Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 04/2013
Rede von Alois Glück im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) -es gilt das gesprochene Wort.
UNKORRIGIERTES
REDEMANUSKRIPT
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde!
Wir haben in den ersten Monaten dieses Jahres Unerhörtes erlebt: Ein Papst ist zurückgetreten und sein Nachfolger kommt nicht mehr aus Europa, sondern aus Lateinamerika.
Der Wechsel im Amt des Papstes
Lassen Sie mich zunächst den emeritierten Papst Benedikt XVI. in wenigen Sätzen würdigen: Sein Rücktritt ist ein Zeichen menschlicher Größe, ein Akt der Demut, ein Ausdruck seines Glaubens. Darin kommt höchstes Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Kirche zum Ausdruck. Er war Zeit seines Lebens ein Diener des Glaubens, ein Diener Gottes, ein Diener der Kirche. Wir danken Papst Benedikt für seinen lebenslangen Dienst in der Kirche und für die Verkündigung der Botschaft Jesu, für seinen Dienst an unserer Kirche! Wir wünschen ihm für diesen neuen Lebensabschnitt eine gesegnete Zeit!
Wir erleben mit dem Rücktritt des Papstes und mit der Wahl eines Papstes von außerhalb Europas eine historische Zäsur, eine historische Veränderung, deren Auswirkungen auf das Amt des Papstes heute noch nicht absehbar sind.
Beide Ereignisse – Rücktritt und Neuwahl – haben eine außerordentlich hohe Zustimmung gefunden. Maßgeblich dafür sind die hohe Glaubwürdigkeit der beiden Persönlichkeiten, aber auch nicht zuletzt die Vertrauenskrise gegenüber der Kurie und der damit verbundene Wunsch nach tiefgreifenden Veränderungen. Das sind wichtige Voraussetzungen für die Chancen und die Akzeptanz struktureller Reformen in der katholischen Kirche im Hinblick auf die Aufgabenverteilung zwischen der Zentrale und den Ortskirchen und für das Amtsverständnis und die Rolle des Papstes.
Papst Franziskus setzt dafür von Anfang an Signale, beispielsweise die Betonung der Rolle des Bischofs von Rom. Dies hat eine große Bedeutung für die innerkatholische Situation, ebenso für die Ökumene.
Warum gibt es diese spontane Zustimmung zu Papst Franziskus? Es ist seine so glaubwürdige Zuwendung zu den Menschen. In der Reaktion der Menschen drückt sich ihre Sehnsucht nach einer den Menschen dienenden Kirche aus, für die wir uns vor einem Jahr im Mannheimer Aufruf des ZdK stark gemacht haben.
Dieser Papst passt nicht in die Schubladen von "modern" oder "konservativ". Seine zentrale Botschaft lautet: Die Kirche ist für die Menschen da, sie ist nicht Selbstzweck. Wir können, ja wir müssen ohne Angst an die "Ränder" gehen! Hören wir auf das, was er in seiner inzwischen überlieferten Rede bei der Generalkongregation vor dem Konklave programmatisch ausgeführt hat:
"Die Evangelisierung setzt apostolischen Eifer voraus. Sie setzt in der Kirche kühne Redefreiheit voraus, damit sie aus sich selbst herausgeht. Sie ist aufgerufen, aus sich selbst heraus zu gehen und an die Ränder zu gehen. Nicht nur an die geographischen Ränder, sondern an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, die der fehlenden religiösen Praxis, die des Denkens, die jeglichen Elends.
Wenn die Kirche nicht aus sich selbst heraus geht, um das Evangelium zu verkünden, kreist sie um sich selbst. Dann wird sie krank (vgl. die gekrümmte Frau im Evangelium). Die Übel, die sich im Laufe der Zeit in den kirchlichen Institutionen entwickelt haben, haben ihre Wurzeln dieser Selbstbezogenheit. Es ist ein theologischer Narzissmus.
In der Offenbarung sagt Jesus, dass er an der Tür steht und anklopft. In dem Bibeltext geht es offensichtlich darum, dass er von außen klopft, um hereinzukommen. Aber ich denke an die Male, wenn Jesus von innen klopft, damit wir ihn herauskommen lassen. Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach außen treten. […]
Vereinfacht gesagt: Es gibt zwei Kirchenbilder: die verkündende Kirche, die aus sich selbst hinausgeht, die das Wort Gottes ehrfürchtig vernimmt und getreu verkündet; und die mondäne Kirche, die ihn sich, von sich und für sich lebt."
Wir müssen der Versuchung widerstehen, dies mit Zustimmung, ja mit Begeisterung für die Kirche als Ganzes zu begrüßen und dabei zu vergessen, dass wir uns genau dieselben Fragen mit derselben Eindringlichkeit für unsere eigenen Gemeinschaften stellen müssen. Es gilt für jede unserer Gemeinschaften, und es gilt für unsere Arbeit im ZdK ebenso! Sind nicht auch wir zu sehr mit unserem eigenen Tun, mit unseren eigenen Strukturen und Mechanismen, mit unserer eigenen Selbstbestätigung beschäftigt?
Der Papst und das Papstamt üben eine große Faszination aus. An den vielfältigen Reaktionen auf den Rücktritt und die Wahl des Papstes wird aber auch deutlich, dass bereits über einen langen Zeitraum eine Entwöhnung und Entfremdung von einer christlich geprägten Kultur stattfindet und eine aggressive, fundamentalistische Minderheit aktiv wird. Exemplarisch dafür war ein Artikel in der taz. Ich sage sehr deutlich: So können wir, gerade in einer Gesellschaft, in der Toleranz und Weltoffenheit so hoch bewertet werden, nicht miteinander umgehen, und so lassen wir uns als Christen auch nicht behandeln.
Deshalb habe ich im Namen des ZdK wegen des unsäglichen Artikels in der taz bei der Chefredaktion protestiert und beim Deutschen Presserat Beschwerde eingelegt.
Partnerschaftliches Zusammenwirken von Frauen und Männern in der Kirche
Ich komme zu einem anderen Schwerpunkt unserer Arbeit und der Entwicklung in unserer Kirche:
Als ZdK haben wir in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass – neben allen dogmatischen Fragen in diesem Zusammenhang – das partnerschaftliche Miteinander von Frauen und Männern ein ganz wesentlicher Maßstab für das öffentliche Bild unserer Kirche ist. Es ist in der Welt von heute absolut begründungspflichtig, wenn in einer Organisation Frauen und Männer nicht gleichberechtigt an allen Diensten und Ämtern teilhaben können. Und die Begründungen, die in der katholischen Kirche dafür gegeben werden, dringen immer weniger durch. Wir sind den deutschen Bischöfen dankbar, dass sie im Rahmen ihrer diesjährigen Frühjahrsvollversammlung einen ausführlichen Studientag zum "Zusammenwirken von Männern und Frauen im Dienst und Leben der Kirche" durchgeführt haben. Sie haben sich verpflichtet, den Anteil von Frauen an den Leitungspositionen der Kirche, die allen Laien offen stehen, deutlich zu erhöhen. Es ist wohl keine Übertreibung, dass es diesen Studientag der Bischöfe ohne das ausdauernde Engagement des ZdK, insbesondere der Frauen im ZdK, so nicht gegeben hätte.
Wir werden uns in dieser umfassenden Aufgabenstellung weiter engagieren!
Kirche und Religion in der pluralen Gesellschaft
Ein anderes Thema, bei dem die katholische Kirche in noch zugespitzter Weise den gesellschaftlichen Gegenwind zu spüren bekam, ist die Diskussion um die so genannte "Pille danach". In zwei Krankenhäusern in Trägerschaft eines katholischen Ordens war einer mutmaßlich vergewaltigten Frau die notwendige Unterstützung und Behandlung verweigert worden, offenbar aus Sorge, im Zuge der so genannten Spurensicherung auch ein Präparat mit abtreibender Wirkung verschreiben zu müssen. Es wurden zu Recht umgehend Maßnahmen ergriffen, damit Frauen in einer solchen Notlage in allen katholischen Krankenhäusern künftig unbedingt die notwendigen medizinischen und psychologischen Hilfeleistungen erhalten. Zudem wurde auf Initiative von Kardinal Meisner seitens der deutschen Bischöfe eine differenzierte, neue medizinische Erkenntnisse berücksichtigende moraltheologische Neubewertung der "Pille danach" vorgenommen. Das waren jeweils wichtige Signale.
Es wäre aber völlig unangemessen, unter dem Eindruck des schlimmen Vorfalls in Köln, gerade auch vor dem Hintergrund der erfolgten kirchlichen Reaktion darauf, nun das bewährte Zusammenspiel von öffentlicher Hand und Einrichtungen in katholischer Trägerschaft insgesamt in Frage zu stellen. Genau dies geschieht aber aus unterschiedlichen Anlässen immer häufiger.
Die zunehmenden Anfragen aus dem politischen Raum an das bestehende Verhältnis von Staat und Kirchen in den unterschiedlichsten Bereichen wie Kirchensteuer, Arbeitsrecht und Religionsunterricht, aber auch eine z.B. in der Debatte über die Beschneidung minderjähriger Jungen zu Tage getretene aggressive Religionsfeindlichkeit müssen uns zu denken geben. Es war daher ein wichtiger Schritt, dass wir uns vor einer Woche im Rahmen einer Studientagung der Gemeinsamen Konferenz von Deutscher Bischofskonferenz und ZdK intensiv mit den Herausforderungen und Zukunftsperspektiven der Präsenz der Kirche in Gesellschaft und Staat befasst haben. Dazu müssen wir, Bischöfe und Laien, gemeinsam auskunftsfähig sein, und wir sollten uns offensiv auf diese Diskussion einlassen. Nach meiner Überzeugung ist zu dem funktionierenden Staat-Kirche-System in Deutschland derzeit keine Alternative erkennbar, die für die Gesellschaft, für das Gemeinwohl nützlicher wäre.
Es haben sich in unserer Tagung fünf Themengruppen herauskristallisiert:
- Unser Selbstverständnis angesichts der Veränderung der Sozialgestalt der Kirche und der sich verändernden Situation der Kirche in der Gesellschaft:
Sehen wir die Entwicklung nur als Verlustgeschichte? Wollen wir den Wandel erleiden oder gestalten? Wollen wir den Rückzug auf das sogenannte "Kerngeschäft" oder wollen wir zu den Menschen und "an die Ränder gehen", wie es Papst Franziskus fordert?
- Die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft:
Vieles deutet darauf hin, dass die Religion auch in der modernen Gesellschaft weiter ihre Rolle hat und nachgefragt wird. Gleichzeitig steigt aber der Anteil der Menschen, die persönlich keine Bezüge und kein Verständnis mehr für die Rolle der Religion, der Kirchen und für religiöse Ausdrucksformen und die Präsenz der Kirchen in der Gesellschaft haben. Dies äußert sich zunehmend auch in aggressiven Gegenpositionen.
Die Rolle und die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft bedürfen überzeugender Begründungen, gerade auch im Hinblick auf die Rolle der christlichen Religion und vor allem der christlichen Kirchen.
- Die Beziehung der christlichen Kirchen zum Staat, das Staat-Kirche-Verhältnis:
In einer Bestandsaufnahme sind die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen präziser zu erfassen und zu analysieren. Daraus ergibt sich die Frage, welche Schlussfolgerungen unter Würdigung der Aspekte der Bereiche 1 und 2 notwendig sind.
- Die Entwicklung in Europa – in der Europäischen Union – unter zwei Aspekten:
Zum einen: Das europäische Projekt ist Aufgabe der Christen und in besonderer Weise auch der Katholiken. Was ist unser Auftrag, was sind unsere Möglichkeiten, was müssen wir einbringen und wie kann das geschehen?
Zum anderen: Welche Rückwirkungen haben europäische Entwicklungen, etwa durch die Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe oder durch Richtlinien der EU, auf die innenpolitische Entwicklung in Deutschland mit Blick auf das Staat-Kirche-Verhältnis, das Arbeitsrecht etc.
- Die Zukunft des "politischen Katholizismus":
Für die Wirksamkeit christlicher Werte und für das Wirken der katholischen Kirche und der Katholiken bedarf es entsprechender organisatorischer Strukturen und Aktivitäten. Die bisherigen Ausformungen des "politischen Katholizismus" werden angesichts der Veränderungen in der Gesellschaft, in den Kommunikationsstrukturen etc. nicht mehr ausreichen. Was sind die Entwicklungsperspektiven, was ist zu tun?
Auf den Leitungsebenen der Deutschen Bischofskonferenz und des ZdK muss die Weiterarbeit besprochen und gestaltet werden.
Ehe und Familie in der öffentlichen Debatt
Ich komme zu einem anderen Thema, das in den vergangenen Wochen sehr prägend war und das auch an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit verdient: die Debatte über Ehe und Familie. Schon vor einem Jahr – es ging um das Betreuungsgeld – habe ich im Lagebericht der ZdK-Vollversammlung dazu aufgerufen, die familienpolitische Debatte nicht ideologisch verhärtet zu führen. Ein Jahr später stellt sich die Lage keineswegs besser dar. Ich erlebe, dass gerade über Familien häufig in einer kulturkämpferischen Sprache der gegenseitigen Abwertung und der Diffamierung anderer Positionen debattiert wird. Und dies in einer Gesellschaft, die beansprucht, offen, liberal und tolerant zu sein!
Die Debatten über familienpolitische Fragestellungen entwickeln sich sehr schnell zu einer polarisierenden und mitunter verletzenden Auseinandersetzung über unterschiedliche Lebenswege. Damit fühlen sich Menschen schnell betroffen, abgewertet und zu einer Rechtfertigung ihres eigenen Lebensweges genötigt. Dieses Muster ist immer wieder festzustellen. Deshalb brauchen wir für die familienpolitischen Debatten wechselseitigen Respekt vor den Lebensentscheidungen des Einzelnen, Sensibilität für die Werte anderer Menschen und ihrer Lebenssituation. Wir brauchen aber auch den Mut, für unsere Überzeugungen einzustehen und Entwicklungen, die Sorge machen, zu benennen.
Die Familie ist das fundamentale Band zwischen den Menschen, auf das Gesellschaft und Staat aufbauen können. Politik und Sozialstaat können die familiären Bindungen und die menschliche Fürsorge weder ersetzen noch schaffen.
Trotz der überragenden Bedeutung der Familie für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft stehen die realen Lebensbedingungen für Familien, für Elternschaft und für Kinder oft im Widerspruch zu dieser großen Bedeutung. Umfragen zeigen: Die meisten jungen Frauen und Männer wünschen sich Kinder. Aber viele von ihnen verwirklichen diesen Wunsch nicht. Vor allem die Anforderungen in der Arbeitswelt führen viele junge Menschen in Interessenskonflikte. Der Zwang zur Mobilität und Flexibilität sowie der rasche Wandel im beruflichen Umfeld können Familienzeiten zum Risiko werden lassen. Daher wird häufig der vorhandene Wunsch nach einem Familienleben mit Kindern wegen der Bedingungen im Erwerbsleben, und nicht selten auch wegen Zukunftsängsten, nicht verwirklicht.
Die Erschwernisse und Hindernisse im Alltag sind für Familien vielfältig. Nicht von ungefähr wurde dies schon vor Jahren als "strukturelle Rücksichtslosigkeit" gegenüber Familien charakterisiert.
Jetzt ist die Zeit eine grundsätzliche familienpolitische Debatte zu führen. Dies aus drei Gründen:
1. Warum gibt es diesen Widerspruch zwischen den Sehnsüchten und Lebensentwürfen der Menschen und der Wirklichkeit und was ist daran veränderbar?
2. Nach welchen Maßstäben bewerten wir den Erfolg familienbezogener Leistungen?
3. Wie füllen wir heute Art. 6, Satz 1 des Grundgesetzes "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" aus, auch im Hinblick auf den Ruf nach Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften?
Dazu einige Anmerkungen: (Ich habe in den letzten Wochen an verschiedenen Stellen ausführlich zu diesen Fragen Stellung genommen und beschränke mich hier auf die Kernaussagen.)
Zum ersten Punkt: Ich behaupte, unser eigentliches Problem ist nicht eine mangelnde finanzielle Unterstützung, auch wenn die Forderung nach einer stärkeren Anerkennung der Erziehungsleistung in den Familien sicherlich nicht zu Unrecht erhoben wird. Es geht vielmehr darum, dass wir als Staat und Gesellschaft die Familien zu wenig in den Mittelpunkt unseres Denkens und Planens stellen. Wir müssen die Familienpolitik aus der Schublade der Sozialpolitik herausnehmen und in das Zentrum unserer Gesellschaftspolitik und unserer Zukunftspolitik stellen. Wir müssen die Frage, was Familien mit Kindern, aber auch, was die Familien im Sinne der gesamten Spanne der Generationen für ihr Zusammenleben und in ihrer jeweiligen Lebenssituation brauchen, ebenso in unser Denken integrieren, wie dies im Umweltschutz gelungen ist.
Ich kenne die Entwicklung der Umweltpolitik in Deutschland von Anfang an, seit 1970. Die entscheidende Veränderung war damals die Erkenntnis, dass wir den Umweltschutz aus der Reparaturabteilung in die Planungsabteilung umsiedeln müssen. An den Beginn einer jeden Planung, etwa eines Produktes, aber auch der Entscheidungen in der Kommunalpolitik vom Bebauungsplan bis zu den Verkehrssystemen, gehört eine Familienverträglichkeitsprüfung.
Es gilt aber auch insbesondere die Arbeitswelt anders zu organisieren. Das ist eine Frage der Priorität. Warum müssen sich die Familien, warum müssen sich die Eltern ständig an die Anforderungen, an den Takt der Arbeitswelt anpassen? Warum werden die heutigen Möglichkeiten der Flexibilität in der Arbeitsorganisation noch nicht konsequenter für die Anpassung der Arbeitswelt an die Bedürfnisse der Familie genutzt?
Ich glaube, in einer solchen Priorisierung liegt der Schlüssel zu einer Verbesserung der Situation der Familien. Aus einem solchen deutlich erhöhten öffentlichen Verantwortungsbewusstsein für die Rahmenbedingungen gelingenden Familienlebens kann dann auch eine Ermutigung für junge Paare hervorgehen, Kinder in ihre Lebensplanung und ganz konkret in ihr Leben hineinzunehmen und Verantwortung für die nächste Generation zu übernehmen.
Wenn wir uns das bewusst machen, können wir zweitens auch die erhitzte Diskussion der letzten Wochen über die Wirksamkeit familienunterstützender Maßnahmen des Staates in einem anderen Licht sehen. Dabei müssen wir uns als erstes die Frage stellen: Was sind denn unsere Maßstäbe für die Beurteilung und Bewertung familienpolitischer Leistungen? Die Zahl der Kinder? Die Zahl der berufstätigen Mütter? Die Zahl der Kita-Plätze? Was macht den Wert einer Familie für den Menschen und für die Gesellschaft aus? Solche Kosten-Nutzen-Kalkulationen eröffnen eine erschreckende Perspektive. Wir sind auf dem Weg, den Menschen ausschließlich nach seinem messbaren gesellschaftlichen Nutzen zu bewerten.
Zu der Frage der Effektivität hat übrigens eine aktuelle Umfrage interessante Ergebnisse zutage gebracht: Demnach werden von einer Mehrheit der Eltern gerade die klassischen ehe- und familienbezogenen Leistungen wie das Ehegattensplitting und die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung besonders hoch geschätzt, während sie in Politik, Wirtschaft und Medien häufig als "gestrig" behandelt werden. Die Eltern, die so viel Verantwortung übernehmen, sollten eigentlich am besten wissen, was ihnen dabei tatsächlich hilft. Viel zu oft wird aber die tatsächliche Situation der Familien, werden die von den Eltern selbst artikulierten Bedürfnisse eben nicht als Maßstab für die Wirksamkeit und Zielerfüllung von familienpolitischen Maßnahmen angelegt.
Der dritte Grund für die notwendige familienpolitische Grundsatzdebatte ist die Forderung nach der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften mit Ehe und Familie. Im Kern geht es hier vor allem um die rechtliche Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe im Einkommenssteuerrecht und im Adoptionsrecht, bis hin zur Öffnung des Rechtsinstituts Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Diese Debatte verlangt eine besonders sorgfältige Sprache. Jeder Art von Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften muss entschieden widersprochen werden. Wo Menschen füreinander verbindlich Verantwortung übernehmen, verdient dies Respekt und Anerkennung. Im Hinblick auf versorgungsrechtliche Regelungen sind in den vergangenen Jahren schon entsprechende Konsequenzen gezogen worden.
Wer sich nun aber gegen eine komplette Gleichstellung mit Ehe und Familie und gegen die Aufhebung aller rechtlichen Unterscheidungen ausspricht, spricht noch keine Diskriminierung aus. Es geht hier um Grundsatzfragen der Gesellschaft und nicht um vordergründige Zuweisungen von Modernität oder Konservativismus. Ich respektiere jede gut begründete Position, ich akzeptiere aber nicht die abwertende Sprache, die abwertenden Klischees, die denen sofort zugeordnet werden, die der vollständigen Gleichstellung nicht zustimmen und die eine sorgfältige und grundlegende Debatte für notwendig erachten. Der vollständigen Gleichstellung nicht zuzustimmen ist kein Ausdruck von Homophobie, wie es häufig unterstellt wird. Es gibt einen bleibenden Unterschied zwischen gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft und der Verbindung von Frau und Mann, da diese potentiell auf Nachkommen und damit auf Generativität angelegt sind. Wer diesen Unterschied nicht wahrhaben und berücksichtigen will, verkennt die Intention des Grundgesetzes, das Ehe und Familie als in sich nachhaltige Lebensform und Grundlage einer Gesellschaft besonders schützen will.
Es reicht aber umgekehrt auch nicht aus, den besonderen Schutz von Ehe und Familie nur daran festzumachen. Der Auftrag wird ja nicht dadurch erfüllt, dass keine komplette Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften erfolgt. Es ist vielmehr eine kreative und intensive Debatte notwendig, wie wir diesen Auftrag des Grundgesetzes im Hinblick auf die Lebenssituation von Familien in der Welt von heute aktiv gestalten und damit diese Lebenssituation nachhaltig verbessern. Das ist die Aufgabe der Stunde.
Gesetzliches Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung
Auf weitere aktuelle Fragen kann ich nun nicht mit derselben Ausführlichkeit eingehen, will aber drei von ihnen noch kurz ansprechen.
Wir sind beunruhigt und alarmiert von dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung. Denn wenn nur die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung strafbar ist, bietet das vorgesehene Gesetz gerade solchen Organisationen Schlupflöcher, die in Deutschland schon heute in organisierter Form Suizidbeihilfe anbieten und zum Teil aggressiv dafür werben. Ein solches Gesetz würde, so meine Überzeugung, zu einer schleichenden Erosion des Rechtsbewusstseins in der Gesellschaft führen. In den letzten Wochen haben wir uns mit vielen anderen intensiv dafür eingesetzt, dass dieses Gesetz so nicht beschlossen werden sollte und das Verbot sich auf jeden Fall auf die organisierte Suizidbeihilfe insgesamt erstrecken sollte. Wenn das in dieser Legislaturperiode nicht mehr gelingt, liegt hier ein dringender Bedarf für die nächste Bundesregierung, wie auch immer sie aussieht. Das Verbot der organisierten Beihilfe zur Selbsttötung gehört in den nächsten Koalitionsvertrag!
Doch damit nicht genug: Wir stehen hier vor der Herausforderung, mit unserem Einsatz für den Schutz und die Würde des menschlichen Lebens von seinem Beginn bis zu seinem Ende nicht als bloße Verhinderer neuer gesetzlicher Regelungen wahrgenommen zu werden. Bezogen auf die Frage der Suizidbeihilfe heißt dies auch, mit Nachdruck für eine Verbesserung der Situation schwerstkranker und sterbender Menschen einzutreten. Wir möchten mit dem Schwerpunktthema des heutigen Nachmittags "Leben bis zuletzt – Sterben in Würde" einen entsprechenden Akzent setzen und einen Beitrag zur Schärfung des Bewusstseins für diese gesamtgesellschaftliche Herausforderung leisten. Zudem fordere ich den nächsten Bundestag und die nächste Bundesregierung schon heute auf, die flächendeckende und differenzierte Versorgungsstruktur für schwerstkranke und sterbende Menschen auf der Grundlage der Erkenntnisse und Erfahrungen aus Hospizbewegung und Palliativmedizin zu einem Schwerpunkt der künftigen Gesundheitspolitik zu machen. Dazu liefert der heute Nachmittag zu beratende Text konkrete Hinweise.
Für uns selbst und unsere Kirche ist ein starkes Engagement für den Ausbau der Hospizbegleitung und der Palliativmedizin auch ein Test für die Glaubwürdigkeit unserer Forderungen an die Politik.
Gefahren von rechts
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" – dieser erste Satz unseres Grundgesetzes betrifft nicht nur die Fragen von Leben und Tod, die wachsenden Herausforderungen am Beginn und Ende des menschlichen Lebens. Er ist auch eine Selbstverpflichtung im Umgang mit den Menschen, die nicht der eigenen Herkunft oder Prägung entsprechen. Die Würde des Menschen ist für Christen die nicht verhandelbare Grenze zu rechtsradikalen und nationalkonservativen Gruppierungen, die vorgeben, "christlich-abendländische Werte" zu verteidigen, und dabei Stimmung gegen Menschen machen. Diese rechten Gruppierungen wählen sehr bewusst ein betont bürgerliches Gewand und reklamieren für sich Heimatverbundenheit und bürgerliche Werte. Ich finde diese Entwicklung alarmierend. Nachdem wir an der Aufdeckung der Taten der NSU lernen mussten, wie weit ein krimineller, terroristischer Rechtsextremismus mitten in unserer Gesellschaft verzweigt und vorgedrungen ist, müssen wir auch für die geistige Infiltration noch aufmerksamer werden. Sie findet besonders dort einen Nährboden, wo zum Beispiel durch Abwanderung tragende soziale Strukturen wie das Vereinsleben allmählich zusammenbrechen und dieses Vakuum dann gezielt genutzt wird.
Die Diözesanräte haben bei ihrer Tagung im Februar 2012 in Freiburg dieses Thema eingehend beraten. Es ist inzwischen noch dringlicher geworden. Das vorzügliche Material dieser Tagung sollte in allen unseren Gemeinschaften genutzt werden.
Zusammenhalt in Europa
Abschließend komme ich noch – wie schon bei den vergangenen Vollversammlungen – auf die europäische Entwicklung zu sprechen. Sie ist von ungebrochener Aktualität und Dramatik. In einigen der südlichen Krisenländer ist die Arbeitslosigkeit auf über 25 % gestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 %. Eine ganze Generation ist hier derzeit ohne Zukunftsperspektive. Die Gefahr sozialer Spannungen infolge der Schulden- und Finanzkrise und das damit verbundene Risiko politischer Instabilität nehmen zu.
In Deutschland hat zuletzt insbesondere die Zuwanderung von Roma aus Rumänien und Bulgarien zu kontroversen Diskussionen geführt. Die besonders stark betroffenen Kommunen dürfen hier zweifelsohne nicht allein gelassen werden. Denn die Armutswanderung wird, ob es uns gefällt oder nicht, infolge des zunehmenden Wohlfahrtsgefälles in der Union vermutlich noch weiter zunehmen. Zugleich sollten wir nicht außer Acht lassen, dass Deutschland aus dem Zuzug gut gebildeter und junger EU-Bürger, die die große Mehrheit der Einwanderer stellen, großen Nutzen zieht. In diesem Zusammenhang ist auch die notwendige Verbesserung der Lebens- und Bleibebedingungen in den mittel- und südosteuropäischen Ländern zu nennen – eine Aufgabe, der sich insbesondere unsere Solidaritätsaktion Renovabis widmet, die auf Initiative des ZdK ins Leben gerufen wurde und die in diesem Jahr ihren 20. Geburtstag feiert.
Die Euro-Skepsis, die in meinen Augen immer auch eine Europa-Skepsis ist, hat nun auch in Deutschland ihren Niederschlag in der Gründung einer Partei gefunden. Die geforderte Auflösung der Euro-Zone ist für mich der grundfalsche Weg zur Lösung der aktuellen Krise. Vielmehr müssen wir Antworten geben auf die eigentliche Ursache der Krise, die vorrangig in einer nicht mehr tragfähigen Staatsverschuldung begründet ist. Nicht die Rückabwicklung der gemeinsamen Währung ist die Lösung – im Gegenteil: Die Wirtschafts- und Währungsunion geht nicht weit genug. Es war ein Konstruktionsfehler, dass sie noch Verschuldung in dem jetzt bekannten Ausmaß zugelassen hat. Was wir benötigen, ist die Fortsetzung differenzierter Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen in den Mitgliedsstaaten, die nachhaltiges Wachstum erlauben. Die Sozialpartner spielen hierbei eine herausragende Rolle, um die soziale Akzeptanz der Maßnahmen zu gewährleisten. Darüber hinaus müssen wir in Europa ebenso unabdingbar den gemeinsamen politischen Willen aufbringen, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vertiefen und uns gemeinsam den Herausforderungen der Krise zu stellen. Die Staaten Europas dürfen sich hier wie dort nicht von denen einschüchtern lassen, die vermeintlich einfache Lösungen präsentieren und auch vor der Diffamierung verantwortlich handelnder Politiker und Regierungen nicht zurückschrecken. Gleichwohl müssen wir die berechtigten Ängste und Sorgen der betroffenen Menschen ernst nehmen und für sie zumutbare Lösungen finden.
Die große Gefahr für die friedliche Zukunft Europas ist die spürbare Entfremdung der Völker, die Wiederkehr der alten abwertenden Klischees und Vorurteile. Das bedroht das Fundament der europäischen Zusammenarbeit. Dagegen müssen wir aktiv werden.
Ende Mai 2014 finden kurz vor dem Katholikentag in Regensburg Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Es liegt an uns allen, sicherzustellen, dass von diesen Wahlen das Signal einer solidarischen und verantwortlichen Europäischen Union ausgeht, die die Zustimmung und Unterstützung ihrer Bürger findet und Modell für andere Regionen bleibt. Lasst uns also auch schon vor dem Regensburger Katholikentag diese Brücken bauen.
99. Deutscher Katholikentag 2014
Den 99. Deutschen Katholikentag werden wir vom 28. Mai bis 1. Juni 2014 gemeinsam mit dem Bistum Regensburg und seinem neuen Bischof, Prof. Rudolf Voderholzer, durchführen. Wir haben uns über die schnelle Wiederbesetzung des Bischofstuhls gefreut und sind nun schon seit einigen Monaten gemeinsam auf dem Vorbereitungsweg, auf den wir Sie alle mitnehmen wollen. Ich danke dem Bischof von Regensburg an dieser Stelle auch für das Gebet zum Katholikentag, das er uns vor kurzem vorgestellt hat und das uns auf dem Weg begleitet. Ich schließe mit einem Satz aus dem Gebet zu Jesus Christus: “Mach auch uns zu einer Brücke, über die die Liebe Gottes zu den Menschen strömen kann.”
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Alois Glück Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken