„Es lohnt sich, Geschichte zu studieren, um zu wissen, was wir für die Zukunft verhindern müssen.“

Gedanken von Janusz Reiter anlässlich des 30. Jahrestages der Erklärung "Für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in Europa" - es gilt das gesprochene Wort

Uns war, als wir den Brief verfassten, die Besonderheit der Zeit bewusst. Wir waren hoffnungsvoll, ohne aber zu wissen, wie die Entwicklung weitergehen würde. Anders als das heute erscheinen mag, war damals noch nichts entschieden. Weder der Erfolg der polnischen friedlichen Revolution, noch die Zukunft der polnisch-deutschen Beziehungen. Diese Unsicherheit kann man in dem Text auch heute erkennen. Mehr als das spürt man aber die Kraft der Hoffnung, die uns alle damals leitete. Im Grunde genommen sind die Grundlinien der späteren Entwicklung in dem Dokument gezeichnet, ohne dass die strukturellen Formen genannt werden konnten. Der Glaube an eine friedliche demokratische Entwicklung Polens kommt in dem Text deutlich zum Ausdruck. Diese Hoffnung war, wie wir wissen, begründet.

Auch die Perspektive der polnisch-deutschen Beziehungen ist in dem Brief gezeichnet. Wir konnten weder den Zeitpunkt noch die politischen Formen vorhersehen, aber im Grunde genommen, hat die spätere Entwicklung auch hier unsere Erwartungen bestätigt. Eins konnten wir nicht ahnen; und zwar, wie schnell die Entwicklung verlaufen würde. Als ein Zeichen des gegenseitigen Vertrauens hat der Brief damals seine Rolle erfüllt. Darum ging es gerade, den Menschen Zuversicht zu vermitteln, dass die stürmische Entwicklung beiden Völkern eine bessere Perspektive eröffnete, wenn sie es nur schafften, gemeinsam auf das Ziel hinzuarbeiten. Es gibt Dokumente, die nach 30 Jahren ziemlich antiquiert erscheinen. Das ist hier nicht der Fall. Darauf können wir auch heute stolz sein.

Auch wenn die Bilanz der letzten 30 Jahre durchaus befriedigend ist, ganz frei von Spannungen und Missverständnissen war diese Zeit nicht. Mehr noch: Wir waren vor 30 Jahren zuversichtlich, dass wir alle in Europa ein gemeinsames Ziel hatten und einen Bestand an gemeinsamen Überzeugungen, die unerschütterlich sind. Heute herrscht weitgehend das Gefühl, dass der „Zeitgeist“ in eine andere Richtung wandert. Der Optimismus von 1989/1990 fehlt. Es gibt keinen Grund diesem neuen Pessimismus zu erliegen. So wie damals nichts vorbestimmt war, so ist auch heute nichts für die Zukunft entschieden.

Eins gilt heute wie damals: Polen und Deutsche tragen eine besondere Verantwortung für die Zukunft Europas. Wir haben auch besonders viel zu verlieren, wenn das große europäische Projekt, an das wir vor 30 Jahren mit so viel Hoffnung dachten, scheitern würde.

Ich kann meine Hoffnung minimalistisch ausdrücken: Ich hoffe, wir werden eine gegenseitige Entfremdung nicht zulassen. Ich kann sie aber auch positiv formulieren: Ich hoffe, dass wir trotz aller Unterschiede zwischen den beiden Ländern nicht nur eng zusammenarbeiten, sondern zu einer Erneuerung der europäischen Union beitragen. Europa muss mehr Selbstbewusstsein entwickeln, wenn es von den anderen Mächten ernst genommen werden will. Und schließlich, dürfen wir nicht vergessen: Nichts ist für ewig gegeben, Rückschläge sind möglich. Es lohnt sich, gerade in dieser Zeit, Geschichte zu studieren, um zu wissen, was wir für die Zukunft verhindern müssen.

Wir waren, und damit meine ich insbesondere die polnischen Unterzeichner, bei dem Verfassen dieses Dokumentes sehr aufgeregt. Wir wussten, es würde in beiden Ländern Beachtung finden. Und trotzdem war der Geist dieser Gespräche anders als in amtlichen Verhandlungen. Nein, wir haben nicht verhandelt, wir haben das Beste gesucht, und uns dabei viel Mühe gegeben, zu verstehen, was das Beste für unsere Partner wäre, so wie sie sich die nicht geringere Mühe gaben, unsere Erwartungen und unsere Befürchtungen zu verstehen. Ich persönlich konnte gar nicht ahnen, dass ich in nicht ferner Zukunft an deutsch-polnischen Dokumenten als offizieller Vertreter Polens mitarbeiten würde. Und auch wenn alles sehr professionell ablief, etwas von diesem Geist des gegenseitigen Vertrauens konnten wir auch für die späteren Jahre retten. Heute brauchen wir das nicht weniger als damals.

 

Janusz Reiter, Botschafter Polens in Deutschland von 1990 bis 1995
langjähriger Ansprechpartner des ZdK für die deutsch-polnische Versöhnung

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