Bericht zur Lage, Rede des ZdK-Präsidenten 11/2016

im Rahmen der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) - es gilt das gesprochene Wort

Liebe Schwestern und Brüder,

vor einem Jahr haben Sie mich in das Amt des Präsidenten gewählt. Heute blicke ich auf bewegte 12 Monate mit vielen Gesprächen, Begegnungen und Konferenzen zurück. Vor einem Jahr habe ich nicht abgesehen, wie sehr dieses Amt und mit ihm das ZdK gefragt ist. Ich konnte beim besten Willen nur einen Bruchteil der Bitten um Vorträge, Begegnungen, Artikel, Beiträge annehmen. Und wo ich das getan habe, ist es immer auch im Namen des ZdK, im Bemühen um die Vertretung der Mitglieder gewesen.

Vom Bundespräsidenten bis zur verbandlichen Gruppe, von der Fachtagung bis zum Staatsakt, vom Grußwort und Impulsvortrag bis zur Laudatio für den wahrscheinlichen künftigen Bundespräsidenten – das ZdK ist gefragt, wenn wir uns klar äußern und uns um qualifizierte Beiträge zum gesellschaftlichen und kirchlichen Dialog bemühen. Katholische Männer und Frauen sind als nach wie vor sehr große und wichtige Gruppe in diesem Land und in Europa von großer Bedeutung und man bittet uns um die Hilfe, die Standards des zwischenmenschlichen Zusammenlebens angesichts erschreckender Verrohung der Kommunikation nicht zuletzt in den sogenannten "sozialen" Medien zu wahren. Manchmal fürchte ich, dass wir da in unseren Möglichkeiten überschätzt werden, aber in unserer konsequenten Ausrichtung auf den Dienstcharakter unseres Christseins greifen wir alle in unseren Verbänden und Werken, Bistümern und Gemeinden diese Erwartung auf. 

Der Höhepunkt dieses ersten Amtsjahres war sicherlich der 100. Deutsche Katholikentag Ende Mai in Leipzig. Es hat mich sehr gefreut und auch ein wenig stolz gemacht, diese große, traditionsreiche und lebendige katholische Laienbewegung bei diesem ganz beson-deren Ereignis in so ungewohntem Umfeld repräsentieren zu dürfen. Jede und jeder von Ihnen, die in der so gastfreundlichen, offenen Stadt Leipzig dabei waren, hat einen eigenen Katholikentag erlebt. Sicherlich geht es Ihnen wie mir, dass Sie aus diesen Tagen in Leipzig wertvolle Erinnerungen, Ermutigungen, Merkposten mit sich tragen, in den Köpfen und in den Herzen. Wie beim Abschlussgottesdienst sage ich hier noch einmal: Danke, Leipzig!

Nun bewegen wir uns mit großen Schritten auf den 101. Katholikentag 2018 in Münster zu. Der Hauptausschuss hat das in gemeinschaftlichem Nachdenken in der Katholikentags-leitung gefundene Leitwort beschlossen: "Suche Frieden", aus dem Psalm 34, aufgegriffen im ersten Petrusbrief. Es ist der Imperativ des Zitats: "Suche Frieden und jage ihm nach" und zugleich in der erste Person zu verstehen: "Ich suche Frieden". Beides soll Thema nicht nur 2018 sein. Mit diesem Leitwort als rotem Faden einige Bemerkungen zur Lage.

Suche Frieden – in einer unversöhnten Zeit

Das Leitwort ist in den letzten Wochen auf viel spontane Zustimmung gestoßen. Es erscheint passend in unruhigen Zeiten, die von der Furcht vor Terroranschlägen, von politisch und religiös begründeten Konflikten, globalen Umwälzungen und Verwerfungen geprägt sind. Eine Zeit, in der der europäische Einigungsprozess einseitig aufgekündigt wird, in der der gesellschaftliche Friede von einer wachsenden Gruppe Unzufriedener erschüttert wird. Eine Zeit, in der sich in den USA bei den Präsidentschaftswahlen ein unberechenbarer Populist durchsetzt, während die Türkei durch ihren Präsidenten Schritt für Schritt von einer Republik in ein autokratisches, Minderheiten unterdrückendes Regime umgewandelt wird.

Eine Zeit, in der der Kampf um Mossul und an anderen Orten unfassbar viele Menschen-leben zerstört. Eine Zeit, in der ein weiterer Anstieg der Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge vorprogrammiert ist, auch wenn seit einigen Monaten nicht mehr so viele von ihnen bei uns in Deutschland ankommen. Wir sind in großer Sorge um unsere Glaubensgeschwister im Nahen Osten, wo im Heimatland des Christentums offenbar eine zweitausendjährige Nachbarschaft verschiedener Religionen zunichte gemacht werden soll. Wir Christen sind Anwälte der Menschenwürde und des Rechts auf Leben und rufen den Kriegstreibern zu: Lasst Unterschiede zu und lernt Toleranz, hört endlich auf mit diesem Blutvergießen!

Eine tief sitzende Unversöhntheit, wie sie so oft zum Ausdruck kommt, konnte ich vor zwei Wochen auch hautnah erleben. Eine gemeinsame Israelreise des ZdK-Präsidiums mit unserem Gesprächskreis Juden und Christen hat uns vor Augen geführt, wie schwer, wie bedrohlich und bedrückend es ist, in einem dauerhaft zerrissenen Land zu leben. Zugleich sind wir tief beeindruckt zurückgekehrt, sicherlich auch mit einem geschärften Bewusstsein für die gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung der abrahamitischen Religionen in unserem Land.

Lassen Sie mich hier auch eines ganz deutlich sagen: Ich finde es empörend und beschämend, wie in manchen Medien mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofs-konferenz und dem Ratsvorsitzenden der EKD umgesprungen wird, wie ihr Bemühen um Deeskalation in der angespannten Atmosphäre auf dem Jerusalemer Tempelberg – sie haben ihr Kreuz auch an der Klagemauer abgenommen – skandalisiert wird. Mir ist, auch nach den eigenen Erfahrungen in Israel, vieles an der aufgeheizten, angespannten Lage an diesem Brennpunkt der Weltreligionen fremd und unverständlich geblieben, aber so viel muss doch klar sein: Christliches Zeugnis legt man nicht durch demonstrative Provokation ab, sondern durch einen sensiblen Umgang mit den Anderen. Wir – Katholiken wie Protestanten – wollen keine religiösen Scharfmacher als Repräsentanten unserer Kirchen!

Reformationsgedenken und Ökumene

Suche Frieden – dabei können wir in diesen Wochen und Monaten gar nicht anders, als uns auch an den Beginn der Reformation vor 500 Jahren zu erinnern. Mit ihr war eine bis heute wirkmächtige Spaltung der Christenheit verbunden war, die unser Land besonders nach-haltig prägte. Es war auf päpstlich-katholischer Seite das Scheitern der Integration von Reformen. Die Jubiläen der vergangenen Jahrhunderte waren immer auch Selbstverge-wisserungen der evangelischen Christen in unserem Land. Deshalb bin ich besonders froh darüber, dass wir heute – nach 500 Jahren – in versöhnter Verschiedenheit gemeinsam dieser weltgeschichtlichen Entwicklung gedenken können. Aber diese Geschichte ist und bleibt auch eine Konfliktgeschichte. Es gab Gewalt und Hass, tiefste Verachtung, entschie-dene Trennung und Konflikte, die bis in die Familien hineinragten. Vor einigen Wochen haben die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland mit einem Gemeinsamen Wort "Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen" den Blick darauf und auf die positiven Schritte der Ökumene gelenkt. Unsere Sprecherin des Sachbereichs 1, Prof. Dr. Dorothea Sattler – das möchte ich anerkennend erwähnen – war maßgeblich an diesem wichtigen Text beteiligt.

Als katholische Frauen und Männer können und werden wir dieses besondere Gedenkjahr mitbegehen und mitfeiern. Papst Franziskus hat dazu bei seinem Besuch in Schweden anlässlich der Eröffnung des Gedenkjahres gute, richtungsweisende Worte gefunden. Er sagte unter anderem: "Gemeinsam können wir auf konkrete Weise und voll Freude die Barmherzigkeit Gottes verkünden und offenbaren, indem wir die Würde eines jeden Men-schen verteidigen und ihr dienen. Ohne diesen Dienst an der Welt und in der Welt ist der christliche Glaube unvollständig." In den Gemeinden, Verbänden und Initiativen vor Ort gelingt Ökumene besonders gut!

Darüber sollten wir uns neben allen drängenden theologischen und innerkirchlichen Fragen der Ökumene immer im Klaren sein: Unsere vordringliche Aufgabe als Christenmenschen in gesellschaftlicher Verantwortung ist der Dienst, die Förderung des Gemeinwohls! Hier, in der gesellschaftlichen und politischen Arena, sind wir gemeinsam gefragt – mehr denn je! Angesichts der zunehmenden religiös-weltanschaulichen Pluralisierung wird es immer dringlicher, dass wir als evangelische und katholische Christen möglichst oft zusammen-stehen und auch zusammen auftreten. Das wird eine wichtige Frage werden: Wie müssen wir ökumenisch aufgestellt sein, welche Hausaufgaben müssen wir machen, damit uns der gemeinsam aufgetragene Dienst gelingt?

Ein vorbildliches Beispiel dafür war vor einem Jahr die gemeinsame Positionierung der Spitzen von EKD-Rat und -Synode, Deutscher Bischofskonferenz und ZdK beim gesetz-lichen Verbot organisierter Beihilfe zur Selbsttötung. Das hat nicht nur Eindruck gemacht, das hat auch wirklich etwas bewirkt!

Ich will ein zweites, weniger prominentes Beispiel aus diesen Tagen nennen. Der Bundes-tag hat in der letzten Woche über Reformen im Arzneimittelrecht abgestimmt. Dabei ging es auch darum, ob künftig an nichteinwilligungsfähigen erwachsenen Personen geforscht werden darf, wenn sie selbst keinen direkten Nutzen davon haben können. Der Bundestag hat letztlich entschieden, dass dies künftig unter strengen Auflagen möglich sein soll. Erforderlich ist eine entsprechende Vorab-Verfügung, die im einwilligungsfähigen Zustand und nach ärztlicher Aufklärung erteilt worden sein muss. Viele Abgeordnete aus unter-schiedlichen Fraktionen, die uns nahestehen, haben sich für eine noch strengere Regelung eingesetzt, die Beibehaltung eines vollständigen Verbots, um die betroffenen Menschen vor einer drohenden Instrumentalisierung zu schützen. Andere sind in ihrer ethischen Abwä-gung zu dem Schluss gekommen, dass sie die jetzt beschlossene Regelung mittragen können. Aber ganz Entscheidendes ist schon viel früher geschehen. Denn dass diese Frage überhaupt noch mit hohem Aufwand und alternativen Anträgen im Parlament behandelt wurde, hat seine Ursache insbesondere in einer gemeinsamen Stellungnahme des Evangelischen und des Katholischen Büros in Berlin. Ich danke hier auch unserem Mitglied Prälat Dr. Karl Jüsten. Erst danach kam es zu den Nachbesserungen am ursprünglichen Regierungsentwurf, der eine deutlich weniger strenge Regelung vorgesehen hatte. Ich bin überzeugt, dass eine solche Wirkung insbesondere dann erzielt werden kann, ja wahr-scheinlich nur dann erzielt werden kann, wenn die Politik merkt: Hier muss sie mit der Kritik der katholischen und evangelischen Kirche rechnen. Das auf die Beine zu stellen ist mit-unter mühsam, aber sollte uns ein echter Ansporn sein! Lassen Sie uns immer wieder gemeinsam als Anwälte der Menschenwürde, der Gerechtigkeit und des sozialen Zusammenhalts sprechen und alles unternehmen, damit dies noch öfter gelingt!

Auch an vielen anderen Stellen würde es gut passen, wenn katholische und evangelische Frauen und Männer sich gemeinsam zu Wort melden. Wenn, wie wir es in diesem Jahr nur zu oft erlebt haben, immer wieder das 'christliche Abendland' oder das 'christlich-jüdische Erbe' beschworen wird, dann fragen wir doch nach, was denn genau man darunter ver-steht. Es läge es doch nahe, wenn wir unseren "Markenkern" definieren und sagen, was das Christliche an diesem Abendland ausmacht. Das sind sicherlich zuvorderst die Prinzi-pien christlicher Individual- und Sozialethik: Personalität und Menschenwürde, Solidarität, Gemeinwohlorientierung und Nachhaltigkeit. Papst Franziskus nannte Anfang Mai bei der Karlspreisverleihung drei große Fähigkeiten Europas: die zum Dialog, zur Integration und zur Kreativität.

Typisch christlich in einem Abendland, das nie exklusiv christlich war, aber von dorther geprägt ist, wäre es, anschlussfähig für den heutigen religiös-weltanschaulichen Pluralis-mus zu sein. Zum kulturellen Erbe, für das wir stehen, gehören Humanität, eine prinzipielle Offenheit für andere und Dialogfähigkeit gegenüber anderen. Christsein heißt immer auch Weltbürgerin und Weltbürger zu sein. Wir dürfen eine 'europäische Leitkultur' nicht mit Nabelschau und Integrationsabwehr verwechseln. Wir sind als vom Glauben überzeugte und getragene Menschen besonders geeignet und gefragt für Dialoge zwischen Religionen und Weltanschauungen. Aktuell läuft hier in Nordrhein-Westfalen eine landesweite "Woche des Respekts". Ich denke, Respekt vor dem Nächsten gehört zum Wesenskern des Christentums, Respekt vor dem Mitmenschen wie auch vor dem Fremden.

Frieden suchen heißt auch notwendigen Streit riskieren

An den genannten Beispielen merken Sie schon: Es wäre völlig unangemessen, die Suche und die Sehnsucht nach Frieden als Vorwand für das Vermeiden von Konflikten und das Ausweichen vor klaren Standpunkten zu missbrauchen. Im Gegenteil: "Suche Frieden" heißt auch "gehe dem Streit nicht aus dem Weg". Es kann auch heißen: "Suche Streit, wo es notwendig ist".

Mir ist dieser Aspekt des Mühens und des Ringens um Frieden und Aussöhnung so wich-tig, weil wir häufig Gefahr laufen, uns mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden zu geben. In meinem politischen Zuständigkeitsbereich, der Landespolitik, gibt es zum Beispiel kaum noch jemanden, der im Schulstreit um G8 oder G9 vermitteln könnte. Für eine länge-re Schulzeit des Teils der Kinder, die das Gymnasium besuchen, gibt es gute Gründe. Aber auch die Verkürzung wurde seinerzeit mit guten Gründen beschlossen, die ihre Gültigkeit keineswegs verloren haben. Viele der öffentlichen Debatten scheinen sich eher um die längere zeitliche Beanspruchung durch die Schule zu drehen, die als Ganztagsschule gewollt ist. Für uns ist es wichtig, dass wir helfen, Modelle zu entwickeln und auszubauen, die es erlauben, die große Tradition der außerschulischen Jugendarbeit im kirchlichen, kulturellen und sportlichen Feld zu bewahren.  

Demokratie braucht Alternativen

Schwestern und Brüder, meine Damen und Herren, es ist eine vielfach bestätigte Erfah-rung: Große Koalitionen stärke außerparlamentarische Oppositionsbewegungen und die politischen Ränder – und andererseits zwingen die erstarkten politischen Extreme in den Parlamenten zu großen Koalitionen. Es ist ein Teufelskreis! Wir merken es in Deutschland, wo sich die politische Landschaft verändert, und wir merken es in diesen Tagen noch mehr in den USA, wo das Unbehagen vieler an etablierten politischen Strukturen und Akteuren in Wut und auch in so etwas wie Rachsucht umgeschlagen ist. Es geht darum, berechtigte Ängste der Menschen wahrzunehmen und zu rationalisieren, aus dem Bauchgefühl der Angst Besorgnisse in den Köpfen zu machen, wie es Paul Zulehner nicht zuletzt bei unserer internationalen Flüchtlingstagung in Klagenfurt gesagt hat.

Die entscheidende Lehre, die wir in Deutschland aus der Wahl von Donald Trump zum künftigen US-Präsidenten ziehen müssen, ist nicht die nach dem Programm, für das er steht und mit dem er gesiegt hat. Es zeigt sich ja schon in den ersten Tagen nach der Wahl, dass vollmundige Ankündigungen zurückgezogen oder relativiert werden. Ganz ähnlich haben wir es auch nach dem Brexit und der Brexit-Kampagne erlebt, die Lügen und bös-willige Verzerrungen gezielt einsetzte. Entscheidend und für unsere Demokratie am gefähr-lichsten ist nämlich die Art und Weise, ist der Wahlkampfstil, mit dem er gewonnen hat. Jede noch so dumpfe Vereinfachung, jede menschenverachtende Pointe auf Kosten Schwächerer, jede demonstrative Abkehr von den etablierten Spielregeln und Umgangs-formen war recht, um Stimmen von enttäuschten Wählern zu fangen. In Amerika war man damit erfolgreich, an die Bauchgefühle zu appellieren und dumpfe Ressentiments zu bedie-nen. Hoffentlich wird das nicht ein Modell für unsere Wahlkämpfe hier!

Lassen Sie uns dazu beitragen, dass in Deutschland weiter Argumente und Vertrauen zählen und nicht Wut, Böswilligkeit, Spekulation und Rachegelüste.

Ich plädiere nicht für einfache Lösungen – von denen gibt es bei Trump und seinen Geistes-verwandten zuhauf, und das auch mit vielen inneren Widersprüchen. Einfache Lösungen greifen in unserer komplexen Welt immer weniger. Aber was wir brauchen, sind Debatten über mögliche Alternativen, nicht die vorschnelle Behauptung der Alternativlosigkeit. Politiker müssen deutlich machen, dass sie sich für etwas und zugleich gegen etwas entscheiden.

Um das prominenteste Beispiel der letzten Jahre anzuführen: Die Bundeskanzlerin hat sich, als sie sich für die Aufnahme der Flüchtlinge entschieden hat, die auf der Balkanroute unterwegs in Richtung österreichische und deutsche Grenze waren, gegen die Billigung einer gewaltsamen Zurückweisung an der Grenze entschieden. Gerade, weil das nicht alternativlos war und so viel Zustimmung wie Ablehnung hervorgerufen hat, hat diese Entscheidung auch Verantwortlichkeit und Führungsstärke demonstriert.

Ich bin überzeugt, es hätte auch der Akzeptanz der Freihandelsabkommen CETA und TTIP nur nutzen können, wenn sie von Beginn an transparent und ergebnisoffen behandelt worden wären. Der Streit um CETA und TTIP war zum großen Teil auch der Befürchtung einer intransparenten Hinterzimmerpolitik zu Beginn der Entstehung der Abkommen geschuldet. Ich hoffe, dass nicht unter dem Strich für den Freihandel und damit unseren Wohlstand in Europa ein großer Schaden entsteht.

Knoten lösen

In den letzten Tagen ist ein gemeinsamer Kandidat der Berliner Koalitionsparteien gefunden worden. Ich halte Frank-Walter Steinmeier für einen sehr würdigen Kandidaten. Vor einigen Monaten habe ich – als Kollege in der Zuständigkeit für den Katholikentag 2018 zu ihm als Noch-Präsidenten des Evangelischen Kirchentags 2019 – eine Laudatio auf ihn halten dürfen. Darin habe ich ihn in Parallele zum Augsburger Marienbild als "Knotenlöser" gewürdigt: "Er zerhaut sie [die Knoten] nicht wie Alexander es mit dem gordischen Knoten gemacht hat, er lässt sie auch nicht ungelöst, sondern arbeitet mit Beharrlichkeit und Ausdauer daran, die teils alten, festen Verknotungen in Konflikten, Streitigkeiten und Verhärtungen geduldig aufzudröseln – im Gefüge der Staaten und Völker ebenso wie zwischen Konfessionen und Religionen. […] Die Kraft und Geduld erwächst aus einem Glauben, der trägt und Sicherheit gibt."

Heute ist nicht der Tag, Frank-Walter Steinmeier vorab zu gratulieren. Doch für alle gläubi-gen Menschen in diesem Land ist es eine Bestätigung, dass abermals ein im Glauben verwurzelter Mensch, ein aktiver Christ, der aus seinem Glauben weder demonstratives Aufsehen noch einen Hehl macht, als der am besten geeignete Kandidat für das Amt unseres Staatsoberhauptes erscheint. Ich als Katholik freue mich sehr über den Protestanten Steinmeier.

Klimaschutz

Knoten lösen und notwendigen Streit riskieren, das müssen wir auch immer wieder in Fragen, die uns über die Jahre begleiten. Heute endet die Internationale Klimakonferenz in Marrakesch. Vor einem Jahr hat die Weltgemeinschaft die Vereinbarung eines internatio-nalen Klimaabkommens in Paris gefeiert, das die globale Erwärmung begrenzen soll. Dies war ein Meilenstein für die internationale Klimapolitik und ein großes Zeichen der Hoffnung für die Zukunft der Menschheit und zur Bewahrung unserer Schöpfung. Das Abkommen ist nun rechtzeitig vor zwei Wochen in Kraft getreten, in einer historischen Rekordgeschwin-digkeit haben es viele Staaten ratifiziert. Auch die Europäische Union und die Bundesregie-rung haben sich mit großem Engagement für ein ehrgeiziges internationales Abkommen und eine schnelle Ratifizierung eingesetzt.

Dabei darf es aber nun nicht bleiben. Wenn wir den Klimawandel ernsthaft bekämpfen wollen, braucht es nun eine ernsthafte und ambitionierte Umsetzung des Abkommens von Paris und ein zielgerichtetes Regelwerk dazu. Dies war auch das Hauptthema der Konferenz in Marrakesch.

Deutschland war bisher ein Vorreiter in Sachen Klimaschutz. Die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens bedeutet für Europa und auch Deutschland jedoch noch mehr Anstren-gungen im Klimaschutz und mehr Emissionsreduktionen als bisher vereinbart. Der Klima-schutzplan 2050 der Bundesregierung ist hierbei zentral. Über diesen Plan hat es bis kurz vor der Klimakonferenz heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Bundesregierung gegeben. Der für die vereinbarte Emissionsreduktion zwingend erforderliche energiepoliti-sche Umbau darf nicht verschleppt werden. Die Politik muss nun liefern. Mit dem Plan muss die Bundesregierung aufzeigen, wie Deutschland das Pariser Klimaabkommen umsetzen will. Ich wünsche mir – und das haben wir als ZdK nicht nur einmal zum Aus-druck gebracht –, dass Deutschland in diesem Bereich der Bewahrung der Schöpfung seine Vorreiterrolle behält. Deutschland darf auf nationaler Ebene beim Umbau nicht nachlassen, und es muss gerade in punkto Klimaschutz, der auch ein zentraler Beitrag zur globalen Fluchtursachenbekämpfung ist, seiner gewachsenen internationalen Verantwortung gerecht werden.

Prostituiertenschutz

Ein anderes Themenfeld, in dem wir aus christlicher Verantwortung unbequemer Mahner bleiben müssen, ist der Schutz von Prostituierten. In diesem Jahr wurde eine Reform des Prostituiertenschutzgesetzes beschlossen. Auch katholische Verbände hatten sich in diese Diskussion eingebracht, wohl wissend, dass es sich um einen Bereich handelt, in dem sie innerhalb und außerhalb der Kirche anecken. Die einen erwarten, dass wir uns für ein momentan kaum umsetzbares Komplettverbot der Prostitution einsetzen, die anderen scheinen sich zu wundern, warum wir Prostitution nicht als normalen Beruf akzeptieren. Es ist gut, dass wir als Teil der Kirche diesem unbequemen Thema nicht ausgewichen sind. Bei einer grundsätzlichen Ablehnung von Prostitution, die ein Angriff auf die Menschen-würde bleibt, haben wir uns zugleich für einen verbesserten Schutz von Prostituierten eingesetzt. Wir haben uns – in weiten Teilen erfolgreich – für restriktive Regelungen von Prostitutionsstätten sowie für die regelmäßige Anmeldung und Gesundheitsberatung von Prostituierten ausgesprochen.

Am 1. Juli 2017 wird das Prostituiertenschutzgesetz nun in Kraft treten. Die Umsetzung des Gesetzes ist nun Aufgabe der Länder. Ich fordere die Verantwortlichen auf, zügig für Struk-turen zu sorgen, die eine konsequente Anwendung des Gesetzes vor Ort ermöglichen. Und ich fordere alle ZdK-Mitglieder auf, sich für eine verantwortungsvolle Umsetzung stark zu machen. Das Gesetz muss in allen Ländern zügig und durchgängig Anwendung finden, um Prostituierte künftig besser zu schützen und ihren Ausstieg aus der Prostitution zu ermög-lichen.

Amoris laetitia

Unbequem bleiben wir nicht nur bei diesen sperrigen politischen Fragen, sondern auch in unserer Kirche: Mut zum Streit in der Sache als Weg zum Frieden brauchen nicht nur wir katholischen Laien, sondern er tut auch Bischöfen gut. Seit meinem letzten Bericht in Leipzig vor einem halben Jahr warten wir auf eine Kursanzeige, wie die deutschen Bischöfe mit dem päpstlichen Schreiben "Amoris laetitia" umgehen wollen. Mit besonderer Span-nung blicken wir darauf, ob es eine gemeinsame Bewertung der Aussagen zur Zulassung von geschiedenen und wiederverheirateten Gläubigen zu den Sakramenten geben wird.

Nun ist zu Beginn dieser Woche ein Brief bekannt geworden, in dem offenbar vier sehr alte und emeritierte Kardinäle dem Papst geschrieben habe, man sei verunsichert, und ihn auf-gefordert haben, er solle klar sagen, ob wiederverheiratete Geschiedene nun zur Kommu-nion gehen dürften oder nicht. Damit unterlaufen sie den Perspektivenwechsel des Heiligen Vaters auf den Vorrang der Barmherzigkeit. Das erinnert mich an die Verletzung der Kollegialität in der Frage der Schwangerschaftskonfliktberatung. Diese Art von unaufrichti-ger Kirchenpolitik finde ich schäbig und schlimm. Da werden Wunden nicht geheilt sondern geradezu lustvoll aufgerissen. Das schadet unserer Kirche und unserer Glaubwürdigkeit.

Es erinnert mich aber auch an etwas anderes. Wenn nämlich in der Vergangenheit ein Priester in seiner Gemeinde nach Abwägung aller Fakten, nach langen Gesprächen, nach Wegen der Vergebung und Versöhnung zu dem Schluss kam, im jeweiligen Einzelfall der Barmherzigkeit Gottes mit geschiedenen und wiederverheirateten Gläubigen zu vertrauen, dann gab es immer wieder vermeintlich besorgte Gemeindemitglieder, die sich per Brief an den Bischof wandten und diesen Priester anschwärzten. Das geht jetzt nach "Amoris laetitia" nicht mehr – so hoffe ich es jedenfalls.

Ich möchte unseren Bischöfen zurufen: Wenn es wirklich so ist, dass sie keine gemeinsame Stellungnahme zu "Amoris laetitia" erarbeiten werden, so sehe ich ein, dass es dafür einen Grund gibt. Denn die deutschen Bischöfe haben schon vor den Synoden, im Sommer 2014, im Ständigen Rat eine theologisch ebenso präzise wie plausible Stellungnahme beschlos-sen. Diese Stellungnahme wurde durch die Beratungen der Synode und durch "Amoris laetitia" eindrucksvoll bestätigt. Ich würde mich daher freuen, wenn es in allen Amtsblättern nur einen einzigen Satz zu lesen gäbe: "Ein Priester, der gemäß 'Amoris laetitia' nach reiflicher Abwägung gewissenhafte Einzelfallentscheidungen trifft, hat meine Rücken-deckung."

Bilanz

Ich komme zum Schluss. Am Ende meines ersten Amtsjahres blicke ich dankbar zurück. Der Jubliläums-Katholikentag war in Leipzig genau am richtigen Ort. Das habe ich, das haben sicher auch Sie gespürt. Eine schöne Bestätigung war die vor einigen Tagen veröffentlichte Bilanzierung, dass der Katholikentag der gastgebenden Stadt auch in finanzieller Hinsicht eindeutig genutzt hat. Das sage ich auch in Richtung meiner Heimat-stadt Münster.

In politischer Hinsicht war für mich in diesem Jahr der Text unseres Gesprächskreises Christen und Muslime "Keine Gewalt im Namen Gottes!" besonders prägend, ein starkes Zeichen, das uns dankbare Zustimmung, aber auch hasserfüllte Kritik gebracht hat. Wir werden an einer weiteren Popularisierung dieses wichtigen Textes arbeiten. Nicht gespro-chen habe ich von der internationalen Arbeit. Nur so viel: In Hauptausschuss und Präsidium haben wir begonnen, die Kontakte zu unseren polnischen Glaubensgeschwistern zu erneuern. Im kirchlichen Bereich wollen wir, das zeigt auch unsere Tagesordnung hier, weiter an einer stärker synodalen Gestalt unserer Kirche arbeiten. Vieles bleibt hier noch zu tun. Was schließlich das ZdK selbst angeht, so arbeiten wir weiter an zukunftsfähigen Strukturen; auch darüber wird morgen berichtet werden.

Ich danke Ihnen sehr für diese gemeinsame Wegstrecke. Und wenn wir dann noch die Entscheidung für den lange ersehnten 3. Ökumenischen Kirchentag 2021 in Frankfurt am Main treffen können, bin ich jedenfalls mit diesem ersten Jahr sehr zufrieden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Prof. Dr. Thomas Sternberg Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken

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