländern zu beenden.
Das Schicksal von Flüchtlingen und Asylbewerbern konfrontiert uns, wie auch die Bedrohungen für das ungeborene Leben, ganz konkret mit der Frage nach dem christlichen Menschenbild, mit der Frage nach der Würde des Menschen.
Präimplantationsdiagnostik (PID)
Wir haben uns in den vergangenen Monaten und Jahren im Zusammenhang mit der auf Ausnahmefälle begrenzten Zulassung der PID außerordentlich stark engagiert.
Das Bundesministerium für Gesundheit hat zur Umsetzung des Gesetzes eine Verordnung vorgelegt, die dem Geist des Gesetzes widerspricht!
Im Bundestag wurde darum gerungen und im Hinblick auf den beschlossenen Gesetzestext wurde immer wieder betont, dass der Einsatz der PID der begründete Ausnahmefall bleiben muss. Die Vorlage des zuständigen Ministeriums wird diesem Maßstab nicht gerecht, ganz im Gegenteil. Das haben wir, im Gleichklang mit vielen anderen Verbänden und Organisationen, bereits in diesem Sommer in einem persönlichen Schreiben an alle Ministerpräsidenten zur Beratung im Bundesrat nachdrücklich dargelegt. Wir haben viele ermutigende Antworten bekommen.
Ich bin sehr enttäuscht darüber und es ist bitter, dass die Bundesregierung nun dieser Verordnung zugestimmt und sie zur Beschlussfassung an den Bundesrat weitergeleitet hat, ohne dass wesentliche Veränderungen vorgenommen wurden. Die Verordnung darf die engen Grenzen des Gesetzes nicht durch die Hintertür aufweichen. Ich habe mich bereits letzte Woche dazu geäußert, und wir werden in den nächsten Wochen bis zur Beratung im Bundesrat voraussichtlich im Januar des nächsten Jahres unseren Standpunkt und unsere Erwartung weiter nachdrücklich darlegen.
Die europäische Krise verschärft sich
Vor einem Jahr haben wir uns mit der Erklärung "Europa ist unsere Zukunft" mit der europäischen Entwicklung nicht nur auseinandergesetzt, sondern Position bezogen und weiterführende Akzente gesetzt. Die Krise in Europa hat sich seitdem verschärft. Die Völker Europas scheinen sich immer mehr zu entfremden. Alte Klischees über die südeuropäischen Mitgliedsstaaten oder auch "die Deutschen" haben erneut Konjunktur. Das ist alarmierend. "Europa streikt – europäische Gewerkschaften rufen zum gemeinsamen Streik auf" war vor wenigen Tagen die Überschrift in einer Zeitung.
Deutschland hat in dieser Krise viel Solidarität bewiesen. Die Prinzipien der christlichen Soziallehre gelten auch hier. Sie sehen, in dieser Reihenfolge, vor dem Anspruch auf Unterstützung zunächst die Wahrnehmung der Eigenverantwortung vor, aber ebenso die Verpflichtung der stärkeren Schultern zur Solidarität, wenn die Kräfte der schwächeren Schultern überfordert sind. Wir haben jedoch keinen Anlass, uns über die Situation der anderen Staaten und Völker zu erheben. Die eigentliche und tiefere Ursache dieser Krisen ist uns nämlich gemeinsam – was wir auch gemeinsam verdrängen: dass wir nämlich alle miteinander seit vielen Jahren nicht mehr erwirtschaften, was unsere Art zu leben kostet. Das ist der Kern der europäischen und der internationalen Schuldenkrise.
Lange Zeit haben wir diese Wirklichkeit durch Verschuldung auf Kosten der Nachkommen und mit einem naiven Glauben an die immer wieder heilende Wirkung von technischem Fortschritt und Wachstum verdrängt. Weltweit, in Europa, in den USA, in Asien, eskaliert die Krise dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. "Weiter so" geht nicht mehr. Wir sind fast am Ende der Sackgasse angelangt. Die Schicksalsfrage ist, ob diese Wirklichkeit endlich angenommen wird und ein geordneter Übergang zu einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Lebenskultur gestaltet werden kann.
Auch für unser Land sind wachsende Spannungen im Verteilungskampf absehbar.
Auch wenn die innerkirchlichen Fragen im Moment vordringlich sein mögen, müssen wir uns in der kommenden Zeit verstärkt diesen Aufgaben in Gesellschaft und Staat, national, europäisch und international stellen.
Dazu brauchen wir die Verbindung von Wertorientierung und Sachkompetenz, wir brauchen neue Leitbilder für den Fortschritt.
Zu den Zeichen dieser Zeit zählt, dass wir zunehmend mit Entwicklungen und Aufgaben konfrontiert sind, die Neuland sind, wo wir nicht auf Erfahrungen der Vergangenheit zurückgreifen können. Das gilt für die Folgen der demografischen Entwicklung, für die Wachstumskrise und für viele andere Fragestellungen.
Auch hier gilt: "Einen neuen Aufbruch wagen." Das Motto des Katholikentags von Mannheim ist deshalb nicht nur bleibend richtig für die innerkirchliche Entwicklung, sondern ebenso für die Aufgaben und die notwendigen Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich.
Die Zukunft wird nicht von den Ängstlichen und den Bequemen geprägt. Sie wird von den mutigen Realisten geprägt.
Lasst uns in diesem Sinne mit Gottvertrauen und dem Wissen um unsere Verantwortung für diese Entwicklungen auch hier einen neuen Aufbruch wagen.
Alois Glück Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken