Das Gebot der Stunde im Sinne Gottes

Das Leben wählen

Stellungnahme zu Corona des Sachbereichs 1 "Theologie, Pastoral und Ökumene"

In der Corona-Krise ist die Theologie in der Öffentlichkeit stärker herausgefordert als in anderen Zeiten. Antworten auf Fragen werden erwartet, vor denen jeder Mensch in seinem Leben früher oder später steht: Wer bin ich? Wie wichtig ist mein Leben? Welche soziale Gestalt des Lebens suche ich? Was kommt nach meinem Tod? Was soll noch geschehen in irdischer Zeit?

Die christliche Theologie nimmt eine spezifische Position im Gespräch mit den Menschen ein, die das Leben zu verstehen versuchen: Sie erinnert an Jesus Christus, der seine Feinde liebte und Hoffnung begründete über den Tod hinaus. Die christliche Theologie beansprucht nicht, dieses Lebenszeugnis als wahr erweisen zu können. Als eine Wissenschaft denkt sie über die intellektuellen Voraussetzungen ihrer eigenen Annahmen nach und bringt sie in das kritische Gespräch mit allen in Zeitgenossenschaft ein. Ausgangsort des theologischen Nachdenkens ist heute der Mensch mit seinen Fragen an das Leben. Die gläubige Überzeugung dabei ist: Gott hat den Menschen als ein Wesen erschaffen, das das eigene Leben in vielerlei Hinsicht als ein Rätsel erfährt. In Freiheit kann und soll der Mensch sich auf die Suche nach einer Antwort auf die Fragen des Lebens begeben.

Die theologisch stärkste Herausforderung ist es gegenwärtig, das unerwartete Geschehen der Corona-Pandemie in eine gedankliche Verbindung mit dem Wirken Gottes in Zeit und Geschichte zu bringen. Aus der theologischen Tradition vertraute Fragen stellen sich mit Dringlichkeit: Gibt es einen Plan Gottes für das Geschick der Menschen? Gibt es eine Vorsehung Gottes? Könnte es gar sein, dass die Corona-Krise als eine Strafe Gottes für ein weit verbreitetes böses Verhalten von Menschen zu verstehen ist?


Vertrauen auf einen Gott, der das Leben aller bewahren
möchte

Die gegenwärtige wissenschaftlich verantwortete Theologie ist weit entfernt von solchen Annahmen. Zugleich nehmen Christinnen und Christen in selbstkritischer Wahrnehmung mit großem Schmerz zur Kenntnis, dass es Zeiten gab (und leider auch weiterhin gibt), in denen mit kirchlicher Autorität solche Thesen vertreten wurden und werden. Auch das heutige religiöse Bewusstsein ist nicht frei von solchen Versuchungen. Einfache Antworten scheinen ein Weg aus der Ratlosigkeit zu sein.

Die gegenwärtige Theologie verortet die Frage, wie Gottes Handeln in der Corona-Pandemie zu verstehen ist, im Kontext der Theodizee – Thematik: Ist es angesichts des Leidens so vieler Geschöpfe überhaupt berechtigt, auf die Existenz Gottes zu vertrauen? Angesichts der ungeheuerlichen Grausamkeiten in der Menschheitsgeschichte, an deren Verbreitung die Kirchen selbst beteiligt waren und sind, ist es in diesem Zusammenhang geboten, zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln von Menschen zu unterscheiden. Es darf nicht Gott angelastet werden, was Menschen selbst verschuldet haben – beispielsweise im Blick auf Vorsorgemaßnahmen bei der Bereitstellung von medizinisch notwendigen Geräten. Weltweit sind diesbezüglich die Bedingungen sehr unterschiedlich – auf Kosten der Armen in der Welt. Klagen sollten wir vor Gott – klagen vor allem über uns Menschen. Offene Fragen bleiben im Hinblick auf den Auslöser der Infektion. Aus christlicher Perspektive ist eines gewiss: Gott möchte das Leben und nicht den Tod seiner Geschöpfe; Gott möchte auch jene aus dem Tod erretten, die schuldig geworden sind. Nach christlicher Überzeugung straft Gott nicht, um Böses mit Bösem zu vergelten. Wir vertrauen auf einen Gott, der das Leben aller bewahren möchte.

Kann es sein, dass in der Reflexion über widerwärtige Geschehnisse auch heilsame Gedanken und Taten im menschlichen Bewusstsein an Bedeutung gewinnen? Viele von uns haben in diesen Tagen erlebt: Manche Gespräche am Telefon sind länger und nehmen unerwartet eine existentielle Wendung. Die Frage, was wir wirklich notwendig zum Leben bauchen, stellt sich neu. Stiller ist es in den Läden – man geht aufmerksamer miteinander um; das Leben „entschleunigt“ sich. Dabei sind einzelne Berufsgruppen – und davon nicht wenige im kirchlichen Raum – hoch privilegiert: Sie bewahren ihre Aufgaben und ihre finanziellen Bezüge im Home Office. Eine stärkere Solidarität mit anderen Berufsgruppen, die nicht diesen Vorzug haben, ist sehr zu wünschen. Neu in das Bewusstsein gekommen ist die Erkenntnis, wie differenziert die berufliche Wirklichkeit ist und in welchen Rahmenbedingungen Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen. Besonders Frauen sind im Home Office bei gleichzeitiger Begleitung von Kindern und Jugendlichen im Höchstmaß gefordert. Dies sollte bei der Gestaltung der Gesellschaft in der Zukunft nicht vergessen werden. Oft besprochen wird, dass die neuen Herausforderungen, eine digitale Kommunikation ohne Reisen zu planen, nicht nur ökologische Vorteile hat – auch die menschlichen Zeitressourcen werden geschont. Es bedarf auf Zukunft hin einer klugen Abwägung: Persönliche Begegnungen sind nicht nur in religiösen Kontexten unverzichtbar. Einzelne Absprachen können auch auf anderen Wegen getroffen werden.

Die Stunde aller Christinnen und Christen

Es gibt in diesen Tagen im theologischen Kontext vieles zu besprechen, was im engeren Sinn dem kirchlichen Leben zuzuordnen ist. Kontroverse Einschätzungen über die Wirklichkeit der Kirchen kommen dabei zu Tage: Sollte es so viele per livestream medial vermittelte Feiern der Eucharistie in Bischofskirchen geben – oder wäre nicht gerade jetzt die Stunde aller Christinnen und Christen, die als Getaufte mit ihren Familien in den Häusern auf das biblisch überlieferte Wort Gottes hören und seine Wirksamkeit im Gespräch miteinander bedenken? Verstärkt die Corona-Krise eine Form der priesterlichen Spiritualität, bei der die amtliche Leitung der Feier der Eucharistie im Mittelpunkt steht? Sollte nicht häufiger liturgische Feiern medial angeboten werden, denen auch Frauen vorstehen können – beispielweise die Verkündigung des Evangeliums in Wortgottesdiensten? Was bedeutet es auch für die Ökumenische Gemeinschaft, wenn der Bischof von Rom den Segen Gottes für die Stadt und die gesamte Welt (Urbi et Orbi) erbittet?
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Formen der Liturgie nicht zu stark im Blickpunkt der Kirchen in diesen Zeiten sind. Finden wir nicht viel zu wenige Worte der Mahnung, zwischen den armen und den reichen Ländern weltweit die Güter gerecht zu teilen? Wer erhebt (auch) in den Kirchen die Stimme, wenn Regierungen die günstige Gelegenheit nutzen, sich auf (scheinbar) legalen Wegen auf längere Zeit Vorteile zu verschaffen? Hat der sozial-diakonische Auftrag den Rang in der kirchlichen Verkündigung, der ihr vom Evangelium aus betrachtet zukommt? All diese kritischen Anfragen stellen sich. Sie bedürfen einer differenzierten Antwort, bei der die gute Absicht nicht völlig in Vergessenheit geraten sollte. Gibt es eine höhere Erwartung der Menschen gegenwärtig, die Kirchen – gleich welcher Konfession – könnten geistliche Stärkung, Lebensmut, Trost angesichts des Todes, Weisung zum Handeln, einen Aufruf zu Diensten an den Ärmsten der Armen und Sinn für Gemeinschaft vermitteln? Die Antworten auf diese Frage variieren. Eines scheint gewiss: Die Theologie gibt in diesen Zeiten den Menschen zu denken. Existenzielle Fragen verbinden sich mit ethischen Herausforderungen: Welcher Mensch wird mit gerettet, wenn die das Leben rettenden Geräte nicht für alle ausreichen? Die Theologien aller Zeiten haben aus den Krisen gelernt, in denen sie formuliert worden sind. Ökumenische Worte sind von den Kirchenleitungen in diesen Zeiten gesprochen worden. Es gab viele Aktivitäten in den Kirchengemeinden sehr rasch, spontan und mit hoher Kreativität insbesondere in der vorösterlichen und österlichen Zeit. Sie werden nachwirken. Sie haben das Bewusstsein für hilfreiche Formen der kooperativen Pastoral von Männern und Frauen gestärkt. Insbesondere junge Menschen haben viele Ideen entwickelt, wie sie ihrem Glauben tätig Ausdruck geben können. Das über lange Zeit schon eingeübte soziale Engagement vor allem in den Frauen- und Jugendverbänden hat sich vor Ort in der Krise konkret bewährt.

Ein Wort aus der gemeinsamen jüdisch-christlichen alttestamentlichen Literatur lautet: „Für das Leben ist jeder Kaufpreis zu hoch“ (Psalm 49,9). Wenn es um Leben und Tod geht, dürfen fiskalische Überlegungen, Kalkulationen und Prognosen niemals den Vorrang haben. Es gibt gewiss sehr berechtigte Sorgen im Blick auf die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes, von Europa und der gesamten Welt. Dennoch: Um die Bewahrung eines jeden menschlichen Lebens zu ringen, das ist das Gebot der Stunde im Sinne Gottes.

| Prof. Dr. Dorothea Sattler |
Professorin am Institut für Ökumene und Dogmatik der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster, Sprecherin des ZdK-Sachbereichs 1 „Theologie, Pastoral und Ökumene“

Corona-Stellungnahme “Das Leben wählen” als PDF

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