Einheit braucht Gerechtigkeit
ZdK-Thema des Monats Oktober 2025
„Am 3. Oktober jährt sich die Deutsche Einheit zum 35. Mal. Für viele Ostdeutsche, auch meiner Generation – geboren Anfang der 1980er Jahre – ist das nicht nur ein Feiertag, sondern ein Tag voller Ambivalenz“, sagt Franziska Schubert, Abgeordnete im Sächsischen Landtag und seit wenigen Wochen Mitglied des ZdK. Sie fragt sich: „Können wir diese wunderbare Kultur der Beteiligung, die den Beginn prägte, neu verankern? Gerade heute, wo das Vertrauen in Institutionen und Demokratie brüchig ist?“
Ich bin in Ostsachsen groß geworden, meine prägenden Jahre waren die 1990er: Betriebe verschwanden, Menschen verloren ihre Arbeit, Familien wurden auseinandergerissen. Identitäten gerieten ins Wanken. In diesem Bruch von Gewissheiten liegt Schmerz – und zugleich der Beginn von Neuem, von Chancen, von Freiheitsräumen.
Diese Ambivalenz prägt bis heute. Einheit heißt eben nicht, Unterschiede zu leugnen. Es geht darum, sie ernst zu nehmen. Der Blick auf die Wiedervereinigung bleibt oft einseitig: auf Wirtschaft, Märkte, Infrastruktur. Was aus meiner Sicht zu kurz kam, war die Erfahrung der Menschen, die Chance, es auch demokratisch zu ihrem Weg zu machen. Strukturen wie die Runden Tische, geprägt vom Neuen Forum und anderen Bürgerrechtsbewegungen, hätten eine Kultur der Beteiligung dauerhaft verankern können. Doch das wurde nicht gewollt. Eine große Chance ging dadurch verloren, Demokratie nicht nur von oben zu organisieren, sondern von unten zu leben. Gerade heute, wo Vertrauen in Institutionen und Demokratie brüchig ist, spüren wir diesen Mangel.
Das Neue Forum stand 1989 für Mut, für die Entschlossenheit, Freiheit und Demokratie einzufordern – und dafür persönliche Risiken auf sich zu nehmen. Dass aus diesem Geist das Bündnis 90 hervorging, prägt unser Verständnis von Demokratie bis heute: Sie wächst aus Engagement, aus Streit, aus Verantwortung, aus dem Mitmachen. Dass diese Beteiligungskultur nach 1990 zu wenig fortgeführt wurde, ist ein Versäumnis, das bis heute nachwirkt.
Auch deshalb ist der Begriff „Wende“ problematisch. „Wende“ klingt nach einer von oben verordneten Kurskorrektur. Tatsächlich aber war es eine Revolution von unten – getragen von Bürgerinnen und Bürgern, die das Schweigen brachen und den Unrechtsstaat überwanden. Mit dem Begriff „Wende“ wird diese Eigenleistung unsichtbar. Deshalb sprechen wir von der Friedlichen Revolution – einem historischen Moment, der uns Demokratie und Freiheit geschenkt hat. Diesen Mut darf man nicht kleinreden durch eine Rhetorik, die so tut, als wäre ein weiterer Bruch nötig.
Die Einheit ist bis heute nicht vollständig eingelöst. Unterschiede zwischen Ost und West bestehen fort – bei Einkommen, Vermögen, Renten, Entscheidungspositionen. Ganze Regionen schrumpfen, Menschen fehlen. Und noch immer ist Teilhabe oft ungleich verteilt. Wenn wir über Einheit reden, geht es deshalb um Gerechtigkeit: gleiche Löhne und faire Renten, Chancen auf Aufstieg, starke ländliche Räume, Transparenz und Mitbestimmung. Und es geht um das positive Besprechen von Identitäten – jenseits von Folklore oder trotziger Abgrenzung.
Die Erfahrung von Brüchen und Aufbrüchen ist für Ostdeutsche prägend – und kann eine Stärke sein. „Bruch-Kompetenz“ nenne ich das: die Fähigkeit, in Krisen Chancen zu erkennen. Sie wäre heute wertvoll, auch für Europa, das in vielen Krisen steckt. Sie stärker abzurufen, ist notwendig.
Der Bürgerrechtler Werner Schulz hat es einmal so formuliert: „Die Einheit existiert, die vielbesagte Mauer in den Köpfen ist oft nur das Brett davor. Anstatt ständig unsere Einheit zu suchen und zu beschwören, sollten wir lieber unsere Freiheit in Vielfalt feiern. Und damit verbunden nicht nur das unendliche Gefühl von Glück und Dankbarkeit mitnehmen, sondern auch den Auftrag: Die Revolution geht weiter. Denn noch immer ist ihr Ruf ‚Wir sind das Volk‘ – der Anspruch nach direkter Demokratie und Mitbestimmung – nicht erfüllt.“
Auch für uns als Christen als Teil dieser Gesellschaft, bleibt daraus eine doppelte Aufgabe: die Erinnerung an den demokratischen Aufbruch lebendig zu halten – und zugleich den Blick nach vorn zu richten. Freiheit und Einheit müssen täglich erneuert werden, in Deutschland wie in Europa. Und das gelingt nur, wenn wir Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Grundlage für ein gemeinsames Morgen begreifen.
Franziska Schubert, geboren 1982 in Löbau, sitzt seit 2014 für Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag, seit 2020 ist sie Fraktionsvorsitzende. Im Mai 2024 wurde sie als eine von 45 Einzelpersönlichkeiten in die Vollversammlung des ZdK gewählt.
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